Ungleichheit heute (17)
Kombilöhne vs. Working Poor
Der Kampf gegen Armut und Arbeitslosigkeit

„Ein Almosen ist nie gleichgültig: Wenn es nicht nützt, so schadet es. Eine wirkliche Kur der Krankheit „Armut“ ist ohne genaue Untersuchung des Patienten nicht möglich.“

Wilhelm Roscher (1817-1894)

Lohnsubventionen und Kombilöhne bzw. „Make-Work-Pay“ – Strategien gehören seit Jahren zum arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium der industriellen Länder. Hinter diesen Maßnahmen stehen zwei einfache Überlegungen. Erstens möchte die Politik durch die gesonderte Subventionierung von Arbeitsverhältnissen am unteren Ende der Lohnverteilung Anreize für Arbeitslose setzen, auch Beschäftigungen mit geringerem Lohn anzunehmen. Zweitens soll die staatliche Aufstockung von geringem Einkommen den Lebensstandard der Geförderten erhöhen und das Armutsrisiko senken. Auf den Punkt gebracht heißt dies: Arbeit schaffen, Armut vermeiden.

In der gesetzlichen Realität zeigen die entwickelten Länder verschiedene Umsetzungen des wirtschaftstheoretischen Lohnsubventionsmodells. Insbesondere bei der Gewichtung der beiden Ziele gibt es je nach Land unterschiedliche Herangehensweisen. Ein interessanter Vergleich ergibt sich, wenn man die Politiken der USA und Deutschland gegenüberstellt.

Der Earned Income Tax Credit

Der Earned Income Tax Credit (EITC) wurde 1975 als flächendeckendes Kombilohnmodell in den USA eingeführt. In seinem Grundkonzept hat sich der EITC bis heute nicht geändert. Einkommen von erwerbstätigen Haushalten aus dem Niedrigeinkommensbereich werden mittels staatlicher Subventionen aufgestockt. Die Höhe der Aufstockung orientiert sich am anrechenbaren Haushaltseinkommen, dem Familienstand und der Kinderzahl. Der EITC wird als Steuergutschrift abgewickelt und häufig an die Anspruchsberechtigten (fast) voll ausgezahlt, da im unteren Bereich der Einkommensverteilung wenig bis gar keine Steuern fällig werden. Es handelt sich somit dem Grundprinzip nach um eine negative Einkommensteuer.

Für bedürftige Haushalte, in denen keine Person erwerbstätig ist, existierte in den USA bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem Assistance for Families with Dependent Children (AFDC) ein einziges Sozialhilfeprogramm. Unter der Ägide Bill Clintons wurde 1996 der AFDC in das Temporary Assistance for Needy Families (TANF) – Programm umbenannt und grundlegend reformiert. Seitdem sind die Leistungen der Sozialhilfe zeitlich begrenzt und an die Erfüllung mehrerer Bedingungen geknüpft:

  • Anspruchsberechtigte müssen aktiv nach einer Beschäftigung suchen
  • Leistungsempfänger müssen einer gemeinnützigen bzw. sonstig verordneten Tätigkeit nachgehen (Workfare-Jobs)
  • Regelverstoße führen zu Sanktionen für den gesamten Haushalt
  • Bezug der Sozialhilfe ist über die gesamte Lebenszeit hinweg auf fünf Jahre begrenzt
  • Sozialhilfe wird maximal über zwei Jahre ohne Unterbrechung gewährt

In den Jahren 1986, 1990 und 1994-1996 wurde seitens der US-Regierung die maximale Höhe des EITC ausgeweitet und zusätzlich ein kleinerer Kombilohn für Haushalte ohne Kinder eingeführt. Die Kombination aus der letzten Ausweitungswelle und einer begrenzten Sozialhilfe ab 1995 führte schließlich dazu, dass die Anzahl an EITC-Haushalten sehr stark anstieg und die Anzahl an TANF-Haushalten deutlich einbrach (siehe Abb. 1).

