Gastbeitrag
Koordinierung des Sozialschutzes in der EU
Reformbedarf nimmt zu

Infolge des Wahlsiegs der Konservativen in Großbritannien ist ein teilweise verdrängtes Thema wieder in den Fokus europäischer Politik gerückt: die sogenannte Armutswanderung innerhalb der EU. Gemeint ist die Zuwanderung unterstützungsbedürftiger Personen vor allem aus den acht bzw. zwei mittelosteuropäischen Ländern, die 2004 bzw. 2007 der EU beigetreten sind, in wohlhabendere Mitgliedsländer. Großbritannien sieht durch diese Zuwanderung sein Sozialsystem gefährdet. Die britische Regierung fordert deswegen restriktivere Regeln für den Zugang von Unionsbürgern zu Sozialleistungen in Partnerländern.

Bedenken auch in Deutschland

Wie in Großbritannien ruft die Zuwanderung unterstützungsbedürftiger Bürger aus Partnerländern auch in Deutschland seit geraumer Zeit Bedenken hervor. So erklärte etwa der Deutsche Städtetag schon im Februar 2013: „Armutszuwanderung aus Südosteuropa braucht Lösungen durch Bund, Länder und EU.“[1] Im April desselben Jahres schrieben die Innenminister Deutschlands, Großbritanniens, der Niederlande und Österreichs einen Brief an den Europäischen Rat, in dem sie auf das Problem hinwiesen und Maßnahmen forderten, „um den Folgen dieser Art von Einwanderung zu begegnen und ihre Ursachen zu bekämpfen“.[2] Die Bundesregierung hat dann im vergangenen Jahr auch einige primär verwaltungstechnische Maßnahmen beschlossen, die Missbrauch von Sozialleistungen durch Migranten verhindern sollen. Dazu gehört etwa eine effizientere Identifikationsprüfung, die ausschließen soll, dass Kindergeld für im Ausland lebende Kinder mehrfach in Anspruch genommen wird. Das europäische Regelwerk blieb davon indes unberührt.

Dass die sogenannte Armutswanderung in der EU zwischenzeitlich aus dem öffentlichen Blickfeld geraten ist, lag aber kaum an den wenigen rechtlichen Korrekturen auf nationaler Ebene. Vielmehr steht beim Thema Migration derzeit die Problematik der Asylsuche im Vordergrund. Das dramatische Geschehen in diesem Bereich verdient zweifellos erhöhte Aufmerksamkeit. Es wäre aber falsch, darüber ungelöste Fragen der Binnenmigration in der EU bzw. dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu vergessen.
Politiker und Experten betonen zu Recht, dass die Zuwanderung von Unionsbürgern in Sozialsysteme wohlhabenderer Partnerländer kein Massenphänomen ist. Nach wie vor prägen mobile Arbeitskräfte die Binnenwanderung im EWR. So registrierte die Bundesagentur für Arbeit in Deutschland Ende 2014 mehr als eine dreiviertel Million Beschäftigte aus den zehn 2004 und 2007 der EU beigetretenen mittelosteuropäischen Ländern. Das waren dreimal so viele wie Ende 2010.

Deutschland profitiert von zuwandernden Arbeitskräften. Viele Zuwanderer sind gut qualifiziert. Sie tragen dazu bei, dass sich bestehende oder drohende Engpässe am Markt für Fachkräfte weiten. Andere Zuwanderer wirken komplementär zu einheimischen Arbeitskräften und erfüllen Tätigkeiten, zu denen Letztere kaum noch bereit sind. So sorgen die Neuankömmlinge für ein größeres Angebot und mehr Flexibilität am deutschen Arbeitsmarkt. Damit fördern sie das Wachstum der deutschen Wirtschaft. Über steigende deutsche Importe sollte das auch den Heimatländern der Zuwanderer zugute kommen.

