Wirtschaftliche Freiheit in Deutschland:
Versuch einer historischen Erklärung
(Teil 2: Das amerikanische Erbe)

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die wirtschaftliche Freiheit in Deutschland eine neue Chance. Die amerikanische Militärregierung versuchte, Deutschland diesmal auf die Schiene zum wirtschaftlichen Erfolg zu setzen, ihm eine freiheitliche Wirtschaftsordnung zu geben. Das galt nicht – jedenfalls nicht in gleichem Umfang – für die anderen Besatzungsmächte: die Sowjetunion beutete Ostdeutschland nach Kräften aus, Frankreich eröffnete eine groß angelegte Demontagekampagne und die englische Labour-Regierung führte in der britischen Zone die Montanmitbestimmung ein. Die Amerikaner dagegen wollten verhindern, dass sich Versailles wiederholen würde. Westdeutschland sollte ein Bollwerk gegen den Sowjetkommunismus werden. Sichtbarster Ausdruck dieser Hilfsbereitschaft war der Marshall-Plan.

Die amerikanische Militärregierung suchte deutsche Ökonomen, die ihre freiheitlichen Vorstellungen in die Praxis umsetzen sollten. Mit Ludwig Erhard fanden sie jemanden, der noch stärker an die Marktwirtschaft glaubte als die deutschen Statthalter Präsident Trumans. Das zeigte sich, als Erhard 1948 nicht nur die D-Mark einführte, sondern gleich auch noch eigenmächtig die Preise freigab.

Das wirtschaftspolitische Erbe, das Deutschland in dieser Zeit von den Amerikanern empfing, bestand im wesentlichen aus fünf Teilen:

  1. Dekartellierung,
  2. Deregulierung,
  3. Reprivatisierung
  4. Dezentralisierung und
  5. eine unabhängige Zentralbank.

Was ist aus diesem Erbe geworden?

Manches lehnten die deutschen Politiker von Anfang an ab – zum Beispiel eine weitgehende Dezentralisierung. Der Parlamentarische Rat und allen voran Konrad Adenauer versuchten, die Dezentralisierungswünsche der Amerikaner so weit wie möglich abzuwehren. Denn die führenden deutschen Politiker wussten, dass jede Form des Wettbewerbsföderalismus später ihre Macht auf Bundesebene beschränken würde. Die Verfassungsgarantie des Föderalismus (Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes) musste den deutschen Politikern von den Amerikanern aufgezwungen werden.

Andere Teile des amerikanischen Erbes versuchten die Deutschen nicht von vornherein auszuschlagen, aber so bald wie möglich wieder los zu werden. Dazu gehörte die Dezentralisierung der öffentlichen Finanzen. Das Grundgesetz von 1949 sah in der Besteuerung ein Trennsystem vor. Der Bund erhielt die meisten Verbrauchsteuern und die Umsatzsteuer, dazu die Zölle und die Einnahmen der Finanzmonopole (Art. 106 Abs. 1 GG a.F.). Den Ländern wurde die Einkommen- und Körperschaftsteuer zugeordnet (Art. 106 Abs. 2 GG a.F.). Diese Trennung der Steuerquellen nach Gebietskörperschaften war ebenfalls auf Druck der Amerikaner zustande gekommen. An die Stelle des Trennsystems setzten die Deutschen schon früh ein Verbundsystem, das den Besteuerungswettbewerb im Bereich der Einkommen- und Körperschaftsteuer ausschaltete. Der Wettbewerb zwischen den Ländern wurde durch ein Besteuerungskartell ersetzt. Die Einnahmen flossen zunächst alle in einen großen Topf; dann wurde die Beute unter Bund und Ländern verteilt. Außerdem fügte man dem horizontalen Finanzausgleich zwischen den Ländern einen vertikalen – unter Beteiligung des Bundes – hinzu und garantierte jedem Land eine Mindestfinanzausstattung. Auch im Bereich der Staatsausgaben wurden die Zuständigkeiten des Bundes ausgedehnt und Gemeinschaftsaufgaben des Bundes und der Länder definiert. Mischfinanzierungen breiteten sich aus. Die Föderalismusreform von 2006 hat einiges wieder rückgängig gemacht, aber der Wettbewerb zwischen den Ländern – ein Garant wirtschaftlicher Freiheit – ist immer noch ein Schatten dessen, was er 1949 war und vom amerikanischen Wettbewerbsföderalismus weit entfernt.

Auch die Unabhängigkeit der Notenbank wurde schon in den fünfziger Jahren eingeschränkt. Die treibende Kraft war Konrad Adenauer – vor allem nachdem er aufgrund mehrerer verlorener Landtagswahlen seine politische Mehrheit im Zentralbankrat verloren hatte. In seiner „Gürzenich-Rede“ (1956) übte er scharfe Kritik an der Zentralbank, und er setzte durch, dass die Bank deutscher Länder 1957 aufgelöst wurde und die Deutsche Bundesbank an ihre Stelle trat. Die Bundesregierung hatte nun das Recht, die Mitglieder des stimmberechtigten Direktoriums zu bestimmen – bis zu acht an der Zahl. Das war zwar nicht die Mehrheit des Zentralbankrats, aber solange die Union in mindestens zwei der elf Bundesländer das Sagen haben würde, war Adenauers Mehrheit im Zentralbankrat gesichert.

1999 verlor die Bundesbank ihre geldpolitische Autonomie an die Europäische Zentralbank. Die erfolgreichste Zentralbank der Welt wurde unter europäisches Kuratel gestellt. An die Stelle eines europäischen Wettbewerbs um Preisstabilität trat die Herrschaft des europäischen Inflationsmedians.

