Wo Sozialwerke die Arbeitsanreize hemmen*

Abstract: Die Schweiz verfügt über ein engmaschiges Netz der sozialen Sicherheit, das wichtige gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Aufgaben wahrnimmt. Eine Studie der Universität Luzern untersucht zwölf bestehende Sozialwerke hinsichtlich der in der politischen Debatte oft vernachlässigten Auswirkungen auf das Arbeitsangebot. Für fünf Zielgruppen wird aufgezeigt, wo die Arbeitsanreize im Zusammenspiel der unterschiedlichen Sozialwerke beeinträchtigt werden und wie Korrekturmassnahmen aussehen könnten.

In der Schweiz gewährleistet ein engmaschiges Netz der sozialen Sicherheit in jeder Lebenslage den Lebensunterhalt der Bevölkerung. Beitragsfinanzierte (Pflicht-)Versicherungen wie die AHV sichern soziale Risiken wie Alter, Invalidität oder Krankheit ab. Durch allgemeine Steuermittel finanzierte sozialstaatliche Einrichtungen wie die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (EL) richten bedarfsabhängige Leistungen aus. Der Ausbau der Sozialwerke hat massgebend dazu beigetragen, die Lebensverhältnisse umfassender Teile der Bevölkerung bedeutend zu verbessern. Die damit verbundene Ausgabendynamik stellt Politik und Gesellschaft jedoch vermehrt vor Herausforderungen.

Anreizkompatibilität im gesellschaftlichen Interesse

Eine von den Autoren dieses Beitrags verfasste Grundlagenstudie im Auftrag des SECO beleuchtet die in der Debatte oft vernachlässigten Auswirkungen der Sozialwerke auf das Arbeitsangebot.[1] Die Sicherungssysteme und die zu deren Finanzierung benötigten Abgaben und Steuern üben Anreizwirkungen aus, indem sie das verfügbare Einkommen der Haushalte wesentlich beeinflussen. So können öffentliche Hilfeleistungen Empfängerinnen und Empfänger davon abhalten, eine Erwerbstätigkeit auszubauen oder überhaupt aufzunehmen. Von einer möglichst anreizkompatiblen Ausgestaltung der Sozialversicherungen profitiert neben der betroffenen Person selbst die Gesellschaft hingegen gleich doppelt: Steigt die Erwerbsbeteiligung von Leistungsbeziehenden durch den Abbau von Fehlanreizen, profitiert der Staat, indem weniger Transferleistungen ausbezahlt werden müssen und zugleich höhere Steuererträge und Sozialversicherungsbeiträge erwartet werden können. Im Hinblick auf die demographische Entwicklung und das zunehmend zuwanderungskritische Umfeld gilt es ausserdem, das inländische Potenzial an Arbeitskräften verstärkt auszuschöpfen. Zu berücksichtigen sind die mit der Stärkung der Arbeitsanreize verbundenen Zielkonflikte. In der Sozialpolitik stehen Entscheidungsträger oft vor einem Trilemma zwischen dem Niveau der sozialen Sicherung, Finanzierbarkeit und wirksamer Arbeitsanreize. Je nach Gewichtung der einzelnen Zielsetzungen sind Abstriche bei den Arbeitsanreizen oder dem Niveau der sozialen Sicherung unausweichlich.

Verhaltensanpassungen an intensiver und extensiver Grenze

Fehlende Arbeitsanreize sind typischerweise in tieferen Einkommensklassen ein Problem. Der Staat garantiert mit unterschiedlichen Sozialtransfers wie Sozialhilfe oder Arbeitslosenentschädigung in jeder Lebenssituation ein Existenzminimum. Damit erhöht sich der sogenannte Reservationslohn – die minimale Lohnschwelle, unter der eine Person nicht bereit ist, eine Beschäftigung aufzunehmen. Zudem werden über höhere Lohnbeiträge tiefere Nettolöhne herbeigeführt. Bei der individuellen Verhaltensanpassung auf solche Anreize wird grundsätzlich zwischen dem intensiven und extensiven Arbeitsangebot unterschieden. Unter ersterem wird die Veränderung der Anzahl an Arbeitsstunden (Arbeitsintensität) verstanden. Die Quantifizierung der Anreizwirkungen erfolgt in der empirischen Forschungsliteratur mittels Berechnung des effektiven Grenzsteuersatzes. Hohe effektive Grenzsteuersätze sind ein Indiz für sogenannte Armutsfallen. Das extensive Arbeitsangebot beschreibt eine Veränderung der Arbeitsmarktpartizipation. Gegenstand ist, inwiefern Sozialwerke die Entscheidung zur Aufnahme (oder Aufgabe) einer Erwerbstätigkeit beeinflussen. Sogenannte Arbeitslosigkeitsfallen sind oft auf hohe Partizipationssteuersätze zurückzuführen. Für die Beurteilung der Arbeitsanreize in den Sozialversicherungen ist letztendlich der Gesamteffekt der beiden Dimensionen entscheidend.

