Lindner und die FDP
Politischer Wettbewerb statt politischer Kartellierung

Eurosklerose und Ruckrede

Herbert Giersch prägte 1985 den Begriff der Eurosklerose, mit dem er das Europa in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschrieb: Wirtschaftliche und institutionelle Stagnation mit dem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Integrationsraums. Roman Herzog folgte 1997 mit seiner berühmten auf speziell die deutsche Situation gemünzte Ruckrede derselben Spur des Denkens: Die Dominanz der gesellschaftlichen Sklerotik gälte es zu überwinden, um die geistige, institutionelle und wirtschaftliche Innovationsfähigkeit Deutschlands nicht zu gefährden.

Sklerotische Gegenwartszufriedenheit versus innovative Zukunftsorientierung: Das ist auch die gegenwärtige Herausforderung im Deutschland der wochenlangen und doch gescheiterten Jamaika-Sondierungen der politischen Funktionäre unterschiedlicher Farben. Nun sind die beiden für die deutsche Gegenwartssklerotik hauptverantwortlichen Parteien wieder dabei zu verabreden, ihre bisherige Spur zu verlängern: Die Kanzlerin wüsste nicht, was sie bisher hätte anders machen sollen.

Jamaika als politisches Kartell

Christian Lindner will sich und seine Partei diesem Denken offensichtlich nicht unterwerfen. Man schilt ihn, nachdem er Jamaika platzen ließ, als politischen Spielverderber, als staatspolitisch unverantwortlichen Verhinderer der Bildung einer stabilen Regierung. Stabile Regierung in einem extrem heterogenen und zudem asymmetrischen Macht- und Empathie-Umfeld Jamaikas? Welche Regierungsstabilität über welche Zeitspanne lässt sich denn daraus ableiten?

So kann man es denn auch ganz anders sehen: Die Sondierungsgruppe aus so unterschiedlichen programmatischen Politfarben war nichts anderes als eine Funktionärsgruppe zur Verabredung eines breiten politischen Kartells, in dem jede Partei ihren – spielstrategisch asymmetrisch zugestandenen – politischen Vorteil ziehen können sollte unter Verzicht auf öffentlich verkündete Streitereien innerhalb des Kartells.

Kartelle bilden sich unter Kartellbrüdern zur Abschaffung von Wettbewerb zu Lasten Dritter: Ökonomische Kartelle verhindern den ökonomischen Wettbewerb zu Lasten der Konsumenten und sind deshalb mit Recht grundsätzlich verboten, politische Kartelle verhindern den politischen Wettbewerb der Meinungen zu Lasten der Wähler und der ins Parlament Gewählten, also des Parlaments, also des gewählten Souveräns. Sie sind bekanntlich nicht nur nicht verboten, sondern im Gegenteil allgemein als begrüßenswerte politische Stabilisatoren kommentiert. Aber beide Kartellarten sind, in unterschiedlichen Dimensionen, wegen ihrer Wettbewerbsfeindlichkeit prinzipiell nicht unschädlich. Doch politische Kartelle werden, weil man sie allgemein positiv konnotierend „Koalitionen“ nennt, in der öffentlichen Wahrnehmung eher positiv denn negativ kommentiert. Lindner wird deshalb oft genug nicht positiv als wettbewerbshütender Kartellverweigerer, sondern negativ als Regierungsstabilität verhindert habender Störenfried angesehen.

Rivalität im politischen Wettbewerb

Dahinter steht wohl folgender Sachverhalt: Politischer (wie ökonomischer) Wettbewerb existiert, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Interdependenz und Rivalität zwischen den politischen Akteuren. Ist eine dieser Voraussetzungen nicht gegeben, existiert kein oder nur ein beschränkter Wettbewerb. Kartelle zielen auf die Ausschaltung der Rivalität zwischen den Kartellmitgliedern. Ausschaltung des rivalen Wettbewerbs bedeutet Verzicht auf mindestens drei der wichtigsten Wettbewerbsfunktionen: Entdeckungsverfahren für neue und bessere Lösungen, Lernen von anderen Wettbewerbern, Machtbegrenzung. Für funktionierende parlamentarische Demokratien liegen in diesen Institutionen das Herzstück und die Begründung für ihren Erfolg.

