„Europäische“ Arbeitslosenversicherung
Ein trojanisches Pferd

„Brüssel dient den Mitgliedstaaten, nicht umgekehrt.“ (Mark Rutte)

Die Diskussion ist nicht neu. Seit der Euro-Krise wird intensiver über eine europäische Arbeitslosenversicherung diskutiert. Die EU-Kommission hat schon lange den Wunsch. Er war allerdings immer illusorisch. Die Nationalstaaten merkten die fiskalpolitische Absicht und waren verstimmt. Nun scheint es aber doch ernst zu werden. Emmanuel Macron macht Druck und Angela Merkel wankt, wie so oft. Die Konturen einer fiskalischen Reform der EWU nehmen Gestalt an. Mit einem gemeinsamen Haushalt für die Euro-Zone wird es wohl nichts. Auch ein europäischer Finanzminister hat keine Chance. Allerdings sind die Chancen, dass eine „europäische“ Arbeitslosenversicherung an den Start geht, nicht gleich Null. Der französische Finanzminister wirbt sehr dafür. Auch der deutsche Finanzminister hat sich dafür ausgesprochen. Beide plädieren für eine sogenannte „Rückversicherung“ im Falle großer Katastrophen auf den europäischen Arbeitsmärkten.

Varianten europäischer Arbeitslosenversicherungen

Zunächst gilt es, ein Missverständnis auszuräumen. In der Diskussion um den „Katastrophenfonds“ wird von einer europäischen Arbeitslosenversicherung gesprochen. Das ist nicht richtig. Neben den nationalen Arbeitslosenversicherungen soll keine europäische Arbeitslosenversicherung installiert werden. Die Vielfalt der nationalen Lösungen soll bestehen bleiben, vorerst. Vielmehr soll ein neuer Fördertopf für EU-Länder geschaffen werden, die mit ihrer maroden nationalen Arbeitslosenversicherung in eine finanzielle Schieflage geraten sind. Die Kieler Ökonomen Alfred Boss und Klaus Schrader sprechen von einem neuen permanenten „Bail out-Mechnismus“, der geschaffen werden soll, um Mitgliedsstaaten aus der eigenen Verantwortung für ihre Arbeitslosenversicherung zu entlassen (hier). Ein solches institutionelles Arrangement bleibt allerdings nicht ohne Rückwirkungen auf nationale Arbeitslosenversicherungen. Die Anreize der nationalen Politik, ihre eigenen arbeitsmarktpolitischen Institutionen auf Vordermann zu bringen, gehen zurück.

Es gibt sie aber auch, die Vorstellung einer  wirklichen „europäischen“ Arbeitslosenversicherung. Die EU-Kommission fordert sie seit langem. Sie soll die nationalen Arbeitslosenversicherungen ergänzen oder ersetzen. Wohin die Reise gehen soll, zeigt die Diskussion um eine „europäische“ Arbeitslosenversicherung oder eine „Rückversicherung“. Im Vordergrund steht der makroökonomische Wunsch, die Konjunktur zu stabilisieren. Das originäre Ziel einer Arbeitslosenversicherung ist ein anderes. Sie soll die individuellen Arbeitseinkommen zeitlich glätten. Einkommen soll intertemporal umgeschichtet werden, von Zeiten der Beschäftigung in Zeiten der Arbeitslosigkeit. Ein stabilerer Konjunkturverlauf ist ein möglicher positiver Nebeneffekt. Das kann aber nur gelingen, wenn die gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit nachfragebedingt ist. Eine gezielte staatliche Nachfragepolitik wäre allerdings das effizientere Instrument. Sollte die Geldpolitik wirkungslos sein, ist die Fiskalpolitik das Mittel der Wahl. Ist die Arbeitslosigkeit allerdings angebotsbedingt, lässt sie sich weder mit regelgebundener noch mit diskretionärer Fiskalpolitik korrigieren. Dann braucht es Strukturreformen.

National oder europäisch?

Alle Mitgliedsländer der E(W)U haben nationale Arbeitslosenversicherungen. Weiße Flecken in der Arbeitsmarktpolitik existieren nicht. Wohl gibt es aber Unterschiede in der Großzügigkeit („fordern und fördern“). Die spannende Frage ist, ob der Kampf gegen konjunkturelle Arbeitslosigkeit besser auf europäischer Ebene als auf nationaler geführt werden kann. Das ist allenfalls der Fall, wenn die Konjunktur in der E(W)U asymmetrisch verläuft. Dann ist ein effizienterer Risikoausgleich in der Arbeitslosenversicherung auf europäischer Ebene denkbar. Verlaufen nationale Konjunkturen weitgehend synchron, bringt eine europäische Arbeitslosenversicherung nichts. Alle sitzen gleichzeitig in der fiskalischen Tinte. Ein Risikoausgleich findet nur noch in dem Maße statt, wie sich die Konjunkturverläufe in der Intensität unterscheiden. Schon heute haben wir in der EU einen weitgehenden Gleichlauf der Konjunkturen. Die wachsende Integration in Europa spricht eher dafür, dass sich die nationalen Konjunkturverläufe einander noch stärker annähern.

