Varianten des Kapitalismus
Let’s face it! Britain is Different
Brexit, Entrepreneurship und das angelsächsische Modell

Die Briten haben sich mit knapper Mehrheit für den Brexit entschieden. Das Ergebnis der Volksabstimmung hat viele überrascht. Aber es kam nicht überraschend. Am Ende war es wohl die Immigration, die den Ausschlag gab.  Auch hat die euroskeptische Presse mit ihrer Berichterstattung dreißig Jahre lang den Boden für diese Entscheidung bereitet. Boris Johnson, damals noch Journalist, soll auf einer Pressekonferenz die symptomatische Frage gestellt haben: „Ok, tell me what’s going on and why it is bad for Britain!“ Auch die britische Politik hat ihren Beitrag geleistet, indem sie über Jahrzehnte hinweg kaum eine Chance versäumt hat, unpopuläre Entscheidungen den „ungewählten Bürokraten“ aus Brüssel anzulasten. Und schließlich – „Don’t mention the War!“ – mag auch das Selbstbewusstsein des Inselvolks nie ganz überwunden haben, Teil eines Staatenbunds zu sein, in dem die Feinde von einst eine starke Rolle innehaben.  Zumindest mag man aus der Geschichte ableiten, nicht zwangsläufig Teil Europas zu sein, sondern die Freiheit zu haben, zu wählen.

Doch die Ursachen für das Brexit-Votum gründen tiefer. Neben dem in der Geographie begründeten Bewusstsein, noch immer ein Meer zwischen sich und dem Kontinent zu haben, und neben der über Jahrhunderte praktizierten politischen Tradition der „Balance of Power“, also der Politik, stets möglichst eine kontinentale Großmacht gegen die jeweils andere auszuspielen – und so das Heranwachsen eines potentiell zu mächtigen Rivalens auf der anderen Seite des Kanals zu verhindern – ist es ein diffuses Unbehagen gegenüber Regulierung aus Brüssel, das zu einem in unterschiedlichster Weise und über Jahre auch von den unterschiedlichsten Akteuren artikulierten Gefühl geführt hat, dass die Politik der EU nicht im Interesse der britischen Wirtschaft sei.

Dieses Unwohlsein hat eine reale Grundlage: Großbritannien gehört einem anderen Wirtschaftsmodell an als der Großteil des Rests der Europäischen Union.

Varianten des Kapitalismus

Worum geht es? Vor 200 Jahren eroberte Napoleon fast ganz Europa. Mit im Gepäck ein neues Rechtssystem: Das Kodexrecht. Nicht mehr die Gewohnheit definierte nun Recht oder Unrecht, sondern das Gesetzbuch. Nicht Tradition oder Pragmatismus sollten Standards vorgeben, sondern universell gültige Prinzipien. Ein Fuß war eine bewährte Maßeinheit, doch nun wurde der Meter definiert als der zehnmillionste Teil der Entfernung zwischen  Nordpol und Äquator. Platon statt Protagoras! Descartes und Kant statt Locke und Hobbes! Während dessen exportierte Großbritannien sein Common Law nicht nur in die neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika, sondern in eine immer größere Anzahl von Kolonien weltweit. Das Habsburgerreich, in dem lange Zeit „die Sonne nie unterging“, ebenso Preußen und später das Deutsche Reich, beeinflussten zur gleichen Zeit mit ihren Traditionen die Institutionenbildung in einer Vielzahl vor allem mitteleuropäischer Länder – die späteren Kernlande der Europäischen Union. Der Bismarck’sche Sozialstaat, ausgelegt mehr auf den Erhalt sozialer Schichten als die reine Unterstützung Notleidender, unterscheidet sich in seinen Prinzipien deutlich vom Beveridge’schen, auf dem heute noch der NHS basiert. Individuelle Tugend ist indes Grundlage (legitimen) persönlichen Wohlstands im Protestantismus, insbesondere in der calvinistisch geprägten Variante. Der katholischen Soziallehre wiederum ist jeder Reichtum suspekt – außer (wie könnte es anders sein!) jener der Kirche oder des Staats. Unnötig, hier zu erklären, welche Tradition welche Länder jeweils mehr geprägt hat. Seit dem siebzehnten Jahrhundert muss das House of Commons dem britischen Monarchen jede Steuer genehmigen, die Rechte des Einzelnen sind in der Magna Carta von 1215 verbrieft. Währenddessen entsteht in Preußen der Korporatismus: Man beteiligt „die Wirtschaft“ in Form von Kaufmannsgilden sowie andere Interessensgruppen kollektiv an der politischen Entscheidungsfindung, ohne echte Demokratie wagen zu müssen. Japan, in vielfacher Hinsicht Deutschland nicht unähnlich, übernimmt mit der Meiji-Revolution viele institutionelle Ansätze aus dem deutschen Kaiserreich. So bilden sich Varianten marktwirtschaftlich orientierter Länder. Länder, die innerhalb ihrer Gruppe viele Gemeinsamkeiten teilen, die gegenüber den Mitgliedern anderer Gruppen größere Unterschiede aufweisen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die auf historisch gewachsenen Institutionen basieren. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die geeignet sind, wirtschaftliches Handeln nicht unwesentlich in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen.

Diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten betreffen unter anderem die Ausgestaltung von Sozialstaaten und Finanzsystemen, die Arbeitsgesetzgebung und Produkthaftung, das Wettbewerbsrecht, die Corporate Governance, die Bildung und andere wichtige Aspekte im Innovationssystem. Sie werden in der Literatur zu „Varianten des Kapitalismus“ beschrieben (vgl. z.B. Esping-Andersen, 1990; Albert, 1991; Hall und Soskice, 2001; Sapir, 2005). Sie lassen sich – zumindest teilweise – empirisch nachweisen (vgl. u.a. Kögel, 2013; Kögel, 2014). Und sie wirken sich aus auf die Wirtschaftsstruktur, indem sie auf dem Wege unterschiedlicher Anreizsysteme jeweils unterschiedliche Arten ökonomischer Aktivitäten (auch Aktivitäten unterschiedlicher Branchen) erleichtern oder erschweren (vgl. Hall und Soskice, 2001; Kögel, 2013). Als bedeutendste dieser Gruppen – und gleichsam Antipoden – werden Rheinmodell (auch rheinischer Kapitalismus oder koordinierte Marktwirtschaft, kurz CME) und das angelsächsische Kapitalismusmodell (auch liberale Marktwirtschaft oder LME) gehandelt.

Da die Europäische Union von den Vertretern der koordinierten Marktwirtschaften (des Rheinmodells) dominiert ist, ergibt sich für die Briten als liberale Marktwirtschaft (angelsächsisches Modell) vielfach ein institutioneller Mismatch, der ein diffuses Unbehagen hervorruft. Eine umgekehrt gelagerte Situation ist aktuell mit Bezug auf das umstrittene transatlantische Freihandelsabkommen TTIP feststellbar. Hier rufen starke Anklänge der angelsächsischen Rechts- und Wirtschaftstradition in Kontinentaleuropa Widerstand hervor.

Bedingungen für Unternehmertum

Unterschiede in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zeigen sich –  nicht nur, aber auch – an den Bedingungen für Unternehmertum. Jedes Jahr führt die Weltbank unter dem Titel „Doing Business“ eine Untersuchung durch, um die Bedingungen für Unternehmertum weltweit vergleichbar zu machen. Die Weltbank-Studie zeichnet dazu den Lebenszyklus eines Unternehmens von Gründung bis Auflösung nach. Sie bewertet an insgesamt zehn Punkten im Lebenszyklus die Interaktion zwischen Unternehmen und (meist staatlichen nationalen) Institutionen. Zum Beispiel: Die Schritte zur Gründung eines Unternehmens, das Einstellen bzw. Kündigen von Mitarbeitern, die Finanzierung, Export- und Importbestimmungen oder die Komplexität von Insolvenzverfahren. Unternehmertum kann durchaus als die Essenz wirtschaftlichen Handelns betrachtet werden. Wo, wenn nicht am zarten Pflänzchen Unternehmertum sollten sich Unterschiede in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen besonders spürbar auswirken?