Wachsender Problemdruck

Allerdings weist die deutsche Statistik in jüngerer Zeit auch eine deutliche Zunahme zugewanderter Empfänger von Sozialleistungen aus. So ist die Zahl der Hartz IV-Empfänger aus den EU-8 und den EU-2 von Dezember 2013 bis Ende 2014 um 16% bzw. 83% auf insgesamt nahezu 200.000 gestiegen. Zudem erhalten rd. 140.000 Bürger aus den vier von der Staatsschuldenkrise besonders betroffenen südeuropäischen Euro-Ländern Leistungen der Grundsicherung. Auch der Anteil der Hartz IV-Empfänger unter den hier lebenden Bürgern aus den genannten Herkunftsgebieten nimmt zu. Bei Bürgern aus Bulgarien und Rumänien, den EU-2, betrug der Anstieg binnen Jahresfrist sogar 4.4 Prozentpunkte. Mit 16% lag der Anteil im Januar 2015 fast genau so hoch wie bei der ausländischen Bevölkerung insgesamt (16.1%) und mehr als zweimal so hoch wie bei der Gesamtbevölkerung (7,4%).

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Die Zuwanderung unterstützungsbedürftiger Unionsbürger fordert insbesondere die Kommunen heraus. Sie müssen einen erheblichen Teil der Sozialausgaben für die Migranten schultern, etwa für die Unterkunft, die Gesundheitsversorgung sowie die Bereitstellung von Plätzen in Kindergärten und Schulen. In all diesen Bereichen tragen die Kommunen aber auch zunehmende finanzielle Lasten infolge der steigenden Zahl von Asylsuchenden. Zwar unterstützt der Bund die Bundesländer und Kommunen bei der Flüchtlingshilfe in diesem Jahr und 2016 mit je 500 Millionen Euro. Gleichwohl fühlen sich viele Kommunen finanziell überfordert. Das legt die Frage nach alternativen Regeln für den Sozialschutz von Unionsbürgern nahe.

Komplexe Materie europäischen Rechts

Freilich geht es dabei um eine komplexe Materie des europäischen Rechts.[3] Zwar fällt das Sozialrecht dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend prinzipiell in die Zuständigkeit der Nationalstaaten. Den Sozialschutz für Bürger aus Partnerländern können die Mitgliedstaaten aber nicht autonom bestimmen. Vielmehr müssen sie dabei höherrangiges europäisches Recht beachten. Maßgeblich sind dabei sowohl die Europäischen Verträge, insbesondere der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), als auch einschlägiges Sekundärrecht, nämlich insbesondere die Richtlinie 2004/38 (über die Freizügigkeit), die Verordnung 492/2011 (über Freizügigkeit der Arbeitnehmer) sowie die Verordnung 883/2004 (zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit).

Diese Normen definieren für den Zugang eingewanderter Unionsbürger zu Sozialleistungen in Partnerländern grundsätzlich klare Prinzipien. Demnach richtet sich der Sozialschutz im Kern, nämlich für Aufenthalte zwischen drei Monaten und fünf Jahren, nach dem Aufenthaltsstaus, der wiederum mit dem ökonomischen Status bzw. dem Erwerbsstatus verknüpft ist. Prinzipiell gilt:

  • Bis zu drei Monate können sich Unionsbürger uneingeschränkt in Partnerländern aufhalten. Sie benötigen dafür lediglich einen Reisepass. In dieser Zeit besteht indes (grundsätzlich) kein Anspruch auf Sozialleistungen.
  • Erwerbstätige Binnenwanderer, d.h. Arbeitnehmer und Selbständige, sowie deren Angehörige können sich EU-weit niederlassen. Im Gastland genießen sie gleichen Sozialschutz wie einheimische Arbeitskräfte. Es besteht das Gebot der Gleichbehandlung, das aus dem strikten Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (AEUV, Art. 19) folgt. Der besondere Schutz deckt grundsätzlich auch arbeitslos gewordene Personen ab.
  • Arbeitssuchende verfügen über uneingeschränkte Niederlassungsfreiheit für mindestens sechs Monate. Bestehen nachweisbare Erfolgschancen bei der Arbeitsplatzsuche, verlängert sich die Frist um weitere drei Monate. Die Ansprüche auf Sozialleistungen des Gastlandes sind während der gesamten Zeit grundsätzlich auf Unterstützung bei der Arbeitssuche begrenzt.
  • Nicht erwerbstätige Zuwanderer haben hingegen nur ein bedingtes Aufenthaltsrecht und sehr begrenzten Zugang zu Sozialleistungen. Sie dürfen sich grundsätzlich nur dann länger als drei Monate in einem Partnerland aufhalten, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozial(hilfe)leistungen des Gastlandes in Anspruch nehmen müssen.
  • Personen mit Daueraufenthaltsrecht, das spätestens nach einem fünf Jahre lang ununterbrochenen, rechtmäßigen Aufenthalt im Land erworben wird, sind Inländern gleichgestellt.