Arbeitsanreize lassen sich überdies gemäss ihrer Ausprägung kategorisieren: Positive Arbeitsanreize bestehen, wenn sich zusätzliche Erwerbstätigkeit positiv im Nettoeinkommen niederschlägt. Der Partizipationssteuersatz bzw. der effektive Grenzsteuersatz liegt dann unter 100 Prozent. Im umgekehrten Fall wird von negativen Arbeitsanreizen gesprochen. Positive Arbeitsanreize alleine reichen jedoch nicht in jedem Fall, um eine Arbeitsaufnahme bzw. eine Erhöhung des Arbeitsangebots attraktiv zu machen. Grund dafür sind unter anderem mit der Arbeit verbundene zusätzliche Kosten (z.B. für die Kinderbetreuung oder Fahrtkosten). Entsprechend ist auch die Problematik von geringen Arbeitsanreizen in die Betrachtung einzubeziehen. 

Sozialversicherungen im Zusammenspiel: Eine zielgruppenspezifische Sicht

Die vorgenommene Kategorisierung dient der hier vorgestellten Studie als Ansatzpunkt zur Analyse der Arbeitsanreize und Identifikation des Optimierungsbedarfs. Eine Gesamtsicht zur sozialen Sicherheit in der Schweiz aus der Optik des Arbeitsmarkts wurde bisher nicht vorgenommen. Da eine Gesamtaussage für alle auf dem Arbeitsmarkt tätigen Personen bei den verschiedenen Anreizen weder möglich noch relevant ist, wurde eine zielgruppenspezifische Sicht gewählt. Im Fokus stehen fünf Zielgruppen, die in unterschiedlichem Ausmass und in unterschiedlichen Lebensphasen (Erwerbsleben, kurz vor und nach der Pensionierung) von den Anreizwirkungen der zwölf untersuchten Sozialwerke[2] betroffen sind.

1. Einkommensstarke Personen

Einkommensstarke Personen sind namentlich im Kontext ihrer Ruhestandsentscheidung mit beeinträchtigten Erwerbsanreizen konfrontiert. Vor Erreichen des ordentlichen Rentenalters steigern hohe Ersatzraten[3] – akzentuiert durch ein tiefes Mindestrücktrittsalter in der zweiten Säule von 59 Jahren – die Attraktivität vorzeitiger (Teil-)Pensionierungen.[4] Nach Erreichen des ordentlichen Pensionsalters erschweren hohe Grenzsteuersätze (u.a. aufgrund der AHV-Beitragspflicht) eine Verbesserung des verfügbaren Einkommens durch Erwerbsarbeit. Damit einher geht die eingeschränkte Wirkung der unter dem Stichwort Flexibilisierung beworbenen finanziellen Anreize (Rentenzu- und -abschläge bei Abweichung vom ordentlichen Rentenalter). Laut der Forschungsliteratur ist die Ruhestandsentscheidung stärker vom ordentlichen und frühestmöglichen Rentenalter abhängig. [5]

Die Anreize zur Erwerbsarbeit im Arbeitsleben sind für einkommensstarke Personen etwa durch den partiellen Steuercharakter der Beiträge für die erste und zweite Säule beeinträchtigt. Der daraus resultierenden intergenerationellen Umverteilung ist in der beruflichen Vorsorge wenigstens mit der Senkung und im Idealfall mit der Entpolitisierung des Mindestumwandlungssatzes beizukommen. Bezüger und Bezügerinnen einer IV-Rente profitieren ferner dank grosszügigen (überobligatorischen) Vorsorgelösungen von hohen Ersatzraten, die das extensive Arbeitsangebot einschränken. Angebracht wäre hier die Reduktion der IV-Kinderrenten, da das Vorrenteneinkommen insbesondere in Haushalten mit Kindern übertroffen werden kann.