Unternehmertum: Deutliche Unterschiede zwischen Großbritannien und dem Rheinmodell

Ein Blick auf die Daten der Weltbank-Studie entdeckt deutliche Unterschiede in den Bedingungen für Unternehmertum zwischen den unterschiedlichen Kapitalismusmodellen und damit dem Vereinigten Königreich und der in der EU dominanten Gruppe und macht so den institutionellen Mismatch ersichtlich.

Am deutlichsten sind die Unterschiede in den Bereichen Unternehmensgründung, Arbeitnehmerschutz, Finanzierung und Investorenschutz, gefolgt von den Außenhandelsbestimmungen (weniger relevant mit Blick auf das Vereinigte Königreich, aufgrund der Einheitlichkeit der Bedingungen innerhalb der Europäischen Union) und die Bedingungen zur Abwicklung eines Unternehmens.

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So dauert die Gründung eines Unternehmens im rheinischen Kapitalismusmodell im Mittel 10,8 Tage, im Modell der liberalen Marktwirtschaft 5,4, und ist mit fünf mal so hohen Kosten verbunden. Im OECD Labour Protection Index reflektieren sich wesentliche Unterschiede in der Arbeits- und Sozialgesetzgebung. Hier liegen koordinierte Marktwirtschaften bei Werten um 2,17, liberale bei Werten um 1,18 (Vereinigtes Königreich: 1,27). Im Legal Rights Index genießen Aktionäre in liberalen Marktwirtschaften Werte um die 10,27 (Vereinigtes Königreich 9,85), in koordinierten Werte um 6,96. Die effektive Unternehmensbesteuerung liegt schließlich im Vereinigten Königreich bei einem für liberale Marktwirtschaften (Mittelwert 35,31%) typischen Wert von 34,63% (koordinierte Marktwirtschaften 42,20%).

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Insgesamt unterstreicht die kleine Analyse die Aussage der Theorie von Varianten des Kapitalismus, nämlich dass im angelsächsischen und im rheinischen Kapitalismus ein nicht deckungsgleiches Set an institutionellen Rahmenbedingungen existiert, auf welches sich die Wirtschaftsstruktur über die Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte im Sinne der klassischen Außenhandelstheorie angepasst haben muss.

Deshalb, und aufgrund von institutionellen Komplementaritäten innerhalb der einzelnen Modelle, ergibt sich im Falle eines selektiven Transfers institutioneller Gegebenheiten durch ein exogenes Set an Regulierung, das sich an einem „fremden“ Kapitalismusmodell orientiert – geschehen durch Applikation von EU-Recht auf das Vereinigte Königreich – ein institutioneller Mismatch.

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Die Folgen des Mismatch

Das Gefühl, einem institutionellen Mismatch ausgeliefert zu sein, mag den Briten nicht zu verdenken sein. Doch ist der Brexit die richtige Antwort?

Es ist davon auszugehen, dass, auch wenn ein Mismatch existiert, das Vereinigte Königreich aufgrund seiner Minderheitenposition im Club keine Chance hat, eine für seine Erfordernisse adäquate Regulierung in Brüssel durchzusetzen. In den demokratischen Strukturen der europäischen Institutionen wird sich in der Regel die Mehrheitsposition durchsetzen. Stark vereinfacht, ist davon auszugehen, dass bei 28 Mitgliedsstaaten die übrigen Großbritannien bis zu einem Achtundzwanzigstel des Weges entgegenkommen. Man gewichte dies wahlweise mit Einwohnerzahl oder Wirtschaftskraft und man erhält eine Indikation, dass die Regulierung der Europäischen Union den institutionellen Erfordernissen des Vereinigten Königreichs und seiner durch diese geprägten Wirtschaftsstruktur nie hinreichend gerecht werden kann. Ist dies nun eine Argumentation für den Brexit?

Nein. Nicht zwingend. Denn erstens greift dieser Mechanismus nur, wo sich die institutionellen Traditionen wirklich zwischen den Kapitalismusmodellen unterscheiden – und das ist bei weitem nicht bezogen auf alle Wirtschafts- und Regulierungsbereiche der Fall. Zweitens wäre die korrekte ökonomische Herangehensweise die, sicherlich aufgrund des Mismatch auftretende Kosten mit den Vorteilen der Mitgliedschaft in Form von Freihandel ebenso wie der aus der Europäischen Einigung resultierenden Friedensdividende gegenzurechnen. Damit mag der Vorteil durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union für Großbritannien zwar geringer ausfallen als für die Mitgliedsstaaten des dominanten Kapitalismustypus, kann aber dennoch deutlich positiv sein. Die Mitgliedschaft in der EU bliebe dann nach wie vor im Interesse Großbritanniens.

Rational betrachtet, spricht der institutionelle Mismatch folglich eher für einen Britenrabatt in Kombination mit Opt-Outs als für ein Verlassen der Europäischen Union.

Was nun, Britannia?

Nun hat sich Großbritannien für den Brexit entschieden. Die Diskussion, ob der Austritt nun sinnvoll ist oder nicht, wird dadurch zu einer akademischen – er wird passieren. Wie also damit umgehen?

Insbesondere die Gegner der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens sehen im Brexit ja vor allem eine Chance.

Offensichtlich ist: Sollte die letztlich durch Großbritannien zu erzielende Verhandlungslösung im Gegenzug zum Zugang zum Europäischen Binnenmarkt nach wie vor die Gültigkeit des Europäischen Rechts auf der Insel bedeuten, hätte sich das Problem des Mismatch in keinster Weise gelöst. Ja, es würde gar noch verstärkt, da in diesem Fall Großbritannien über keine Stimme mehr in den Institutionen verfügt, die Anforderungen des britischen Modells also nicht mehr nur zu wenig, sondern gar nicht mehr berücksichtigt würden.

Eine Lösung, die dem Vereinigten Königreich die Möglichkeit gibt, Regulierung wieder an den eigenen Erfordernissen auszurichten, mag wiederum eine Chance sein: Denn wie die vorstehende Analyse zeigt, sind gerade die Bedingungen für Unternehmertum im angelsächsischen Kapitalismusmodell nach wie vor deutlich besser. Unternehmerischer Kapitalismus wiederum ist mit radikaler Innovation und mit hohen Wachstumsraten assoziiert. Die Folge wiederum wäre ein Großbritannien, das aus der neu gewonnnen Freiheit tatsächlich Wachstumsimpulse generiert – für sich, wie die verbleibenden EU-Staaten. Großbritannien also als Innovationsschmiede Europas?

Eine Illusion? – Wohl möglich. Aber wir haben ja auch alle nicht an den Brexit geglaubt.

Literatur

Albert, M. (1991): Capitalisme contre capitalisme, Paris.

Esping-Andersen, G. (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton.

Hall, P.A. und D. Soskice (2001): Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford.

Kögel, D. (2013): Wettbewerbsvorteil durch Innovation und Unternehmertum in angelsächsisch-liberalen und rheinischen Volkswirtschaften: Eine empirisch diskriminatorische Untersuchung von “Varianten des Kapitalismus“, Frankfurt am Main (verfügbar hier).

Kögel, D. (2014): Die Mär vom besseren Kapitalismus, Wirtschaftliche Freiheit – Das ordnungspolitische Journal.

OECD (2016): OECD IDB Employment Protection Database.

Sapir, A. (2005): Globalisation and the Reform of European Social Models, in: Bruegel Policy Contribution, Sept. 2005.

Weltbank (2010-2016): Doing Business, Washington DC.

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