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Ungleichheit heute (3)
Deutschland wird ungleicher
Was sagt die Lohnverteilung?

„Wenn nur oft genug gesagt wird, dass Arme immer ärmer und Reiche immer reicher werden, glauben die Menschen irgendwann, dass sie in einer ungerechten Gesellschaft leben.“ (Klaus Schroeder)

Nach fast 40 Jahren steht die „Neue Soziale Frage“ wieder ganz weit vorn auf der politischen Agenda. Es stimmt, die reiche Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten distributiv nachhaltig verändert. Einkommen und Vermögen werden in den OECD-Länder fast überall ungleicher verteilt. Das mediale und politische Rauschen wird lauter: Die unteren Einkommensschichten verarmten immer mehr, die oberen 1 % lebten in Saus und Braus. Aus objektiver Ungleichheit wird schnell normative Ungerechtigkeit. Allerdings ist das Thema politisch erst interessant, wenn die wählerwirksame Mittelschicht verteilungspolitisch ins Trudeln gerät. Das scheint nun auch in Deutschland der Fall zu sein. Jedenfalls äußert die Mittelschicht in Umfragen regelmäßig ihre Angst, wirtschaftlich abzustürzen.

Steigende Ungleichheit

Bei der Verteilung der Einkommen ist weltweit nichts mehr wie es einmal war. International nähern sich die Einkommen an. Die ärmeren Länder holen auf, die Welt wird gleicher. Dieser weltweit konvergente Prozess ist national nicht zu beobachten. Die Einkommen entwickeln sich auseinander, die Nationen werden ungleicher. Eine wichtige Größe ist die Verteilung der Löhne. Vorreiter wachsender interner Ungleichheit waren die USA. Dort spreizten sich die Löhne schon Mitte der 80er Jahre auf. Mit einer zeitlichen Verzögerung von über einem Jahrzehnt folgten viele andere hochentwickelten Länder. Strukturelle Veränderungen der Arbeitnehmer, technischer Fortschritt und Institutionen auf dem Arbeitsmarkt sind die üblichen Hauptverdächtigen.

Technischer Fortschritt und Globalisierung sind wichtige Treiber der Ungleichheit. Eine spezifische Art von technischem Fortschritt – „skill biased“ – erhöht die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit. Gleichzeitig bindet die Globalisierung weniger entwickelte Länder stärker in die internationale Arbeitsteilung ein. In reichen Ländern sinkt die Nachfrage nach einfacher Arbeit. Dort werden Reiche reicher und Arme ärmer. Diese Entwicklung ist allerdings nicht überall so eingetreten. In einigen Ländern stieg die Nachfrage nach qualifizierter und wenig qualifizierter Arbeit, während die Nachfrage nach „mittleren“ Qualifikationen zurückging. Die spannende Frage bleibt: Ist die Mittelschicht der Verlierer dieses polarisierenden Verteilungsspiels?

Lohnverteilung in Deutschland

Eine wichtige verteilungspolitische Größe ist das bedarfsgewichtete Äquivalenzeinkommen privater Haushalte nach Steuern und Transfers. Noch immer ist aber das Lohneinkommen die wichtigste Einkommensart der Mehrheit der Bevölkerung. Kapital- und Gewinneinkommen folgen mit großem Abstand. Wie hoch das Arbeitseinkommen ausfällt, hängt in starkem Maße von der Lohnhöhe ab. Ändern sich die Löhne, ändert sich auch das Arbeitseinkommen. Es liegt deshalb nahe, in einem ersten Schritt die Verteilung der Löhne unter die Lupe zu nehmen. Tatsächlich ist von der alten Stabilität der beruflichen Lohnstruktur in den reichen Ländern wenig geblieben. Die Löhne sind über die Lohnperzentile hinweg unterschiedlich stark gestiegen.