EITC und TANF-Haushalte
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Das Arbeitslosengeld II

In Deutschland bildeten die Hartz-Reformen zwischen 2003 und 2005 eine Zäsur in der deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Insbesondere das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) restrukturierte das bis dahin geltende dreigliedrige System der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit, bestehend aus dem Arbeitslosengeld, der Arbeitslosenhilfe und der Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe).

Die Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft und stattdessen das neue Arbeitslosengeld II eingeführt. Dieses gilt seitdem für alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und orientiert sich am soziokulturellen Existenzminimum. Für die Sozialhilfe kommt seitdem lediglich der kleinere Personenkreis aus nicht-erwerbsfähigen Haushalten in Frage. Mit der Umsetzung der Hartz IV-Reform wurde das neue ALG II als flächendeckender Kombilohn in Deutschland eingeführt. Die anspruchsberechtigten Leistungsempfänger dürfen seitdem neben dem ALG II-Bezug einer Erwerbstätigkeit in einem gewissen Umfang nachgehen. Man spricht hierbei von den sogenannten „Aufstockern“. Die generierten Arbeitseinkommen erfahren jedoch relativ hohe Grenzbelastungen, die nach den ersten 100 Euro zwischen 80% und 90% liegen. Mit Hilfe der hieraus ermittelten effektiven Transferentzugsraten erhält man Werte, die immer noch zwischen 60% und 85% rangieren.

Empirische Evaluation:
Vermeidung von Working Poor

Für den amerikanischen EITC gibt es eine Fülle an empirischen Forschungen. Dies mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass der EITC bereits 1975 eingeführt wurde und seitdem mehrere Evaluationswellen erlebte. In Deutschland existiert das ALG II in seiner heutigen Form erst seit 2005. Man kann somit lediglich auf eine Erfahrung von maximal zehn Jahren zurückgreifen.

EITC in den USA

Die offizielle Armutsquote in den USA pendelt seit 1980 zwischen 11% und 15%. Folglich befindet sich knapp ein Achtel der US-Amerikaner unterhalb der Armutsgrenze. Hierbei ist zu beachten, dass die USA in ihren offiziellen Statistiken von der gebräuchlichen Definition der OECD abweichen. Dort gilt eine Person als „arm“, wenn ihr verfügbares Einkommen unterhalb des dreifachen Mindestkonsums an Grundnahrungsmitteln liegt.

Nach Liebman (1998) befanden sich 1996 80% der EITC-Anspruchsberechtigten hinsichtlich ihres Einkommens im Bereich zwischen der Armutsgrenze und des 1,5-fachen der Armutsgrenze. Ein außerordentlich großer Teil an Transferempfänger war somit faktisch nicht von Armut betroffen. Weiterhin hält der Autor fest, dass insbesondere Haushalte in den unteren beiden Quantilen der Einkommensverteilung vom EITC profitieren. Diese konnten ihren Anteil am Gesamteinkommen um jeweils 0,15 %-Punkte erhöhen. Stärker fällt dieser positive Vermögenseffekt aus, wenn man die Einkommensverteilung auf Haushalte mit mindestens einem Kind begrenzt. Dort liegen die Werte zwischen 0,2 und 0,4 %-Punkten.

Außerdem konnte der EITC in den letzten drei Jahrzehnten auch die offizielle Armutsquote in den USA stetig senken. Hierbei stieg sein Beitrag, bedingt durch die Reformen aus den Jahren 1986, 1990 und 1994-1996, immer stärker an (siehe Abb. 2). Ab 1997 blieb der Beitrag des EITC zur Senkung der Armut in den USA relativ konstant und pendelte sich im Jahr 2011 auf einen Wert von knapp 12,5% ein.

