„Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft diesen Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status …“ (Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, 1966)
Schottland und Katalonien sind die Spitze des Eisbergs. Weltweit wollen immer mehr Regionen politisch selbständiger werden. Mehr föderale Eigenständigkeit reicht ihnen oft nicht. Sie streben nach einem eigenen Staat. Dieser Trend der letzten Jahrzehnte ist nach wie vor intakt. Die Zahl der Staaten hat sich seit Anfang der 50er Jahre bis heute von etwas mehr als 100 auf knapp 200 Staaten fast verdoppelt. Quebec war Anfang der 80er Jahre ein Vorreiter, durchaus vergleichbar mit der heutigen Entwicklung in Schottland. Erst mehr föderale Zugeständnisse sorgten in einem Referendum auf des Messers Schneide im Jahre 1995 für den Verbleib von Quebec in Kanada. Den größten Schub an neuen Staaten brachte allerdings der Fall des Eisernen Vorhangs zu Beginn der 90er Jahre. Mit dem Zerfall der Sowjetunion entstanden in Osteuropa viele neue Staaten. Spektakulär war aber nur der Fall der Tschechoslowakei im Jahre 1993. Beide Staaten trennten sich Knall auf Fall. Die gemeinsame Währung war kein Hindernis, die prognostizierten politischen und wirtschaftlichen Dramen blieben aus. Viele befürchten und andere hoffen, dass eine neue Welle regionaler Staatsgründungen anrollt. Nach politischer Selbständigkeit strebende Regionen wollen oft mehr als nur etwas Autonomie. Ihr Ziel ist ein eigener Staat.
Globalisierung treibt Autonomie
Der Trend zu mehr staatlicher Unabhängigkeit ist ungebrochen. Er hat viele Ursachen, politische und ökonomische. Der Kampf gegen politische Unterdrückung von Regionen, der Widerstand gegen lange anhaltenden Kolonialismus, die Korrektur willkürlicher Grenzziehungen durch die Politik oft nach Kriegen, aber auch sprachliche, ethnische und religiöse Heterogenität sind nur einige nicht-ökonomische Gründe. Alle diese Faktoren können dazu führen, dass Regionen eigenständige Staaten werden wollen, sie müssen es aber nicht. Die Sowjetunion war ein negatives Beispiel für politische Unterdrückung ganzer Regionen, die Schweiz ist ein positives, Belgien ein negatives Beispiel für sprachliche Verschiedenheit, Jugoslawien war ein negatives Beispiel für eine willkürliche Grenzziehung durch die Weltpolitik. Aber auch die Phase der militärischen Entspannung seit den 90er Jahren hat den Wunsch von kleineren Regionen nach einer eigenen Staatlichkeit beschleunigt. Auch kleinere Staaten fühlten sich nun militärisch weniger bedroht. Sie suchten nicht mehr militärisch Schutz in einem größeren Staat. Oder sie begaben sich, wie kleinere, westlich orientierte osteuropäischen Staaten unter den Schutzschild der NATO.
Daneben existieren aber auch ökonomische Treiber, die Regionen veranlassen, ihre (wirtschafts-)politischen Entscheidungen stärker in die eigenen Hände zu nehmen. Ein Grund ist die Größe des Absatzmarktes und die Mobilität von Arbeit und Kapital. Haben Unternehmen die Möglichkeit, ihre Produkte weltweit abzusetzen, können sie „economies of scale“ nutzen. Sie profitieren auch davon, dass sie weltweit investieren und Arbeitskräfte anheuern können. Sind nationale Absatz- und Beschaffungsmärkte dagegen eingezäunt, geht es Unternehmen in großen Staaten besser als in kleinen. Barrierefreie interne Güter- und Faktormärkten sind ein Anreiz für Unternehmen, auf eine politische Integration zu drängen. Größere Staaten sind ihnen lieber als kleinere. Dieses Argument hat mit der weltweiten Öffnung der Güter- und Faktormärkte an Gewicht verloren. Politische Entscheidungen und technologische Entwicklungen haben den Zaun internationaler Hemmnisse durchlöchert. Die Politik hat über die WTO und regionale Integrationsräume diese integrative Entwicklung begünstigt. Und der technische Fortschritt verringerte die Kosten internationaler Transaktionen und brachte die Globalisierung erst auf Trab.