2. Einkommensschwache Personen

Vor dem Erreichen des ordentlichen Rentenalters werden die Erwerbsanreize einkommensschwacher Personen gemindert, die einen Anspruch auf EL haben. Die Kompensationsfunktion der EL setzt Anreize zum Rentenvorbezug (und zum BV-Kapitalbezug). Dies liesse sich unterbinden, indem der Bezug von EL zur AHV an das ordentliche Rentenalter geknüpft wird. Für den Pensionierungsentscheid von Personen mit tiefen Einkommen ist vornehmlich das ordentliche Rentenalter massgeblich. Es wirkt ein Default-Effekt, d.h. die Rente wird oft exakt beim Erreichen des Rentenalters bezogen, ohne innerhalb der vorhandenen Möglichkeiten gemäss den eigenen Präferenzen zu optimieren. [6] Eine Erhöhung des effektiven Rentenalters dürfte folglich eher durch eine Anhebung des ordentlichen Rentenalters zu erreichen sein. Bestrebungen zur Flexibilisierung sind aus Anreizsicht kritisch zu betrachten. Zusätzlich wäre von rentenbildenden AHV-Beiträgen bei Erwerbsarbeit im Rentenalter ein positiver Einfluss auf das Arbeitsangebot zu erwarten.

Im Erwerbsalter sind Fehlanreize bei der Kombination einer IV-Rente mit EL zu beobachten. So ermöglichen die EL die Fortführung des bisherigen Lebensstandards weitgehend ohne Abstriche, was den Anreiz zur Wiedereingliederung zusätzlich zum Schwelleneffekt beim Ausstieg mindert. Weiter bewirken die Rentenstufen innerhalb der IV Fehlanreize. Hier bedarf es einer Reihe von Korrekturen: Solange die Höhe des EL-Grundbedarfs nicht diskutiert, keine höheren Einkommensfreibeiträge gewährt werden und sich die Einführung eines stufenlosen IV-Systems weiter verzögert, wird sich die Erhöhung der Erwerbsarbeit für viele IV-Rentenbezüger kaum lohnen.

 3. Jugendliche und junge Erwachsene

Aus Anreizsicht sind Transferleistungen für junge Erwachsene in zweierlei Hinsicht problematisch: Erstens schaffen sie frühzeitige Abhängigkeiten, an die sich die Hilfebeziehenden gewöhnen. So stellen Leistungen der IV, unter Umständen in Kombination mit EL, eine bedeutende Einkommensalternative dar. Zweitens ist die Transferabhängigkeit mit negativen Auswirkungen auf die Erwerbskarriere verbunden, da sich die Wiedereingliederung aufgrund von IV-Rentenstufen und Schwelleneffekten beim Austritt nicht lohnt. Diesbezüglich ist die Idee weiterzuverfolgen, IV-Renten für unter 30-Jährige durch verstärkte Betreuungs- und Eingliederungsmassnahmen zu ersetzen.

In der EL und – in geringerem Ausmass – in der Sozialhilfe müsste zur Stärkung der Erwerbsanreize eine Senkung des Grundbedarfs ins Auge gefasst werden. Im Sinne eines nach Bezugstyp differenzierten Sozialhilfesystems wäre eine höhere Reduktion des Grundbedarfs für (kinderlose) junge Erwachsene im Vergleich zu älteren Leistungsbeziehenden zu diskutieren. Im Gegenzug könnten höhere Entschädigungen für erfolgreiche Anstrengungen zur beruflichen Integration (Integrationszulagen) ausgerichtet werden.

 4. Einkommensschwache Familien

Einkommensschwachen Familien wird beim IV-Bezug eines Elternteils eine umfangreiche finanzielle Absicherung gewährleistet, die eine Rückkehr in die Erwerbstätigkeit wenig attraktiv machen. Zusätzlich zu den Kinderrenten der IV (sowie BV) richtet die EL bei Bedarf (steuerfreie) Kinder- und Zusatzleistungen aus. Bei den Transferleistungen für Kinder besteht in diversen Sozialwerken Spielraum für Leistungsanpassungen. Um die Erwerbsanreize beim Sozialhilfebezug zu stärken, ist eine Prüfung der wenig übersichtlichen situationsbedingten Leistungen für Familien angezeigt. Die Besserstellung von (kinderreichen) Familien mit Sozialhilfeunterstützung gegenüber anderen Haushalten in bescheidenen Verhältnissen gilt es zu korrigieren.