Effekt des EITC auf die Armut
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Der Kombilohn EITC scheint demnach die Armutsquote in den USA nachhaltig senken und die unteren Quantile der Einkommensverteilung stärken zu können. Insgesamt lässt sich dem EITC attestieren, dass er als Instrument zur Bekämpfung der Armut und des Working Poor wirksam ist. Trotz allem muss festgehalten werden, dass Haushalte mit Kindern und Paar-Haushalte, in denen lediglich ein Partner erwerbstätig ist, stärker von der EITC-Förderung profitieren. Das Ziel der Familienunterstützung wird in diesem Sinne erreicht. Es bleibt zu überlegen, inwieweit der EITC in Zukunft der steigenden Anzahl an Single-Haushalten gerecht wird.

ALG II in Deutschland

Auch in Deutschland zeigt sich in den letzten Jahren eine schleichend zunehmende Armut. So stieg die Armutsquote zwischen 1998 und 2010 von 10,4% auf 13,9%. Hierbei ist zu beachten, dass in Deutschland im Vergleich zur USA die Armutsquote und die Armutsgrenze mit Hilfe der OECD-Skala ermittelt werden. Beim Vergleich der durchschnittlich gewährten Gesamtbedarfe bzw. Leistungen aus dem ALG II für fünf verschiedene Haushaltstypen mit der jeweiligen Armutsgrenze der Haushalte in 2010 lässt sich unweigerlich erkennen, dass alle arbeitslosen ALG II-Haushalte per definitionem unterhalb der Armutsgrenze lagen (Tab. 1).

ALG II und Armutsgrenze
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Hierzu sind jedoch weitere Anmerkungen notwendig. Erstens handelt es sich bei der Armutsgrenze um ein relatives Armutsmaß, da es von der Entwicklung aller Einkommen innerhalb eines Landes abhängt. Zweitens beschreibt die OECD-Skala eine Äquivalenzgewichtung, die nicht als ehernes Gesetz gewertet werden darf und im politischen Prozess regelmäßig Revisionen erfährt. Drittens garantiert das ALG II als Element der Grundsicherung das soziale Existenzminimum eines Haushalts bzw. einer Bedarfsgemeinschaft. Es orientiert sich somit faktisch nicht an einem relativen Armutsmaß, sondern wird jährlich im politischen Prozess neu angepasst. Das primäre Ziel des ALG II liegt somit nicht darin, die relative Armut, sondern die „absolute Armut“ der Anspruchsberechtigten zu vermeiden. Wohlbemerkt bleibt weiterhin die Frage offen, wie das ALG II in seiner Aufgabe als Kombilohn die Erwerbsarmut von erwerbstätigen Leistungsbeziehern beeinflussen kann.

Haisken-DeNew/Schmidt (2009) betrachten hierzu die Haushaltsdaten des SOEP zwischen 1996 und 2006. Zwar kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Existenz eines Vollzeitbeschäftigten im Haushalt die Armutswahrscheinlichkeit um 30 %-Punkte im Vergleich zu einem nicht-erwerbstätigen Haushalt senkt. Jedoch war dieser Beschäftigungseffekt auf die Armutswahrscheinlichkeit im Zeitraum vor und nach der Hartz IV-Reform nicht signifikant verschieden. Auch hinsichtlich der Armutsintensität, d.h dem Abstand eines Haushalts von der Armutsgrenze, schätzen die Autoren, dass eine Vollzeittätigkeit diese um 1266 bis 1466 Euro im Vergleich zur Arbeitslosigkeit senkt. Dennoch divergiert auch hier die Höhe des Effekts vor und nach der Hartz IV-Reform nicht. Demnach konstatiert der Beitrag für die Hartz IV-Reform keinen signifikanten Einfluss sowohl auf die Armutswahrscheinlichkeit als auch auf die Armutsintensität.

Clauss/Schnabel (2008) untersuchen in ihrem Beitrag die Auswirkungen der Hartz IV-Reform auf die jeweiligen Betroffenen. Sie betrachten hierfür eine sogenannte „Reformgruppe“. Diese besteht aus Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfebezieher sowie Personen, die aufgrund der Hartz IV-Reform zum ersten Mal Anspruch auf Grundsicherungsleistungen hatten. Mit Hilfe des Simulationsmodells STSM ermitteln die Autoren, dass sich der GINI-Koeffizient für die Reformgruppe von 0,18 auf 0,14 verringerte. Das ALG II bewirkte demnach eine Angleichung der Einkommen für Bedürftige in der Grundsicherung.