Einen Anhaltspunkt über die Lohnverteilung geben sogenannte Dezilverhältnisse, wie etwa das 9/1, 9/5 und 5/1-Dezil. Sie sind die Differenz des 9., 5. und 1. Dezils der logarithmierten Stundenlöhne. Das 9/1-Verhältnis für das wiedervereinigte Deutschland steigt seit Mitte der 90er Jahre stetig an. Seit dieser Zeit wachsen die Bruttolöhne der oberen 10 % der Lohnskala stärker als die Löhne der unteren 10 %. Wegen der längeren Zeitreihen ist allerdings die Entwicklung in den alten Bundesländern aussagekräftiger. Dort ging das 9/1-Dezilverhältnis zunächst seit 1984 zurück. Die Einkommen der unteren 10% wuchsen stärker als die der oberen 10 %. Erst ab Mitte der 90er Jahre drehte sich die Entwicklung. Die Lohnverteilung wurde ungleicher.

Dezilverhältnisse [1]
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Diese zwei zeitlichen Welten – vor und nach 1995 – zeigen sich auch für die beiden anderen Dezilverhältnisse 9/5 und 5/1. Ab Mitte der 90er Jahre kommt es zur distributiven Zeitenwende. Bis dahin wuchsen die Löhne der oberen 10 % der Lohnskala mehr oder weniger im Gleichschritt mit den Löhnen der „Mittelklasse“. Erst danach zogen die Löhne am oberen Ende davon, in den alten und neuen Bundesländern. Das alles gilt auch für das 5/1-Dezilverhältnis. In der Zeit zwischen 1984 und 1995 wuchsen die westdeutschen Löhne in der „Mitte“ weniger stark als unten. Das Bild änderte sich wiederum erst ab Mitte der 90er Jahre. Nun stiegen die Löhne der „Mitte“ stärker als die Löhne der unteren 10 %. Interessant ist allerdings auch, dass der Anstieg in der unteren Hälfte der Lohnskala stärker ausfällt als in der oberen.

Wachstum der Lohnperzentile

Die Dezilverhältnisse geben einen ersten groben Eindruck über die deutsche Lohnverteilung im Zeitverlauf. Spannender ist, wie sich die Löhne in den Perzentilen entwickelt haben. Aus Datenmangel werden nur die alten Bundesländer unter die Lupe genommen. Eine Trendwende zur Mitte der 90er Jahre tritt auch bei den Lohnperzentilen auf. Bis dahin wuchsen die Löhne über alle Perzentile hinweg mit der mehr oder weniger gleichen Rate von etwa 2 % für Männer und Frauen. Das änderte sich ab Mitte der 90er Jahre. Die Löhne wuchsen im Durchschnitt nur mit einer roten Null. Sie stiegen mit den Perzentilen. In der oberen Hälfte der Lohnskala erhöhten sich die Löhne, in der „Mitte“ stagnierten sie und in der unteren Hälfte gingen sie zurück.

Wachstum der Lohnperzentile [2]
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Das zeitliche Muster der Lohnverteilung bleibt erhalten, wenn zwischen Männer und Frauen unterschieden wird. Es gibt eine Zeit vor und eine nach Mitte der 90er Jahre. In der ersten Phase zwischen 1984 und 1995 wuchsen die Löhne beider Geschlechter über die Perzentile hinweg ganz ähnlich. In der „guten alten“ Zeit blieb die Lohnstruktur relativ stabil. Allerdings hatten die Frauen leichte Vorteile. Ihre Löhne wuchsen im Durchschnitt mit etwas über 2,5 %. Die Wachstumsrate der Männerlöhne lag nur bei etwa 1,8 %. Am stärksten wuchsen in dieser Zeit die Frauenlöhne zwischen dem 10. Und 25. Perzentil und in der „Mitte“. Am unteren Ende der Lohnverteilung war das Wachstum der Frauenlöhne unter- das der Männerlöhne überdurchschnittlich.

Ab Mitte der 90er Jahre änderte sich (fast) alles. Zum einen wuchsen Männer- und Frauenlöhne im Durchschnitt nicht mehr. Es herrschte lohnpolitische Stagnation. Zum anderen ging der frühere Gleichlauf der Löhne über die Perzentile hinweg verloren. Die Wachstumsraten waren für beide Geschlechter in der unteren Hälfte der Lohnskala durchweg negativ. Für die Männer war die Lage allerdings noch schlechter als für die Frauen. Die Löhne wuchsen für beide erst wieder in der oberen Hälfte der Lohnskala, dort allerdings für die Frauen stärker. Alles in allem: Die ungleiche Lohnverteilung der Männer hatte ihre Ursache in der stärkeren Streuung in der unteren Hälfte der Lohnskala, die der Frauen in der größeren Dispersion in der oberen Hälfte.