Schwachstellen im Regelwerk

Obgleich die genannten Prinzipen klar und stimmig erscheinen, ergeben sich im Detail vielfältige Fragen. Sie resultieren daraus, dass die relevanten Normen teilweise lückenhaft und vage formuliert sind. Schon bei der Abgrenzung der genannten Gruppen besteht Klärungsbedarf. Was charakterisiert einen Erwerbstätigen? Wer ist Arbeitssuchender? Und mehr noch gilt das für den Umfang der jeweils relevanten Sozialleistungen. Welche Leistungen stehen etwa Arbeitssuchenden im Gastland konkret offen und welche nicht?

Daraus resultiert erhebliche Unsicherheit. Arbeitssuchende Zuwanderer wissen oft nicht, was ihnen zustehen. Staatliche Behörden sind mitunter unsicher, welche Leistungen sie gegebenenfalls verwehren können. Jedenfalls kam es in den letzten Jahren in nicht wenigen Fällen zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Sie führten mitunter bis zur höchsten Instanz, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. So trat zum kodifizierten Recht noch Richterrecht hinzu.

Mit einem viel beachteten Urteil hat der EuGH im Herbst 2014 zumindest im Fall mittelloser, nicht erwerbstätiger Unionsbürger für mehr Klarheit gesorgt.[4] Vereinfacht dargestellt hat das oberste Gericht eine Art Dreisatz aufgestellt: Bei fehlenden eigenen Existenzmitteln besteht kein Aufenthaltsrecht. Ohne Aufenthaltsrecht greift das Diskriminierungsverbot nicht. Folglich können Mitgliedstaaten in einem solchen Fall Unionsbürger vom Zugang zu Leistungen wie Hartz IV ausschließen. Dabei geht es um das Recht der Mitgliedstaaten, „eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern“. Das bestätigt die deutsche Verwaltungspraxis, wonach nicht erwerbstätige Unionsbürger auch jenseits der ersten drei Monate ihres Aufenthaltes von Hartz IV ausgeschlossen werden können, wenn sie keine Arbeit suchen. Deswegen betrifft das Urteil in Deutschland wohl auch nur einige Hundert Fälle.

Gerade hinsichtlich des Umfangs der Ansprüche Arbeitssuchender herrscht aber weiterhin Unklarheit. In Deutschland geht es dabei primär um Leistungen der Grundsicherung für den Lebensunterhalt. Handelt es bei den betreffenden Leistungen um Sozialhilfe (im EU-rechtlichen Sinn), um bloße Existenzsicherung oder dienen sie auch dazu, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern? Wovon sind eventuelle weitere, über die Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung hinausgehende Ansprüche abhängig? Ist es relevant, ob ein Arbeitssuchender Kinder hat und ob diese im Gastland leben? Spielt frühere Erwerbstätigkeit im Gastland eine Rolle? Deutsche Sozialgerichte haben manche dieser Fragen bislang unterschiedlich beantwortet. Entscheidungen des EuGH stehen noch aus.

Problembehaftet erscheint auch die notwendige Abgrenzung zwischen den einzelnen Gruppen. Dazu bedarf es einer Definition des Status der Erwerbstätigkeit. Entsprechende Kriterien festzusetzen, liegt aber nicht im Belieben der Nationalstaaten, sondern fällt in die Zuständigkeit europäischer Institutionen. Nach Vorgaben des EuGH qualifizieren Arbeitszeiten ab etwa zehn Stunden pro Woche für den Arbeitnehmerstatus. Dabei handelt es sich indes nur um einen Richtwert, von dem die zuständigen nationalen Sozialbehörden bei entsprechenden Prüfungen gegebenenfalls nach unten abwichen müssen. Letztlich bedarf es dem Gericht zufolge einer Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses.

Eine so weite Definition des Erwerbstätigenstatus kann man durchaus mit Fragezeichen versehen. Das gilt umso mehr, als in Deutschland der Anteil der Aufstocker, also der Personen mit geringem, ergänzungsbedürftigen Arbeitseinkommen, unter den aus Mittelosteuropa zugewanderten Hartz IV-Empfängern seit geraumer Zeit steigt. In diesem Zusammenhang stimmen auch Pressemeldungen über Fälle von Scheinerwerbstätigkeit bedenklich.

Arbeitskräftefreizügigkeit muss erhalten bleiben

Auch die offenen Fragen geben Anlass, das geltende Regelwerk der Koordinierung der Sozialsysteme auf den Prüfstand zu stellen. Auf der Suche nach modifizierten Regeln kann es aber nicht um eine generelle Beschränkung der Zuwanderung gehen. Die Freizügigkeit von Arbeitskräften darf nicht angetastet werden. Sie ist ein unverzichtbares Ausgleichsventil bei divergierenden Entwicklungen auf den nationalen Arbeitsmärkten, wie sie infolge der Staatsschuldenkrise in Südeuropa in den vergangenen Jahren eintraten. Vor allem handelt es sich um ein Kernprinzip einer liberalen Ordnung: Keine wirtschaftliche Freiheit ohne freie Berufswahl und ohne freie Wahl des Arbeitsortes. Die Freizügigkeit von Arbeitskräften gehört daher zu Recht seit Gründung des „Gemeinsamen Marktes“ gleichsam zur „Magna Carta“ der heutigen EU.

Herkunftslandprinzip statt Gastlandprinzip der bessere Regelungsansatz?

Ernst zu nehmende Reformvorschläge zielen daher nicht auf weniger Freizügigkeit, sondern darauf, den Zugang insbesondere nicht erwerbstätiger Unionsbürger zu Sozialleistungen zu begrenzen. Im Fokus stehen dabei mehr oder minder umfassende Ansätze von Karenzzeiten, d.h. befristete Zugangsschranken bei einzelnen oder allen solchen Leistungen.

Der Vorschlag, zugewanderte nicht erwerbstätige Unionsbürger im Gastland für eine befristete Zeit vom Zugang zu (bestimmten) Sozialleistungen auszuschließen, ist weder abwegig noch neu. So trat im Vorfeld der Arbeiten zur Freizügigkeits-Richtlinie auch die EU-Kommission dafür ein, dass Unionsbürger, die nicht arbeiten, in den ersten fünf Jahren keine Sozialhilfe erhalten.[5] Mit Blick auf generelle Restriktionen für einzelne Leistungen weit verbreitet ist v.a. die Forderung, für in Partnerländern lebende Kinder – während einer Übergangszeit oder generell – nur reduziertes oder gar kein Kindergeld zu gewähren.

Mitunter wird auch eine umfassende, selbst zugewanderte Arbeitskräfte einschließende Einführung einer mehrjährigen Karenzzeit gefordert. So plädiert der Präsident des ifo Instituts, Prof. Sinn, seit längerem dafür, bei fiskalischen Transaktionen zugewanderter Unionsbürger mit dem Staat, d.h. bei Steuern und Sozialleistungen, (befristet) vom Gastlandprinzip abzugehen und stattdessen das Heimatlandprinzip anzuwenden.[6] Danach erhalten Einwanderer steuerfinanzierte Sozialleistungen des Gastlandes erst nach einigen Jahren der Aufenthaltsdauer. Umgekehrt führt das Gastland Teile der von Zuwanderern erhobenen Steuern an die Herkunftsländer ab, die während der Wartefrist für den sozialen Basisschutz zuständig bleiben. Bei einer solchen umfassenden Neuregelung würde u.a. die schwierige, streitanfällige Abgrenzung zwischen Erwerbstätigen, Arbeitssuchenden und nicht Erwerbstätigen entfallen.

Sozialpolitische Koordinierung kein geeigneter Motor europäischer Integration

Verfechter einer unbedingten Freizügigkeit werden solche restriktivere Regelungen als gravierende Rückschritte auf dem Weg zu einem stärker integrierten Europa erachten. In dieser Sicht gehört es zur notwendigen Solidarität in der EU, dass wohlhabendere Länder zugewanderten Unionsbürgern soziale Grundsicherung gewähren. Dies fördere die Mobilität in der EU und trage zu mehr Kohärenz bei, heißt es.

Eine verstärkte Koordinierung der Sozialpolitik eignet sich jedoch nicht als Motor europäischer Integration. Sie birgt die Gefahr einer zumindest schleichenden Erosion der Leistungsfähigkeit etablierter Sozialsysteme. Schon auf diese Weise gerät sie in Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip bei der Sozialpolitik.