Bei Betrachtung der einzelnen Einkommensperzentile der Reformgruppe kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die ersten acht Perzentile von der Hartz IV-Reform profitierten. Ihr Pro-Kopf-Einkommen lag nach der Reform höher als vor der Reform. Die letzten beiden Perzentile mussten jedoch beträchtliche Einkommenseinbußen hinnehmen. In diesem Bereich befanden sich hauptsächlich ehemalige Arbeitslosenhilfe-Bezieher, deren Leistungsbezug zuvor an das letzte Arbeitseinkommen gekoppelt war.

Während sich der Beitrag von Clauss/Schnabel (2008) mit den Gewinnern und Verlierern der Hartz IV-Reform beschäftigt, bleibt weiterhin die Frage offen, ob das heutige ALG II zumindest eine Aufwärtsmobilität in dem Sinne ermöglicht, dass Aufstocker den Leistungsbezug hin zu einer existenzsichernden Beschäftigung verlassen können. Hierzu untersuchen Bruckmeier et al. (2013) die Determinanten eines solchen Aufstiegs anhand des IAB-Panels PASS. Ihre Analyse ergibt, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Alleinerziehenden-Haushalt um 8%-Punkte geringer ist als für einen Single-Haushalt. Die Aufnahme eines Minijobs als Aufstocker hemmt die Aufwärtsmobilität sogar um 4 bis 19 %-Punkte. Die wichtige Rolle der Haushaltszusammensetzung für den Erfolg bzw. Misserfolg erkennt man auch daran, dass sich die Wahrscheinlichkeit, in den ausschließlichen Leistungsbezug zurückzufallen, mit einem zusätzlichen Kind um 16%-Punkte erhöht.

Insgesamt lässt sich somit der Hartz IV-Reform ein mangelnder Einfluss auf die Senkung der Armutsquote bzw. Armutsintensität attestieren. Aufstocker verbleiben lange im ALG II-Bezug und nehmen größtenteils Beschäftigungen im Mini- und Midijob-Bereich auf. Minijobs senken wiederum die Wahrscheinlichkeit, den ALG II-Bezug in Richtung einer existenzsichernden Beschäftigung zu verlassen. Der Verbleib im Kombilohn auf geringem Niveau erhärtet sich und das Armutsrisiko bleibt bestehen.

Empirische Evaluation:
Stärkung der Arbeitsmarktpartizipation

Der EITC in den USA

Als Kombilohn verfolgt der EITC neben der Armutsbekämpfung zudem das Ziel Geringqualifizierten einen Anreiz zur Re-Integration in den Arbeitsmarkt zu setzen. Da der EITC insbesondere hohe Transferleistungen an Alleinerziehende-Haushalte tätigt, kommen bspw. Meyer/Rosenbaum (2000, 2001) zu dem Ergebnis, dass die Ausweitung des EITC zwischen 1984 und 1996 für 50% der Partizipationssteigerungen unter Single-Müttern verantwortlich war.

Arbeitsmarktpartizipation von Frauen
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Abb. 3 verdeutlicht, dass vor allem Mütter ihre Arbeitsmarktpartizipation seit den 1980er Jahren kontinuierlich erhöhen konnten. Insbesondere für alleinerziehende Frauen weist die Beschäftigungsquote zwischen 1992 und 2001 einen Anstieg von 72% auf 87% auf.

Da der EITC in der Ausstiegsphase sukzessive abgeschmolzen wird, ist davon auszugehen, dass gerade in diesem Bereich die Erwerbstätigen ihre Arbeitszeiten reduzieren, um höhere Transferzahlungen zu erhalten. Schließlich überkompensiert in diesem Bereich der Einkommenseffekt den Substitutionseffekt. Ellwood (2010) kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass auch in dieser Phase bei den meisten EITC-Empfängern kein Rückgang der Arbeitszeit zu beobachten ist. Eine Ausnahme bilden hierbei die verheirateten Zweitverdiener.