Dagegen wurde die Dekartellierungspolitik der Amerikaner von den Deutschen zunächst weitergeführt und institutionell verankert. Gegen den Widerstand des BDI unter Fritz Berg und wohl auch Adenauers konnte Erhard schließlich 1957 das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen durchsetzen. Kartelle wurden grundsätzlich verboten (§ 1). Mögliche Ausnahmen wurden explizit definiert. Alle Kartelle waren anzumelden. Die Ausführung des Gesetzes wurde einem unabhängigen Kartellamt übertragen.

Dieses System fiel im Mai 2004 der Reform der europäischen Wettbewerbspolitik zum Opfer. Danach sind Kartelle nicht mehr grundsätzlich verboten. Sie brauchen auch nicht mehr gemeldet zu werden. Es gibt nur noch einen Erlaubnisvorbehalt (Legalausnahme). Jedoch ist die europäische Wettbewerbspolitik ein großer Gewinn in denjenigen Bereichen, die – wie der öffentliche Sektor – dem Zugriff der deutschen Kartellämter weitestgehend entzogen sind.

Die Privatisierung war für Ludwig Erhard ein wichtiges Anliegen. Der bekannteste Fall war die (Teil-)Privatisierung des Volkswagenwerks. „Volksaktien“ wurden ausgegeben, um die Popularität des Projekts zu steigern. Spätere deutsche Regierungen bewegten auf diesem Gebiet nicht viel. Mit den Privatisierungserlösen, die Deutschland in den neunziger Jahren zu verzeichnen hatte, lag es unter allen OECD-Ländern weit abgeschlagen auf dem letzten Platz.

Was schließlich die Deregulierung angeht, ist zwischen den Produktmärkten und dem Arbeitsmarkt zu unterscheiden. Im Güter- und Dienstleistungsbereich wurden die Preise weiter dereguliert und der Marktzutritt liberalisiert – in den neunziger Jahren sogar in den Netzindustrien. Zu nennen ist vor allem die Deregulierung der Preise in der Binnenschifffahrt (1993), im Güterfernverkehr (1994) und im Luftverkehr (1997) sowie die Beseitigung von Marktzutrittsbeschränkungen bei der Post (1989), der Eisenbahn (1994), in der Telekommunikation (1998), im Flugverkehr (1998) und in der Stromversorgung (1998). Das Vorbild waren wiederum die USA. Dort haben die Präsidenten Carter und Reagan eine Deregulierungsoffensive eingeleitet. Insofern empfing Deutschland zu dieser Zeit ein weiteres amerikanisches Erbe.

Auf dem deutschen Arbeitsmarkt hat es dagegen eine anhaltende Deregulierungstendenz nicht gegeben, obwohl seit über dreißig Jahren Massenarbeitslosigkeit herrscht. Die Regulierungsintensität nahm schon in den fünfziger Jahren zu. So wurden die Arbeitgeber zunehmend zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (1957, 1961, 1970) und während des Mutterschutzurlaubs (1968) gezwungen. In den siebziger Jahren führte die sozialliberale Koalition die Sozialplanpflicht bei Massenentlassungen (1972) und die paritätische Mitbestimmung außerhalb der Montanindustrie (1976) ein. Immer wieder erweiterte der Gesetzgeber die Macht der Betriebsräte (z.B. 1952, 1972, 2001) und schränkte so die unternehmerische Freiheit – auch und gerade am Arbeitsmarkt – ein. Weitere Belastungen ergaben sich aus dem Recht auf Teilzeitarbeit (2001), dem dreijährigen Erziehungs- oder Elternurlaub (1986). Liberalisierungsmaßnahmen waren am Arbeitsmarkt sehr selten. Als dauerhaft erwies sich nur die (Wieder-)Zulassung befristeter Arbeitsverträge (1984) und der gewerblichen Arbeitsvermittlung (1994). Die Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Erhöhung der Beschäftigungsschwelle im Kündigungsschutzgesetz, die beide 1996 beschlossen worden waren, wurden schon 1998 wieder rückgängig gemacht.

Außerdem wird der deutsche Arbeitsmarkt von einem immer dichteren Netz europäischer Regulierungen stranguliert. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) und vor allem seit dem Vertrag von Maastricht (1993) können die Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit europaweite Arbeitsmarktregulierungen einführen. Seit dieser Zeit hat der Rat mindestens 55 derartige Richtlinien verabschiedet. Die bekanntesten sind die Arbeitszeit-Richtlinie, gegen die die britische Regierung 1993 vergeblich vor dem Europäischen Gerichtshof klagte, die Betriebsräte-Richtlinie von 1994 und die Teilzeit-Richtlinie von 1997. 2008 wird die seit vielen Jahren umkämpfte Leiharbeitsrichtlinie hinzukommen, da die bisherige Sperrminorität mit dem Regierungswechsel in Polen zusammengebrochen ist.

Blickt man auf die letzten sechzig Jahre deutscher Geschichte zurück, so wird deutlich, dass das freiheitliche Erbe, das Westdeutschland nach dem Krieg von den Amerikanern empfangen hat, zu einem großen Teil verloren gegangen ist. Eine wichtige Rolle spielte dabei die politische Zentralisierung Europas. Wo der politische Wettbewerb beschränkt wird, nimmt die Macht des Staates zu, und die Regulierung nimmt überhand. Dahinter stand nicht nur die katastrophale Erfahrung des letzten Krieges, sondern auch das Jahrhunderte alte Verlangen der Deutschen nach dem großen Kollektiv (vgl. Teil I). Die Amerikaner nennen das „reverting to type“.

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