 5. Zweitverdiener (Mütter)

Die stark eingeschränkten Erwerbsanreize für Zweitverdiener durch die Steuerprogression sind hinlänglich bekannt.[7] Ferner bestehen ungünstige Anreizwirkungen unter anderem in der AHV: So sind nichterwerbstätige Ehegatten von der Beitragspflicht befreit, das Einkommenssplitting setzt die für Ehepaare erreichbare AHV-Rente auf höchstens 150 Prozent der Maximalrente fest und die Erziehungsgutschriften werden unabhängig der Kinderzahl ausbezahlt. Eine zukünftige AHV-Reform könnte deshalb das Splitting auf Paare mit Kindern beschränken und die Erziehungsgutschriften gemäss Kinderzahl abstufen. Ebenso denkbar wäre in der längeren Frist die Einführung einer zivilstandsunabhängigen AHV sowie eine grundlegende Reform des Kinder- und Familiensubventionssystems zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Berechtigterweise würde heute kaum jemand die geschaffenen Sozialwerke in Frage stellen. Es gilt jedoch, die damit verbundenen Anreizwirkungen im Auge zu behalten. Bestehende Abhalteeffekte für den Eintritt in den Arbeitsmarkt oder Zusatzverdienste sind idealerweise zu korrigieren. Wie unsere Übersichtsstudie zeigt, gibt es diesbezüglich durchaus Potenzial. Dessen Realisierung bewegt sich allerdings im erwähnten sozialpolitischen Trilemma. Will man mit vertretbarem Mitteleinsatz sowohl Arbeitsanreize schaffen wie Schwelleneffekte mindern, führt meist kein Weg an einem tieferen Niveau der sozialen Sicherheit vorbei.

Literatur

Bütler, M. (2007). Arbeiten lohnt sich nicht – ein zweites Kind noch weniger. Zu den Auswirkungen einkommensabhängiger Tarife auf das (Arbeitsmarkt-) Verhalten der Frauen, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 8(1): 1–19.

Bütler, M., Huguenin, O. und Teppa, F. (2004). What triggers early retirement? Results from Swiss pension funds. Working paper. University of Lausanne.

Coile, C. C. (2015). Economic determinants of workers’retirement decisions, Journal of Economic Surveys 29(4): 830–853.

Dorn, D. und Sousa-Poza, A. (2005). The determinants of early retirement in Switzerland, Swiss Journal of Economics and Statistics 141(2): 247–283.

Lalive, R., Magesan, A. und Staubli, S. (2017). Raising the full retirement age: defaults vs. incentives. Working paper.

Leisibach, P., Schaltegger, C.A. und Schmid, L.A. (2018). Arbeitsanreize in der sozialen Sicherheit. Überblicksstudie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO.

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* Dieser Beitrag erschien in gekürzter Form in „Die Volkswirtschaft 4/2018“

[1] Leisibach et al. (2018). Die Anreizwirkungen auf die Arbeitsnachfrage sind nicht Gegenstand der Studie. In der Analyse wird folglich implizit davon ausgegangen, dass eine passende Arbeitsnachfrage vorhanden ist. Ferner werden nicht-pekuniäre Arbeitsanreize nur am Rande behandelt.

[2] Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), Invalidenversicherung (IV), Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (EL), berufliche Vorsorge (BV), Krankenversicherung (KV), Unfallversicherung (UV), Arbeitslosenversicherung (ALV), Erwerbsersatzordnung (EO) und Mutterschaft, Familienzulagen (FZ), Militärversicherung (MV) sowie die kantonalen Bedarfsleistungen Sozialhilfe und individuelle Prämienverbilligung (IPV).

[3] Die Ersatzrate entspricht dem verfügbaren Renteneinkommen in Prozent des letzten verfügbaren Erwerbseinkommens.

[4] Bütler et al. (2004), Dorn und Sousa-Poza (2005)

[5] Z.B. Coile (2015) für eine Übersicht zur internationalen Literatur und Lalive et al. (2017) zur Schweiz.

[6] Lalive et al. (2017)

[7] Z.B. Bütler (2007).

Christoph A. Schaltegger, Patrick Leisibach und Lukas A. Schmid
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