Die Globalisierung hat die wirtschaftliche Bedeutung der Größe eines Staates stark geschrumpft. Auch Unternehmen kleiner Staaten können nun die Effizienzvorteile großer weltweiter Güter- und Faktormärkte nutzen. Mit der Globalisierung wurde der wirtschaftlich forcierte Trend zur „Eingemeindung“ von Staaten gebrochen. Fast überall sind zentralistisch organisierte Staaten auf dem Rückzug. Mit einer Ausnahme: Die Europäische Union ist immer noch auf dem Trip der politischen Integration hin zum Zentralstaat. Kleine Staaten sind in einer Welt der Globalisierung ökonomisch kaum noch benachteiligt. Und sie nutzen diese neuen ökonomischen Vorteile, wie ihr höherer Grad an wirtschaftlicher Offenheit zeigt. Weltweit offenere Märkte waren aber für viele Regionen auch der Startschuss, ihre eigenen heterogenen Präferenzen stärker zu betonen. Sie unterscheiden sich (wirtschafts-)politisch, ökonomisch, sozial und kulturell oft beträchtlich voneinander. Die Regionen fordern auf diesen Gebieten mehr regionale Autonomie. Wo sie diese nicht bekommen, drängen sie auf staatliche Eigenständigkeit; die einen, wie etwa die Basken, lange mit Gewalt, die anderen, wie die Katalanen und Schotten, von Anfang an gewaltlos. Wieder andere, wie etwa Südtirol, wechselten im Laufe der Zeit ihre Strategie.
Nicht nur weltweit offenere Güter- und Faktormärkte verstärken den Wunsch von Regionen, sich vom Zentralstaat abzuspalten. Auch ein inter-regionaler verteilungspolitischer Sprengsatz bedroht die staatliche Einheit. Unbestritten ist, Globalisierung hilft, dass der Wohlstand der Nationen konvergiert. Weltweit offenere Märkte tragen aber auch mit dazu bei, dass die regionalen Unterschiede in den Staaten divergieren. Damit wächst die Gefahr regionaler wirtschaftlicher Spannungen. Das ist der Fall, wenn inter-regionale finanzielle Transfers für gleichwertigere Lebensverhältnisse sorgen sollen. In Spanien, Italien und Belgien ist das der Fall. Es gilt aber auch für Deutschland. Persistente regionale Unterschiede in den Markteinkommen führen zu einem ständigen Transfer von reicheren in ärmere Regionen. Kein Wunder, dass sich in den Geberregionen über kurz oder lang Unmut breit macht. Ständige inter-regionale Transfers in eine Richtung sind Brandbeschleuniger staatlicher Abspaltungen. So ist der politische Aufstieg der sezessionistischen Lega Nord in Italien auch der „Cassa per il Mezzogiorno“ geschuldet. Der gegenwärtige Wunsch der Katalanen, sich von Spanien zu trennen, beruht mit auf den anhaltenden inter-regionalen Transfers aus Katalonien in andere spanische Regionen. Das gilt auch für die reicheren Flamen in Belgien, die nicht mehr die Melkkuh der ärmeren Wallonen sein wollen. Selbst in Deutschland nimmt der Unmut der inzwischen nur noch drei Geberländer im Länderfinanzausgleich zu. Noch ist der bayerische Wunsch nach Abspaltung allerdings gering. Das könnte sich aber ändern.
Föderalismus oder Separatismus?
Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen: Wirtschaftliche Integration und politische Desintegration gehen oft Hand in Hand. Regionen fordern immer öfter mehr politische Eigenständigkeit. Einige begnügen sich mit mehr Autonomie, andere beharren allerdings auf einem eigenen Staat. Mehr regionale Autonomie ist grundsätzlich ohne große ökonomische und politische Brüche möglich. Die Technik ist ein wettbewerblicher Föderalismus. Leitlinie sollte das Prinzip der Subsidiarität sein. Der Zielkonflikt bei der Frage, auf welcher staatlichen Ebene agiert werden soll, spielt zwischen Heterogenität der Präferenzen und ökonomischen Skalenerträgen. So einfach ist es beim Wunsch der Regionen nach einem eigenen Staat allerdings nicht. Die treibende ökonomische Kraft ist die Globalisierung. Erst weltweit offene Güter- und Faktormärkte machen staatliche Kleinheit attraktiv. Das ist aber nur möglich, wenn ein adäquater Ordnungsrahmen weltweit existiert. Er muss private Eigentumsrechte, individuelle Vertragsfreiheit und freien Marktzugang garantieren. Diese Garantien können weltweit nur von den großen Staaten in der WTO oder regional in Integrationsräumen wie der EU gegeben werden. Mehr staatliche Kleinheit gedeiht nur bei einem solchen weltweiten Ordnungsrahmen. Die eher kleinen Regionen, die einen eigenen Staat wünschen, können ihn selbst nicht schaffen.
Die Globalisierung stärkt den Wunsch der Regionen nach mehr Autonomie und nach einem eigenen Staat. Weltweit offenere Güter- und Faktormärkte intensivieren den internationalen Standortwettbewerb. Dieser Wettbewerb ist nur auf den ersten Blick ein wirtschaftlicher Wettstreit zwischen Staaten. Tatsächlich findet er vor allem zwischen Regionen weltweit statt. Dabei konkurrieren die inter-regional weniger mobilen Produktionsfaktoren um die mobileren (Herbert Giersch). Der Wohlstand in den Regionen hängt davon ab, wie erfolgreich sie in diesem Wettbewerb sind. Kein Wunder, dass sie darauf aus sind, möglichst viele der wirtschafts- und sozialpolitischen Parameter selbst in die Hand zu bekommen. Damit versuchen sie ihren Standort attraktiver zu machen. Die Globalisierung hat diese Entwicklung beschleunigt. In wirtschaftlich erfolgreichen Staaten, wie der Schweiz oder den USA, ist dezentrale Wirtschaftspolitik seit langem gang und gäbe. Die schweizerischen Kantone und amerikanischen Bundesstaaten haben mehr ökonomische und politische Autonomie. Sie haften aber auch für die Folgen ihres Tuns. Wettbewerblicher Föderalismus dominiert. Das ist in Deutschland (noch) anders. Hierzulande hat ein verstaubter kooperativer Föderalismus das Sagen. Die wirtschaftliche und politische Eigenständigkeit ist nicht sehr ausgeprägt.
Der ökonomisch getriebene Prozess der politischen Desintegration endet meist nicht in einem eigenen Staat. Das ist oft ein Sieg der Vernunft. Dem Wunsch nach mehr politischer Eigenständigkeit der Regionen kommt der Zentralstaat nach, indem er den „aufmüpfigen“ Regionen mehr Autonomie auf ökonomischem, sozialem und kulturellem Gebiet zugesteht. Die Regionen bleiben so allerdings im Staatsverbund. Das beste Beispiel von gestern ist Quebec, das von heute ist Schottland. In den Ländern, in denen die Regionen politisch autonomer agieren können, wird der Drang nach einem eigenen Staat gebremst. Der alternative Weg, den offensichtlich Spanien mit Katalonien gehen will, ist höchst unklug. Wer ein Referendum in Zeiten der Globalisierung mit heterogenen Präferenzen der Regionen verweigert, verschließt die Augen vor der ökonomischen und politischen Realität. Damit ist das Problem aber nicht ausgestanden. Es ist nur vertagt und bleibt auf der politischen Tagesordnung. Die ökonomischen Faktoren des inter-regionalen Standortwettbewerbs erodieren den Zentralstaat weiter. Schon Eugen von Böhm-Bawerk, der berühmte österreichische Nationalökonom, wusste, dass die politische Macht gegen das ökonomische Gesetz letztlich keine Chance hat. Hält die Globalisierung an, werden Regionen auch mehr Autonomie erhalten.
