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Dem Mittelstand geht es gut
Auch in der Schweiz

«Der Mittelstand gerät zunehmend unter die Räder». Wer könnte nicht in dieses Lamento einstimmen? Steigende Gebühren, übermässige Prämienlast oder drückende Steuerprogression sind schnell als Beleg für den gesellschaftlichen Missstand zur Hand. Allein die Frage stellt sich: entspricht diese vermeintlich ausgemachte Diagnose den Fakten? Die Antwort darauf ist klar: nein – dem Mittelstand geht es gut. Eine vom Bund initiierte Mittelstandsstrategie ist unnötig.

Stabile Mittelschicht trotz Globalisierung

Trotz weitreichender struktureller Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, entwickelt sich die Verteilung der Markteinkommen in der Schweizer Bevölkerung überaus stabil. Der Gini-Koeffizient als Mass für die Gleichverteilung der Einkommen in einer Gesellschaft bewegt sich seit Jahren um den gleichen Wert. Berücksichtigt sind hier alle Einkommen aus Erwerbstätigkeit und aus Vermietung und Vermögen der Haushalte – jeweils korrigiert um die Haushaltsgrösse. Das Ergebnis ist bemerkenswert: in der Schweiz garantieren die Marktkräfte im Rahmen der Sozialpartnerschaft bereits eine breite Streuung der Einkommen. Trotz tiefgreifender Herausforderungen seit den 1990er Jahren (Globalisierung, technischer Fortschritt) ist keine wesentliche Veränderung der Einkommensverteilung zu beobachten. Im Vergleich zählt die Schweiz zu den OECD-Ländern mit der am stärksten ausgeprägten Gleichverteilung der Markteinkommen.

Noch bemerkenswerter ist das Ergebnis, wenn man die grundlegenden demographischen Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur bedenkt. Haushalte im Ruhestand erzielen geringe Markteinkommen aus Erwerbstätigkeit. In einer alternden Gesellschaft nehmen stattdessen die Einkünfte aus den gesetzlichen Rentensystemen zu, welche nicht zu den Markteinkommen gezählt werden. Das heisst, eine alternde Gesellschaft hat einen natürlichen Trend zur stärkeren Ungleichheit der Markteinkommen – der anscheinend in der Schweiz durch die Marktkräfte und die Sozialpartner weitgehend kompensiert wird.

Vergleichsweise «effizienter» Umverteilungsstaat

Mit einer Staatsquote von über 30% greift die Schweiz in vielfältiger Weise in die Einkommensverteilung der Gesellschaft ein. Dies geschieht über das Steuersystem und die staatlichen Sozialversicherungen. Hinzu kommt die Umverteilung über Zwangsabgaben (Krankenversicherung, berufliche Vorsorge, Unfallversicherung).  Das verfügbare Einkommen berücksichtigt diese Staatsaktivität. Im Ergebnis ist die Einkommensverteilung nach Steuern und anderen staatlich geregelten Abgaben in der Schweiz wiederum bemerkenswert. Der entsprechende Gini-Koeffizient hat sich seit den 1990er Jahren kaum verändert. Im internationalen Vergleich reduziert das Steuer- und Transfersystem in der Schweiz die Ungleichheit zwar unterdurchschnittlich. Die Umverteilung ist also relativ gering. Weil aber bereits die Markteinkommen äussert gleich verteilt sind, bleiben die verfügbaren Einkommen trotzdem überdurchschnittlich gleich verteilt. Die Schweizer kann im internationalen Vergleich also durchaus als vergleichsweise «effizienter» Umverteilungsstaat bezeichnet werden.

Keine Einkommenspolarisierung

Legt man den Fokus stärker auf die mittleren Einkommen, bleibt das Ergebnis qualitativ gleich. Dies gilt, wenn man die Grösse jener Einkommensgruppe betrachtet, die über 70% bis 150% des Medianeinkommens verfügen. Dies gilt auch, wenn man das Verhältnis der 20% höchsten zu den 20% tiefsten Einkommen betrachtet. Und dies gilt schliesslich auch, wenn man die Polarisierung zwischen den Einkommensschichten betrachtet. Immer ist das Resultat eine ausgesprochene Stabilität der Einkommensverteilung in der Schweizer Gesellschaft.

Obligatorische Ausgaben lasten auf allen Schichten

Gelegentlich wird eingewendet, dass diese Betrachtung die obligatorischen Ausgaben wie die Belastung durch Krankenkassenprämien vernachlässige. Diese sind jedoch vom verfügbaren Einkommen bereits abgezogen und damit in den erwähnten Untersuchungen berücksichtigt. Zudem zeigen die jüngsten Zahlen im Bericht des Bundesrats zur Lage des Mittelstands, dass die obligatorische Abgabenlast im Mittelstand im letzten Jahrzehnt keineswegs überdurchschnittlich anstieg.

Intakte Solidarität der hohen Einkommen

Könnte es sein, dass die Lage des Mittelstands zwar durchaus robust ist, aber die oberen Einkommen als «wahre Gewinner der Globalisierung» sich immer weniger solidarisch zeigen? Die Daten sind auch in diesem Fall eindeutig. Seit 1945 bleiben die Einkommensanteile der obersten 1% vor- und nach Steuern in engen Bandbreiten. Der gesamtgesellschaftliche Umverteilungseffekt erfährt in der Schweiz über die Jahre keine grossen Veränderungen. Diese Entwicklung ist umso eindrücklicher, wenn man den Vergleich mit den USA heranzieht. War die Einkommenskonzentration in der Schweiz in den Nachkriegsjahren noch deutlich höher, sind die obersten Einkommensanteile in den USA seit den 1980er Jahren markant stärker angestiegen. Aufgrund der sehr stabilen Progressionswirkung in der Schweiz liegt die Einkommenskonzentration heute deutlich tiefer als in den USA.

In diesem Zusammenhang wird oft auch die Frage der Mobilität der Einkommensschichten diskutiert. Auch wenn die Datenlage für die Schweiz in diesem Bereich noch ausbaufähig ist, deuten die Resultate auf eine Gesellschaft mit intakten Aufstiegschancen hin. Ein Schlüsselfaktor dürfte diesbezüglich das Bildungssystem sein, mit seinen zunehmend durchlässigen Bildungswegen.

Schweizer fühlen sich als Mittelschichtsgesellschaft

Die Daten zur Einkommensverteilung in der Schweiz sprechen eine klare Sprache. Ist die beklagte Erosion des Mittelstands also eine Illusion? Tatsächlich wurde im internationalen Vergleich festgestellt, dass nahezu keine Korrelation zwischen der tatsächlich gemessenen und der subjektiven Einschätzung der Ungleichheit bei den verfügbaren Einkommen besteht. Die Deutschen verorten beispielsweise die Mehrheit der Bevölkerung in der untersten Schicht, während sich die Schweizer als eine klassische Mittelschichtsgesellschaft fühlen. Das scheint überraschend, so sind die verfügbaren Einkommen in beiden Staaten in Wahrheit nahezu gleich verteilt. Doch die Verteilung der verfügbaren Einkommen in Deutschland und der Schweiz kommt auf sehr unterschiedliche Art und Weise zustande. In der Schweiz sind bereits die Markteinkommen relativ gleich verteilt, in Deutschland wird deutlich mehr staatlich umverteilt.  Dass die Schweizer Haushalte für einen grösseren Teil ihres Einkommens selbst verantwortlich sind, scheint die subjektive Einschätzung über Fairness und Verteilungsgerechtigkeit positiv zu beeinflussen.

Die gelegentlich medial effektvoll bewirtschaftete Klage über eine Erosion des Mittelstands gehört ins Reich der Mythen. Dem Mittelstand geht es gut. Damit dies so bleibt, gilt es der Flexibilität des Arbeitsmarkts Sorge zu tragen und punktuell  negative Arbeitsanreize zu mildern. Eine hohe Erwerbsbeteiligung sichert eine breite Verteilung der Wohlstandsgewinne und ist damit entscheidend für einen moderaten Umverteilungsbedarf und die gefühlte Verteilungsgerechtigkeit.