Insgesamt zeigen die empirischen Evaluationen des EITC somit ein positives Bild. Auf der individuellen Ebene steigert er die Wahrscheinlichkeit einer Arbeitsmarktpartizipation von arbeitslosen Geringqualifizierten und Frauen. Auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene kann eine Stärkung der Beschäftigungsquoten der anspruchsberechtigten Zielgruppen beobachtet werden.

Das ALG II in Deutschland

Neben dem ALG II als Kombilohn erfolgt in Deutschland eine zweite Subventionierung von geringen Arbeitseinkommen über eine volle bzw. anteilige Steuer- und Abgabenfreiheit der Mini- und Midijobs. Letztere wurden mit der Hartz II-Reform in 2003 eingeführt. Die neuen Beschäftigungsformen sollten insbesondere für ALG II-Bezieher eine Brücke aus der Arbeitslosigkeit in die Erwerbstätigkeit schlagen. Zwar stieg die Anzahl der Minijobber an, der Brückeneffekt blieb jedoch aus. Caliendo/Wrohlich (2006) halten fest, dass die Hartz II-Reform keinen signifikanten Einfluss auf die Beschäftigungschancen der Minijobber hatte. Die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme einer ausschließlich geringfügigen Beschäftigung (Minijob im Haupterwerb) war sowohl vor als auch nach der Reform nicht signifikant verschieden.

Minijobber
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Abb. 4 verdeutlicht, dass der Anstieg an Minijobs hauptsächlich auf die Nebenbeschäftigten zurückzuführen ist. Folglich waren die voll sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer, welche nebenher einem Minijob nachgingen, die eigentlichen Profiteure der Reform.

Mit der Reform wurde unter anderem auch die Hoffnung verknüpft, dass Mini- und Midijobs den Beschäftigten als Sprungbrett in ein reguläres Arbeitsverhältnis dienen. Caliendo/Künn/Uhlendorff (2009) kommen jedoch zum Ergebnis, dass ein Minijob neben dem ALG II-Bezug den Wechsel zu einer voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung um 10% hemmt. Betrachtet man lediglich die erfolgreichen Aufsteiger, so halten die Autoren fest, dass die Wahrscheinlichkeit des Verlusts einer regulären Beschäftigung nicht verringert werden kann, indem man zuvor als Aufstocker einem Minijob nachging. Demzufolge bildet die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung kein bzw. kein stabiles Sprungbrett in eine reguläre Beschäftigung.

Es bleibt die Frage, inwieweit die Hartz IV-Reform und mit ihr das ALG II als Kombilohn auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene einen Einfluss auf den Arbeitsmarkt hatte. Hierzu bieten Klinger/Rothe (2012) einen Beitrag, indem sie den Effekt der Reformen auf die Anzahl der Abgänge aus der Arbeitslosigkeit untersuchen. In der Summe konstatieren sie den Hartz-Reformen zwar eine positive Wirkung auf die Abgänge aus der Arbeitslosigkeit, können aber für die Hartz IV-Reform keinen signifikanten Einfluss nachweisen. Lediglich die ersten beiden Hartz-Reformen zeigen in den Schätzungen der Autoren einen stark positiven Effekt auf die Kurzzeit- und Langzeitarbeitslosigkeit.

Zu einem anderen Resultat gelangen hingegen Krause/Uhlig (2012), die mit Hilfe der Kalibrierung eines Such- und Matchingmodells die Arbeitslosenquote vor und nach der Hartz IV-Reform ermitteln. Indem sie die Arbeitnehmer nach Bildungsgrad differenzieren, errechnen sie eine Senkung der Arbeitslosenquote um 2,8%-Punkte innerhalb der ersten drei Jahre nach Einführung des ALG II. Im Gegensatz zu Krause/Uhlig (2012) errechnen Krebs/Scheffel (2011) lediglich eine Reduzierung der Arbeitslosenquote um 1,1%-Punkte. Launov/Wälde (2010) und Franz et al. (2012) ermitteln sogar Beschäftigungsneutralität für die Hartz IV-Reform.