Polarisierung in Deutschland?

Die Entwicklung der Lohnverteilung gibt keine Anhaltspunkte, dass die Mittelschicht ins Trudeln gerät. Von einer Polarisierung der Löhne ist (noch) nichts zu sehen. Die Kurve der Lohnzuwächse hat nicht die für die Polarisierung typische U-Form, die in anderen reichen Ländern beobachtbar ist. Die Löhne wachsen mit den Perzentilen. Unten ist die Wachstumsrate seit Mitte der 90er Jahre negativ, oben positiv. Hält diese Entwicklung an, wird die Lohnverteilung in Deutschland künftig ungleicher. Allerdings gibt es – bisher – keine Anhaltspunkte, dass die Mittelschicht verliert, während die anderen – oben und unten – von der Entwicklung profitieren. Damit sind die Ergebnisse hierzulande andere als etwa in der Schweiz [3], wo die Löhne oben und unten stärker steigen als in der „Mitte“.

Ein Grund für die Entwicklung in Deutschland könnte die spezifische Sektorstruktur sein. Bei Polarisierung steigt die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit wegen höherer Anforderungen spezifischer Technologien. Der befürchtete Rückgang der Nachfrage nach einfacher Arbeit kommt aber nicht zustande, weil verstärkt personennahe Dienstleistungen gebraucht werden. Vielleicht trägt die starke Konzentration auf den Industriesektor und die „Servicewüste Deutschland“ dazu bei, dass der zweite Effekt (noch) nicht zum Tragen kam. Der unvermeidliche Strukturwandel gekoppelt mit der eintretenden Alterung könnte dies ändern. Dann würde die industrielle „Mittelschicht“ verteilungspolitisch doch noch in Schwierigkeiten geraten.

Fazit

In Deutschland wird die Verteilung der Löhne seit Mitte der 90er Jahre ungleicher. Die Löhne wachsen mit den Perzentilen in der Lohnskala: Unten weniger, oben mehr. Gewinner sind die Frauen, Verlierer die Männer. Noch zeigt die „Mitte“ keine distributiven Auffälligkeiten. Es deutet nichts darauf hin, dass die Mittelschicht [4] hierzulande besonders strapaziert wird. Deutschland ist (noch) anders als viele ähnlich hoch entwickelte Länder. Das kann sich allerdings ändern, wenn sektoraler Wandel und demographische Entwicklung zuschlagen. Die beste Antwort auf diese Herausforderungen ist eine intakte soziale Mobilität [5]. Es spricht allerdings vieles dafür, dass gerade auf diesem Felde in Deutschland einiges im Argen liegt.

Literatur:

ZENZEN, J. (2013): Lohnverteilung in Deutschland 1984 – 2008 – Entwicklungen und Ursachen. Hamburg: Kovac, 2013.

 

Beiträge der Serie “Ungleichheit heute“:

Norbert Berthold: Krieg der Modelle. Technologie oder Institutionen? [6]

Michael Grömling: Einkommensverteilung – Vorsicht vor der Konjunktur! [7]

Norbert Berthold: Die deutsche “Mitte“ ist stabil. Wie lange noch? [4]

Eric Thode: Die Mittelschicht schrumpft – Wo liegt der Handlungsbedarf? [8]

Norbert Berthold: Geringe Stundenlöhne, kurze Arbeitszeiten. Treiben Frauen die Ungleichheit? [9]

Norbert Berthold: Deutschland wird ungleicher. Was sagt die Lohnverteilung? [10]

Simon Hurst: Der Staat strapaziert die Schweizer Mittelschicht [3]

Norbert Berthold: Einkommensungleichheit in OECD-Ländern. Wo stehen wir? [11]