Auch hinsichtlich der Grundsicherungssysteme sollten die Mitgliedstaaten über Gestaltungsfreiheit verfügen. Diese Systeme sind Teil des Angebots an öffentlichen Gütern. Im Interesse eines funktionierenden Wettbewerbs staatlicher Institutionen sollten Staaten auch in der EU möglichst autonom über dieses Angebot entscheiden können. Das fördert die Auswahl effizienter Arrangements. Zudem erscheint es ratsam, die verbreiteten Sorgen der Bürger in den Zuwanderungsländern vor zunehmender Migration in die Sozialsysteme ernst zu nehmen. Die Bedenken sind schon heute Nährboden für populistische, europakritische Parteien.

Definition des Sozialschutzes: eine politische Frage

Freilich erscheint es kritisch selbst zugewanderten Arbeitskräften den Zugang zu Sozialleistungen für längere Zeit generell zu versperren. Das wäre ein problematisches Signal für zuwanderungswillige Arbeitskräfte. Der deutsche Arbeitsmarkt braucht aus demografischen Gründen Zuwachs von außen, wenn er nicht austrocknen soll. Zudem wären generelle Karenzzeiten beim Sozialschutz in der EU politisch wohl kaum durchsetzbar. Das hier relevante Verbot der Diskriminierung zugewanderter Erwerbstätiger aus Gründen der Staatstätigkeit besitzt in der EU Verfassungsrang und könnte nur durch Änderung der Europäischen Verträge modifiziert werden, was eine Zustimmung aller Mitgliedstaaten erforderte.

Auch arbeitssuchenden Zuwanderern wird man ein höheres Maß an Sozialschutz zugestehen als nicht erwerbstätigen. Natürlich kann es in der Praxis mitunter schwierig sein, zwischen beiden Gruppen zu unterscheiden. Aber das deutsche Sozialrecht kennt durchaus Instrumente nach dem Prinzip „Fordern und Fördern“, die dabei hilfreich sind.

Dessen ungeachtet erscheint der Umfang des Sozialschutzes für die einzelnen Gruppen durchaus diskussionswürdig – auch im Fall der Erwerbstätigen. Ist deren volle Gleichstellung mit Einheimischen sinnvoll und gerechtfertigt? Wie ist in diesem Kontext etwa zu werten, dass erwerbstätige Zuwanderer Anspruch auf Kindergeld auch für Kinder haben, die in anderen Ländern des EWR leben?

Spätestens bei diesen Fragen gerät man als Ökonom indes auf dünnes Eis. Es geht dabei primär um Werturteile, die politisch zu entscheiden sind. Und es handelt sich um schwierige Rechtsfragen. So betrifft etwa die Frage des Kindergeldes für im EU-Ausland lebende Kinder nicht nur europäisches Recht der Koordinierung der Sozialsysteme, sondern auch deutsches Einkommensteuerrecht, (nämlich die steuerliche Behandlung des Aufwands für die Sicherung des Existenzminimums des Kindes).

Angesichts dieser schwiegen Gemengelage wäre schon viel gewonnen, wenn es gelänge, den Zugang von Unionsbürgern zu Sozialleistungen in Partnerländern weniger streitanfällig und verwaltungstechnisch leichter handhabbar zu machen. Dabei spricht einiges für einen insgesamt restriktiveren Ansatz.

Fußnoten

[1] Deutscher Städtetag (2013). Pressemitteilung vom 14.02.2013.

[2] Übersetzung des Autors des englischsprachigen Biefs

[3] Vgl. zum Folgenden: Bräuninger, Dieter (2015). Debatte über Freizügigkeit: Braucht die EU neue Zugangsregeln zu Sozialleistungen, Deutsche Bank Research, Research Briefing Europäische Integration und die dort angegebene Literatur.

[4] Mit dem Urteil vom 11. November 2014 hat der EuGH die Entscheidung eines Leipziger Job-Centers bestätigt, das einer in Deutschland lebenden, nicht erwerbstätigen Rumänin und deren Sohn Leistungen nach dem SGB II verweigert hatte. Vgl. dazu auch Thym, Daniel (2014): EU-Freizügigkeit als rechtliche Konstruktion – nicht als soziale Imagination. VerfBlog. 2014/11/12.

[5] Thym, Daniel (2014). A,a.O.

[6] Sinn, Hans-Werner (2000). EU enlargement and the future of the welfare state. CESifo Working Paper No. 307.

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