In Deutschland ist der Wunsch der Regionen nach einem eigenen Staat nicht besonders ausgeprägt. Das gilt selbst in Zeiten von wirtschaftlichen Krisen, in denen der Regionalismus blüht. Allenfalls in Bayern wird hin und wieder darüber philosophiert, den Weg eines eigenen Staates zu gehen. Der alte CSU-Kämpe Wilfried Scharnagl hat vor zwei Jahren ein Buch „Bayern kann es auch allein“ geschrieben. Darin fordert er, dass sich der Freistaat von der Bundesrepublik und der Europäischen Union löst. Damit würde man endlich der „doppelten Transferunion“ entkommen, dem Länderfinanzausgleich in Deutschland und den ständigen Transfers in die klammen Staaten der EU. Es ist wahr, die ständigen Transfers aus Bayern nach Deutschland und Europa sind ein Ärgernis. Eine Reform des anreizschädlichen deutschen Länderfinanzausgleichs und der ineffizienten europäischen Regional- und Strukturpolitik ist dringend erforderlich. Das gilt auch für die sündhafte teure Euro-Rettungspolitik der Staaten und der EZB. Darum geht es Scharnagl wohl auch. Eines gilt allerdings für alle kleinen Nationalstaaten: Sie fahren ordnungspolitisch Trittbrett. Überleben können sie nur, wenn große Nationalstaaten weltweit für offene Güter- und Faktormärkte sorgen. Dafür braucht es aber keine Politische Union in Europa mit einer einheitlichen Währung. Eine weltweite Freihandelszone genügt.
Fazit
Das Referendum in Schottland ist gescheitert, das in Katalonien wird blockiert. Damit ist der Flächenbrand separatistischer Bewegungen nicht gestoppt. Er schwelt auch in Belgien, Nordirland, Südtirol und anderswo in Europa weiter. Es gibt viele gute ökonomische und politische Gründe für diese regionale Bewegung weg vom Zentralstaat. Unter den ökonomischen Faktoren ist die Globalisierung der wichtigste Treiber. Weltweit offenere Güter- und Faktormärkten eröffnen Regionen die Chance, ihre heterogenen Präferenzen zu verwirklichen. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass separatistische Bewegungen die Spitze genommen wird, wenn der Zentralstaat den Regionen mehr (wirtschafts-)politische Autonomie einräumt. Es spricht einiges dafür, dass die Welle des Separatismus den Scheitelpunkt erreicht hat. Die Globalisierung hat ihren Höhepunkt überschritten, Protektionismus wird wieder hoffähig. Weltweit mehr wirtschaftliche, politische, militärische und terroristische Unsicherheit verringern die Anreize in den Regionen, sich staatlich auf eigene Beine zu stellen. Dennoch ist die Zeit zentraler Superstaaten wohl vorbei. Die regionalen Präferenzen der Bürger bleiben vielfältig. Ein wettbewerblicher Föderalismus ist das Gebot der Stunde. Dagegen fällt die zentralistische Politik der EU-Kommission aus der Zeit.
- Pakt für Industrie
Korporatismus oder Angebotspolitik? - 27. Oktober 2024 - De-Industrialisierung nimmt Fahrt auf
Geschäftsmodelle, De-Globalisierung und ruinöse Politik - 12. September 2024 - Ordnungspolitischer Unfug (13)
So was kommt von sowas
Unternehmer, Lobbyisten und Subventionen - 17. August 2024
Toller Artikel, vielen Dank dafür!
Ich denke nicht, dass das Thema mit Schottland nun zwingend vom Tisch ist. Die Abspaltung eines anderen Staates oder Bundeslandes von seinem Mutterland wird irgendwann, mitten in unseren Reihen, kommen.
Dann dürften auch andere Regionen wieder ernsthafter über Autonomie und einen eigenen Staat nachdenken und sich diesem Beispiel anschließen. Bayern ist da eigentlich ein schönes Beispiel für einen Freistaat, der diesen Schritt auch ökonomisch bewältigen könnte.
Seit gestern kauft Super-Mario Draghi nun Schrottpapiere im größeren Stil auf, was zum einen die Hilflosigkeit der EZB verdeutlicht und zum anderen wohl klar den Weg aufzeigt, den die europäische Union und die Währungsunion gehen wird.
Nicht jeder Staat wird diesen Weg aber dauerhaft mitgehen können…!
Joachim Voth: Want to know why Catalans want to leave the loving embrace of Spain?
Eine interessante Studie von
Frank Zipfel, Stefan Vetter und Daniel Pietzker:
Allein sind wir stark? Ökonomische Aspekte regionaler Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa