Reden ist Silber, Schweigen ist Gold?
Wie sollen sich Wirtschaftswissenschaftler in der wirtschaftspolitischen Diskussion verhalten?

Schon wieder so ein nerviger Professorenaufruf! Im April dieses Jahres fühlte ich mich begrenzt erfreut, als ich erneut gefragt wurde, an einem Professorenaufruf – in diesem Fall gegen die Vertiefung der Haftungsunion – teilzunehmen. Mal wieder ein Aufruf, dem wohl ein Gegenaufruf folgen und der letztlich keine Auswirkungen haben wird, außer dass man sich dafür wiederholt rechtfertigen muss. Ist es wirklich nützlich, wenn man ein weiteres Mal in die Öffentlichkeit geht und einen Ökonomenstreit vor aller Augen praktiziert?

Kurze Zeit später, auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik in Freiburg, widmete sich eine Paneldiskussion unter anderem auch der Frage, ob bzw. inwieweit Wirtschaftswissenschaftler wirtschaftspolitische Statements abgeben sollen (oder nicht). Eine Meinung bestand darin, Professoren sollten in der Öffentlichkeit allenfalls gesicherte, evidenzbasierte Wenn-dann-Aussagen kundtun. Von wirtschaftspolitischen Empfehlungen sei Abstand zu nehmen, dies sei Sache der Politiker. Eine andere Position war, dass wertfreie Sachaussagen kaum möglich sind, da diese bereits Eingang finden durch die Auswahl der verwendeten Modellannahmen, in denen sich nicht selten die Grundhaltung des Wissenschaftlers spiegelt. Darüber hinaus gebe es eine Nachfrage gerade nach solchen Inhalten.

Derlei Grundfragen betreffen auch die Autoren und die Beiträge des Wirtschaftliche Freiheit-Blogs und sollen im Folgenden ein wenig genauer verfolgt werden. Dabei wird versucht, vor allem die folgenden vier Fragen zu beantworten: (1) Bis zu welchem Grad können Wirtschaftswissenschaftler gesicherte evidenzbasierte Aussagen über die Realität machen? (2) Verleiht das Anführen der Professorentitel eine ungerechtfertigte wissenschaftliche Autorität? (3) Wer ist eigentlich der Adressat solcher öffentlichen wirtschaftspolitischen Statements? (4) Inwieweit kommt hier der offene Wettbewerb um wirtschaftspolitischen Positionen ins Spiel?

1.     Wie gesichert können wissenschaftliche wirtschaftspolitische Aussagen sein?

Der Untersuchungsgegenstand der Volkswirtschaftslehre ist ein überaus komplexer Prozess, der nur in sehr unvollkommener Weise durch Modelle jeglicher Art erfasst werden kann. Letztlich enden all diese Versuche in einer Interpretation der Realität, die keineswegs eindeutig ausfallen muss. Ursache hierfür sind auch die erkenntnistheoretischen Grenzen, denen (nicht nur, aber eben auch) die Wirtschaftswissenschaft unterliegt. Es ist bekannt, dass es nicht möglich ist, wissenschaftlichen Aussagen endgültig und unwiderruflich einen Wahrheitsstatus nachzuweisen (sie zu verifizieren). Unglücklicherweise ist es ebenso wenig möglich, wissenschaftliche Aussagen endgültig zu widerlegen. Es ist grundsätzlich immer möglich, dass eine scheinbare Widerlegung einer Theorie darauf zurückzuführen ist, dass eine von zahllosen, nicht immer explizit genannten Annahmen eines empirischen Überprüfungsversuches verletzt wurde. Die Geschichte der Entdeckung des Zwergplaneten Pluto (siehe http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=8537) liefert hier Anschauungsmaterial.