Allerdings wird die Ausschaltung von Rivalität bei Koalitions- bzw. politischen  Kartellabsprachen in diesem Kontext in der Öffentlichkeit weithin als alles andere denn schädlich eingeschätzt, weil politisches Handeln als grundsätzlich benevolent, also gemeinwohlorientiert, angesehen wird. Rivalität gilt gesellschaftlich als egozentriertes Negativum, obwohl sie die politische Realität signifikant abbildet. Lindner hat das mit  seinem kartellabwehrenden Verhalten negativ zu spüren bekommen. Bekanntlich zeigt aber die Neue Politische Ökonomie im Einklang mit der empirischen Evidenz, dass diese Gemeinwohlorientierung im Allgemeinen gar nicht existiert: Politische Agenten handeln in ihrem speziellen institutionellen Umfeld prinzipiell ähnlich eigennutzorientiert wie ihre Wähler als Prinzipale. Zum Beispiel geht es den Politikern darum, ihre Macht zu sichern, ihre öffentliche Reputation zu steigern, ihre Ideologien durchzusetzen oder ihr Einkommen und Vermögen zu erhöhen. Dazu müssen sie (wieder)gewählt werden, also über Mehrheiten Wahlen zu gewinnen versuchen. In diesem Licht besehen handeln politische Kartellmitglieder ebenso egozentriert und nutzenorientiert wie ökonomische.

Regierungsstabilität und Parlamentssouveränität als trade-off

Koalitionsgestützte (sogenannte) Regierungsstabilität steht nun im trade off mit der individuellen Souveränität der Parlamentarier: Je breiter das koalitionierte Politkartell der Regierung, desto schwächer das Parlament der heterogen  debattierenden Verweigerer und Außenseiter des Kartells. Koalitionskartelle beschneiden die Souveränität des Parlaments. Insofern ist es konsequent, in einer Minderheitsregierung die Abschwächung eines harten trade-offs positiv zu beleuchten: Die kartellierte Regierung muss sich aus dem nicht-kartellierten Parlamentspool um inhaltliche Kooperationspartner bemühen, die nicht der Abstimmungsdisziplin des Regierungskartells unterliegen und mit anderen parteipolitischen Projekten im Wettbewerb stehen. Damit ist dann auch das partielle Scheitern des Regierungskartells in Einzelprojekten möglich, was den heilsamen Zwang impliziert, dass diese auch für vom Volk gewählte Kartellaußenseiter attraktiv genug sein müssen, um realisiert zu werden.

Gegen das Argument der bedauernswerten Schwächung der Regierung steht das der begrüßungswerten Stärkung des Parlaments. Dies ist keine Marginalie. Denn Letztere kommt der Ursprungsidee parlamentarischer Demokratien entgegen, dass nämlich das Parlament die Regierung zu kontrollieren habe und nicht umgekehrt, wie dies in großkoalitionärem Gebaren der letzten Jahre im Bundestag zum politischen System sklerotisch degenerierte.

Lindners Ausspruch, dass es besser sei, nicht zu regieren als falsch zu regieren, mag in diese Analysekategorie hineinpassen: Meine Partei und ich wollen dieses Mal keine Kartellbrüder sein, wenn das neue Politkartell auf die  Einschränkung nicht nur des intra-kartellierten, aber vor allem auch des intra-parlamentarischen politischen Wettbewerbs, an dem auch nicht-kartellierte liberale Positionen sich rival darstellen können, ausgerichtet ist.

Besser nicht regieren als falsch regieren?

Unter Anderem hat die Nichtbeachtung dieses Grundsatzes die FDP vergangenheitlich immerhin eine vierjährige Parlamentsabwesenheit gekostet. Und man kann an einem – keineswegs nur einem – spektakulären Beispiel besichtigen, was im Bundestag  mit einer von siebzig Prozent der politischen Kartellkoalitionäre gestützten Mehrheit danach geschehen ist: Während die kartell-politisch geduldete Entscheidung, die zur Flüchtlingskrise führte, in der Öffentlichkeit, also außerhalb des Parlaments, als eines der absolut dringendsten Probleme des Wahlvolkes mehr als heftig diskutiert worden ist, wurde sie im Parlament als zentraler Abstimmungsgegenstand von den übermäßig breit kartellierten Koalitionären (bisher) nicht zugelassen. Der Bundestag als in der großen Mehrheit regierungsgehorsames Abstimmungsverweigerungskartell inmitten einer stürmisch debattierenden Öffentlichkeit: Wer sich an solchen demokratie-aversen Politkartellen beteiligt, so meint Lindner doch, regiert falsch. Lindners Verhalten, weil es die politisch nichtkartellierte Parlamentsdemokratie befördert, ist – aus Sicht eines parteiungebundenen Beobachters – der Gesellschaftssklerotik überwindenden Giersch- und Herzog-Analytik viel näher als seine Kritiker, die ihn zum Regierungsstabilität verweigernden Störenfried erklären.

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