Ist die Politik glaubwürdig?

Regeln einhalten, Regeln verletzen

Es geht um Regeln. Friedrich August von Hayek, der große Ökonom des letzten Jahrhunderts, war ein außerordentlich innovativer wissenschaftlicher Geist des polit-ökonomischen Denkens in den Linien moderner Institutionenökonomik, also der Ökonomik der Regeln. Denn Institutionen sind nichts anderes als Regeln. In der Politik einer Regierung spielen Regeln, die sie selbst setzt und die eingehalten werden oder gegen die verstoßen wird, eine dominierende Rolle. Denn das regierungsamtliche Regeleinhalten oder Regelverstoßen bestimmt die Glaubwürdigkeit der Regierungspolitik bei den Bürgern. Bedeutsam ist dies insbesondere in Zeiten versprechensgeschwängerter Wahlkämpfe, wie sie zurzeit in Deutschland stattfinden, aber ebenso zum Beispiel in den USA, wo Donald Trump seine Wahlkampfversprechen einzulösen versucht und dabei die Erfahrung machen muss, dass ihre Realisierung mehr, als von ihm erwartet, an bestimmten verfassungsrechtlichen oder auch vernunftorientierten ordnungsökonomischen Regeln bereits schon jetzt scheitern. Auch in Bezug auf die EZB ist Glaubwürdigkeit ihrer Politik anzusprechen: Wie glaubwürdig ist eine auf das Ziel der Preisstabilität verpflichtete europäische Geldpolitik der EZB, deren monetäres Expansionsende offensichtlich sichtbar auf die Situation in Italien und anderen Mittelmeerländern und weniger auf die gesamte Eurozone ausgerichtet ist? Oder in der EU: Wie steht es um die Glaubwürdigkeit der No-Bail-Out-Regel des Art. 125 EUV, wenn zugleich ein ausgeprägtes Netz an Euro-Rettungsschirmen installiert worden ist, die das genaue Gegenteil beinhalten? Oder in Bezug auf die Sanktionsregeln, die im Lissabon-Vertrag eindeutig kodifiziert sind, aber so gut wie gar nicht in Kraft gesetzt werden – ganz abgesehen von den flächendeckenden Verstößen gegen die Einhaltung der vorgeschriebenen Verschuldungs- und Stabilitätsregeln?

Glaubwürdigkeit der Politik

Generell: Warum beschäftigen wir uns mit dem Problem der Glaubwürdigkeit? Der Grund liegt darin, dass Wirtschaftspolitik in ihren Wirkungen nicht unabhängig ist von der Glaubwürdigkeit, die ihr zugemessen wird. Fehlende Glaubwürdigkeit kann dazu führen, dass die positiven Wirkungen der Wirtschaftspolitik nicht eintreten oder geringer ausfallen als bei glaubwürdiger Politik. Das Konzept der Glaubwürdigkeit beschreibt den Grad der Übereinstimmung zwischen den Annahmen der Privaten über die gegenwärtige und zukünftige Politik und der ursprünglich angekündigten Politik der Regierung. In diesem Sinne der Ökonomik der Neuen Klassischen Theorie impliziert Glaubwürdigkeit, dass Erwartungen der Wähler in Bezug auf die angekündigten Politikmaßnahmen eine zentrale Rolle spielen. Hier sind rationale Erwartungen gemeint, die sich weniger an der Vergangenheit orientieren als vielmehr an Prognosen über die unsichere Zukunft und natürlich auch an Datenänderungen. Das nimmt genau die gegenwärtige Wahlkampfsituation in Deutschland in den Fokus, aber auch die in den USA, wo gefragt wird, inwieweit Trump die Erwartungen seiner Wähler erfüllt.

Zeit(in)konsistenz der Politik

Nun stehen Glaubwürdigkeit der Politik und Reputation der Regierung oder Zentralbank in einer engen Beziehung mit dem, was man gemeinhin als Problem der Zeitinkonsistenz bzw. Zeitkonsistenz der Politik bezeichnet. Wann ist eine Politik zeitkonsistent? Dies ist dann der Fall, wenn die von der Regierung ex-ante angekündigte Wirtschaftspolitik auch ex-post, d. h. nach Bildung der Erwartungen der Privaten, optimal ist. Dann nämlich gibt es für die Regierung keinen Grund, nachträglich von ihrer Ankündigung bewusst abzuweichen. Zeitkonsistent ist die Politik aber auch, wenn die Regierung von ihrer Ankündigung bewusst deshalb abweicht, weil ihre angekündigte Politik negative Auswirkungen hat, die sie vermeiden will. In diesen Kontext der Zeitkonsistenz ist die Debatte um Angela Merkels plötzliche Wochenend-Entscheidung zum Austritt aus der Atomenergie trotz der den Energieunternehmen versprochener Vertragsverlängerung vielfach gestellt worden, immer unterstellend, der so plötzliche Ausstieg sei alternativlos wohlfahrtsfördernd.

Ähnlich, aber doch anders, ist die Situation, mit der Donald Trump gegenwärtig offenbar konfrontiert ist, wenn er zum Beispiel seine angekündigte starke Agenda gegen Freihandel nunmehr abschwächt, indem er NAFTA, das Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko, nicht total kündigt, sondern ankündigt, sie nur neu zu verhandeln. Oder wenn er seine zunächst angekündigte totale Abwehrhaltung gegenüber der NATO nunmehr gerade ins Gegenteil verkehrt. Würde er dagegen seine angekündigten Politiken beibehalten, wäre dies wohlfahrtstheoretisch suboptimal, und seine Politik wird dann als zeitinkonsistent bezeichnet. Zeitinkonsistente Politik erfüllt also die ex-ante gegebenen Politikversprechen, obwohl eine optimale Politikstrategie davon abweichen würde. Damit wirft das Zeitinkonsistenzproblem optimaler Pläne die Frage nach der Glaubwürdigkeit staatlicher Wirtschaftspolitik auf.

Das Beispiel Patentgesetzgebung

Am Politikbeispiel der Patentvergabe können diese Zusammenhänge besonders anschaulich demonstriert werden: Der Staat stimuliert und schützt durch die Vergabe von Patenten Innovationen und erlaubt dem Patentbesitzer die temporäre Abschöpfung einer Monopolrente. Es sei mal unterstellt, der Staat würde auf eine Patentgesetzgebung verzichten und stattdessen freiwillig ein im Inhalt dem Patentgesetz gleichzusetzendes Versprechen gegenüber den Privaten abgeben. Dieses Versprechen ist ex-ante, also vor der Entstehung neuer Produkte, aus Sicht des Staates wohlfahrtsoptimal, weil die Privaten zu erhöhten Innovationsleistungen angespornt werden. Ex-post ist ein solches Versprechen allerdings suboptimal, weil die Abschöpfung der Monopolrente durch die Patentinhaber ein geringeres Angebot zu erhöhten Preisen bedeutet. Für die Regierung besteht deshalb ein Anreiz, ihr Versprechen nicht einzuhalten und also die Privaten zu täuschen, sobald die Innovationen auf den Markt gekommen sind. Bei rationalen Erwartungen der Privaten kommt es aber nicht zu diesen Innovationen, weil sie das Verhalten der Regierung von vornherein antizipieren. Dies ist der Grund, weshalb es für die Gesellschaft offensichtlich wohlfahrtsfördernd ist, Erfindungen durch eine Patentgesetzgebung zu schützen, die die Regierung an Regeln bindet und so ihre Glaubwürdigkeit herstellt.

Allerdings ist dies keineswegs die „first best solution“, denn die Politik des Staates wäre ja optimal, wenn die Erfinder dem Versprechen des Staates stets vertrauen, obwohl sie sich permanent irren. Dann jedenfalls werden die Privaten erfolgreich getäuscht. Das ist natürlich irreal, denn bei rationalen Erwartungen der Bürger durchschauen diese die Strategie des Staates und unterlassen die Innovationen. In diesem Fall stimmen das Verhalten des Staates und die Erwartungen der Privaten überein. Dies führt allerdings nur zu einer „third best solution“, denn diese Lösung bei diskretionärem Staatsverhalten und rationalem Bürgerverhalten lautet ja: Da der Staat versucht, die Privaten zu täuschen, um die „first best solution“ zu realisieren, muss er sich mit der schlechtesten, der „third best solution“ zufriedengeben. Er kann diesem Dilemma nur entrinnen, wenn er sich an eine Patentregel bindet, die glaubwürdig ist. Dadurch sichert sich die Gesellschaft die Wohlfahrtssteigerung durch Innovationen, zahlt dafür aber mit einer Monopolrente. Die ist dann die „second best solution“.

Glaubwürdigkeit durch Regelbindung

Politische Regelbindung ist mithin eine Gleichgewichtslösung wohlfahrtstheoretisch nur des „second best“. Aber sie schafft Glaubwürdigkeit. Und da sind wir wieder bei Friedrich August von Hayek, der u. a. die Glaubwürdigkeit allgemeiner Regeln ins Zentrum seiner Konstitutionenökonomik gestellt hat. Sie ist der zentrale Kern für die Politikgestaltung, insbesondere natürlich in einer unsicheren Welt. Deshalb dürfen in der EU die zunehmenden sanktionslosen Regelverletzungen nicht noch stärker zum Standardrepertoire der Europa-Politiker für die Erzeugung von politischer Unglaubwürdigkeit werden. Fehlende Glaubwürdigkeit der Politik ist der Nährboden für exit– und voice-Bewegungen, wie wir sie gegenwärtig in der EU erleben. Die Erfahrung zeigt, dass die politische Glaubwürdigkeit mit zunehmender Größe eines Landes bzw. Integrationsraumes abnimmt, weil der Heterogenitätsgrad der Bürgerpräferenzen steigt, und mit zunehmender Anwendung des Prinzips der Subsidiarität zunimmt. Bei Letzterem hat die EU erheblichen konstitutionellen Reformbedarf. Die Erfahrung zeigt auch, dass die Glaubwürdigkeit in die Dauerhaftigkeit der „rule of law“ umso größer ist, je weniger zeitinkonsistent die politischen Agenten handeln. Politische Zeitinkonsistenz ist mithin der negative Gegenentwurf zur Regelbindung.

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