Wenn also sowohl die Entdeckung von Wahrheiten als auch finale Widerlegungen nicht möglich sind, bleiben vielleicht noch empirisch gesicherte Zusammenhänge. Das neue Zauberwort in der Ökonomik lautet derzeit „Evidenzbasierung“, worunter die statistisch-ökonometrische Fundierung von Sachaussagen verstanden wird. Ohne jeden Zweifel stellt das Bestreben, theoretische Wirkungsmuster empirisch zu fundieren, eine wichtige, unverzichtbare Aufgabe in der Wirtschaftswissenschaft dar. Doch auch der Bewältigung dieser Aufgabe sind Grenzen gesteckt. Zwar können mit Daten aus der Vergangenheit Aussagen über die zeitweilige Vereinbarkeit von Theorien und Fakten für eben diese Vergangenheit abgeschätzt werden, doch ist die Gültigkeit solcher Untersuchungen für die Zukunft durchaus fraglich. Permanente Änderungen in den Rahmendaten – Daten, die keinen Eingang in die verwendeten Modelle finden – können vermeintlich altbewährte Zusammenhänge aushebeln und die aus der Theorie abgeleiteten Wirkungsprognosen wertlos machen.

Verstärkt wird dies dadurch, dass gerade in den politisch umstrittenen Fragen häufig auch kein wissenschaftlicher Konsens besteht. Der Dissens unter Fachleuten, die, jeder für sich, empirische Fakten, die ihre Position unterstützen, ins Feld führen können, zeigt die engen Grenzen gesicherter Wenn-dann-Aussagen. Letzeres ist übrigens kein Versagen der Wissenschaft, es ist vielmehr der hohen Komplexität des zu Grunde liegenden Problems geschuldet.

Gesicherte, evidenzbasierte Wirkungsvorhersagen sind somit ein unerreichbares Ziel. Wenn dies also Voraussetzung für den Beitrag von Wissenschaftlern an der wirtschaftspolitischen Diskussion sein sollte, müssten die Wissenschaftler wohl schweigen und die Diskussion den Journalisten, Politikern und sozialen Netzwerken überlassen. Ob dies zu einer besseren Wirtschaftspolitik führt?

2.     Verleiht das Anführen der Professorentitel eine ungerechtfertigte wissenschaftliche Autorität?

Wenn in Aufrufen oder in individuellen wirtschaftspolitischen Statements nun explizit die akademischen Titel angeführt werden („Wir – 154 Wirtschaftsprofessoren – warnen …“ oder „Stellungnahme von Prof. Dr. Max Mustermann“), stellt sich für manche Diskussionsteilnehmer die Frage, ob damit eine unzulässige Vermischung von Amt und Aussage erfolgt.

Zunächst einmal besagt die Anführung des Titels nicht mehr und nicht weniger, als dass der/die Unterzeichner Fachleute sind, die sich hauptberuflich mit wirtschaftswissenschaftlichen Problemen beschäftigen und dementsprechend häufig einen anderen Blickwinkel als Wirtschaftspraktiker haben. Keineswegs wird damit behauptet, dass im Folgenden wirtschaftswissenschaftlich unumstößliche Wahrheiten verkündet werden. Wie könnte es auch, nach dem was zuvor in Abschnitt 1 gesagt wurde?

Die Volkswirtschaftslehre kann nur begründete, intersubjektiv nachvollziehbare Interpretationen der Realität liefern. Da es auch bei wirtschaftspolitischen Fragestellungen nicht das eine, wahre und umfassende Modell gibt, müssen die verschiedenen in Theorie und Empirie diskutierten Effekte in irgendeiner Form – häufig intuitiv und auf der Erfahrung des einzelnen Forschers beruhend – gewichtet werden, um auf diese Weise eine Politikempfehlung zu generieren. Es ist eine Einschätzungsfrage, ob langfristig Moral-hazard-Probleme bei den Rettungspaketen Griechenlands höher zu gewichten sind als drohende kurzfristige finanzielle Systeminstabilitäten. Unterschiedliche Fachleute kommen so zu – jetzt nicht mehr intersubjektiv nachvollziehbaren – Unterschieden in den Empfehlungen.

Nur weil der letzte Schritt nicht mehr dem wissenschaftlichen Kriterium der intersubjektive Nachvollziehbarkeit genügt, ist die damit verbundene Einschätzung jedoch nicht wissenschaftlich unbegründet. Die Anführung akademischer Titel ist also durchaus zu rechtfertigen.