Per se lässt sich somit der Hartz IV-Reform weder ein positiver noch ein negativer Einfluss bescheinigen, wenn auch die Tendenz der empirischen Forschungsergebnisse der letzten Jahre in Richtung Beschäftigungsneutralität zeigt. Betrachtet man die Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes seit der Hartz IV-Reform, fällt zweifelslos dessen positive Entwicklung auf. Trotz allem muss festgehalten werden, dass der Rückgang an Langzeitarbeitslosen im Vergleich zu den Kurzzeitarbeitslosen geringer ausgefallen ist. Während sich die Zahl der ALG I-Bezieher seit 2005 halbierte, weisen die ALG II-Bezieher lediglich einen Rückgang von 10% auf.

Zwar stieg die Erwerbstätigkeit innerhalb des ALG II-Leistungsbezug zwischen 2007 und 2012 leicht an, aber ein Großteil der abhängig-beschäftigten Aufstocker, nämlich 54%, nahm lediglich einen Erwerbsumfang in Höhe eines Minijobs wahr. Gerade diese Beschäftigungsformen hemmen jedoch eine (langfristige) Re-Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt.

Fazit

Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, dass der US-Amerikanische EITC fast durchgängig positive Ergebnisse aufzeigt. Sowohl hinsichtlich der Vermeidung von Armut als auch bei der Stärkung der Arbeitsmarktpartizipation zeigte er in den letzten Jahrzehnten ein positives Bild. Besonders Haushalte mit Kindern und hierunter insbesondere alleinerziehende Frauen konnten durch den EITC ihre Erwerbsbeteiligung ausweiten und ihr Armutsrisiko drastisch senken. Im Gegensatz dazu schneidet das deutsche ALG II im Bereich der Armutsbekämpfung und Arbeitsmarktintegration relativ schlecht ab. Zwar sorgte die Hartz IV-Reform vor allem für eine Besserstellung von ehemaligen Sozialhilfeempfängern und Haushalten mit vielen Kindern, hatte aber keinen Einfluss auf die Armutsquote und Armutsintensität. Weiterhin gibt es erhärtende Hinweise darauf, dass das ALG II als Kombilohn nicht die gewünschten Arbeitseffekte auslöst und auch die Neuregelung der geringen Arbeitseinkommen mittels Mini- und Midijobs die Partizipationswahrscheinlichkeit nicht verbessert.

Das US-amerikanische Modell bestärkt Geringqualifizierte durch das Nebeneinander einer begrenzten Sozialhilfe, Arbeitsverpflichtung und EITC zu einer intensiveren Arbeitssuche und der Aufnahme einer Beschäftigung mit geringerem Marktlohn. Die Alternative, in Sozialhilfe zu verbleiben und zugleich einer verpflichtenden gemeinnützigen Arbeitstätigkeit nachgehen zu müssen, wirkt im Vergleich zum EITC somit als weniger attraktiv. In der Summe steigt die Beschäftigungsquote der Geringqualifizierten und ihr Armutsrisiko geht zurück.

Eine vollständige Übertragung des US-amerikanischen Modells auf Deutschland scheint jedoch nicht in Frage zu kommen. Bereits die Verpflichtung zur Arbeit während des ALG II-Bezugs würde auf starken politischen Widerstand stoßen, sowie auch die Begrenzung des ALG II auf fünf Jahre über die Lebenszeit hinweg. Dennoch zeigen die Erfahrungen des EITC, dass ein zielgruppenorientierter Kombilohn positive Effekte mit sich bringen kann. Für das ALG II in Deutschland bedeutet dies faktisch eine stärkere Orientierung an den Arbeitsmarktchancen und -hemmnissen der Geringqualifizierten. Durch eine Senkung der Transferentzugsraten und eine Abschaffung der Minijobs im Nebenerwerb könnte bereits ein erster Schritt in die richtige Richtung erfolgen.

Literatur

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