3.     Der Adressat wirtschaftspolitischer Aufrufe

Wem gelten eigentlich wirtschaftspolitische Aufrufe und Stellungnahmen? Richten Sie sich an die Top-Politiker in den Ministerien oder gar an die Kanzlerin? Wohl kaum. Wenn man die gleichgültige Art sieht, mit der die Kanzlerin das Gutachten des Sachverständigenrates entgegennimmt, oder gar die schon ehrenrührigen Kommentare von ökonomisch nicht ausgebildeten Politikern zu Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats im Wirtschaftsministerium, dann ist ein Aufruf, der sich direkt an die Politik richtet, weitgehend sinnlos.

Nein, der Adressat wirtschaftspolitischer Aufrufe ist die breite Öffentlichkeit, der vermittelt werden soll, dass eine nicht allzu geringe Zahl von akademischen Volkswirten Gefahren zu erkennen glaubt, die möglicherweise vielen Bürgern nicht gegenwärtig sind. Um jedoch die Zielgruppe zu erreichen, können keine abstrakten, wissenschaftlich präzisen Formulierungen verwendet werden, sondern es müssen klare und vergleichsweise eindeutige Aussagen verwendet werden, die so in wissenschaftlichen Arbeiten kaum verwendet würden. Jeder Kritiker, der sich an Detailungenauigkeiten reibt, verkennt den eigentlichen Sinn und Zweck eines solchen Statements.

Zudem ist es höchst unwahrscheinlich, dass selbst die Unterzeichner in allen Punkten übereinstimmen. Manch ein Wissenschaftler würde eher die Zahnbürste eines Kollegen verwenden als dessen Theorie. Insofern ist jeder Aufruf unvermeidlich mit einer erheblichen wissenschaftlichen Unschärfe verbunden. Entscheidend dürfte sein, dass die Stoßrichtung stimmt und ein vernachlässigtes Problem festgestellt wird.

4.     Der offene Wettbewerb um wirtschaftspolitische Inhalte

Geht es um die reine Wahrheit, so kann ihr Inhalt nicht von der Art des Prozesses abhängig sein, mit der sie aufgedeckt wird. Falls es eine Wahrheit gibt, so existiert sie unabhängig vom Forscher, der nach ihr sucht.

In der Wirtschaftspolitik geht es jedoch nicht um objektive Wahrheiten, sondern darum Maßnahmen durchzuführen. Die praktizierte Wirtschaftspolitik ist das Ergebnis einer Vielzahl von Einflusskräften: Interessenverbände, Eigeninteresse der Politiker (in Regierung und Opposition), Wissenschaftler, Journalisten, soziale Netzwerke und selbst Stammtische.

Aufrufe und Gegenaufrufe zur Wirtschaftspolitik führen nur selten zu radikalen Änderungen in den Standpunkten aller Beteiligten. Ihr Hauptnutzen liegt darin, das Problembewusstsein zu schärfen. Der Vorzug wirtschaftspolitischer Aufrufe durch Wissenschaftler besteht darin, dass die meisten Unterzeichner keine persönlichen Interessen an der Fragestellung haben, was sie insbesondere von den Interessenverbänden und Politikern unterscheidet. Insofern sind Stellungnahmen durch (zumeist verbeamtete) Wissenschaftler vertrauenswürdiger als diejenigen anderer Akteure, und falls die Inhalte wissenschaftlich umstritten sind, lässt sich ein Gegenaufruf relativ leicht organisieren.

Die Forderung, Wissenschaftler mögen sich ausschließlich auf wissenschaftlich gesicherte Wenn-dann-Aussagen beschränken, gleicht einer Eintrittsbarriere in den Markt für die wirtschaftspolitische Willensbildung. Vielleicht wäre es ein lohnendes Unterfangen zu untersuchen, ob diejenigen, die einen solchen Rückzug fordern, nicht vor allem diejenigen Wissenschaftler sind, die von solchen Eintrittsbarrieren in besonderem Maß profitieren, da sie schon jetzt über eine ausgezeichnete Vernetzung im Geschäft der Politikberatung verfügen?

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