Konjunktur ist das eine, Struktur ist das andere. In der Vergangenheit haben in Europa strukturelle Faktoren, konjunkturelle eindeutig dominiert. Inter- und intra-sektoraler Strukturwandel trieben die wirtschaftliche Entwicklung, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. In einer solchen Welt ist die expansive Nachfragepolitik denkbar schlecht geeignet, wirtschaftliche Fehlentwicklungen zu korrigieren. Notwendig sind umfassende Strukturreformen auf Güter- und Faktormärkten. Das gilt auch für die EU. Die Aufgabe der Arbeitslosenversicherung ist es weniger, zusätzliche Kaufkraft zu schaffen. Vielmehr müssen die Arbeitslosen für die neuen Aufgaben qualifiziert werden. Nur neues, marktverwertbares Humankapital macht sie fit für eine reguläre Beschäftigung. Das gelingt allerdings nur, wenn die Risiken und Nebenwirkungen der Arbeitslosenversicherung („moral hazard“) minimiert werden. Einer europäischen Arbeitslosenversicherung bedarf es dazu allerdings nicht. Es reicht, die nationalen auf Vordermann zu bringen.

Moral hazard

Die Achillesferse von Arbeitslosenversicherungen ist „moral hazard“ in allen Varianten, individuell, extern und kollektiv (hier). Nur wenn die Budgetrestriktionen von Arbeitnehmern, Unternehmen und Tarifpartnern hart sind, lassen sich die Risiken und Nebenwirkungen in Grenzen halten. Das ist auf nationaler Ebene leichter möglich. In der E(W)U haben die Bürger dagegen ganz unterschiedliche arbeitsmarktpolitische Vorstellungen. Die Arbeitslosenversicherungen unterscheiden sich in der Höhe der Leistungen, dem Dauer des Bezugs und den Kriterien der Zumutbarkeit. Sind Arbeitslosenversicherungen großzügiger, sind sie meist auch teurer. Das ist kein großes Problem, wenn Handlung mit Haftung korrespondiert. Allerdings ist es schon auf nationaler Ebene schwierig, beide in Einklang zu bringen. Mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung ist die Gefahr ungleich größer, dass die Verantwortung zwischen nationaler und europäischer Ebene verwischt wird. Die Lasten lassen sich leichter auf Dritte abwälzen, „moral hazard“ blüht.

Es ist kein Zufall, dass die Länder der E(W)U auf unterschiedliche soziale Sicherheitsarchitekturen setzen. Alle wollen die Einkommen der Arbeitnehmer über die Zeiten von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit hinweg glätten, allerdings mit unterschiedlichen Mitteln. Die einen, wie die skandinavischen Länder, setzen mehr auf die Arbeitslosenversicherung, andere, wie die mediterranen, mehr auf den gesetzlichen Kündigungsschutz. Bessere Ergebnisse am Arbeitsmarkt haben die mit weniger Kündigungsschutz und großzügigeren Arbeitslosenversicherungen. Aber auch die Länder, die stärker auf die kurative Arbeitslosenversicherung und weniger auf den präventiven Kündigungsschutz setzen, lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Sie entscheiden sich für unterschiedliche institutionelle Arrangements. Erweist sich ein Arrangement, wie etwa die „Flexicurity“, anderen überlegen, findet es Nachahmer. Eine europäische Arbeitslosenversicherung verhindert das Lernen von den Besten. Das ist ein gravierender Nachteil.

Trojanisches Pferd

Viel Positives, ökonomisch und politisch, lässt sich über eine europäische Arbeitslosenversicherung nicht sagen. Es spricht deshalb vieles dafür, dass es den Verfechtern dieser Idee um etwas anderes geht. Eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung in der E(W)U ist ein fiskalisches trojanisches Pferd. Es soll als Einstieg durch die Hintertür in eine gemeinsame Fiskalpolitik in der E(W)U genutzt werden, da der offene Weg gegenwärtig versperrt ist. Die Fiskalpolitik ist nach den Verträgen von Maastricht aus guten Gründen noch immer Ländersache, auch wenn Fiskalregeln sie an die Kandare nehmen sollen. Das ist vor allem der EU-Kommission schon lange ein Dorn im Auge. Sie schielt immer wieder nach dem Schlüssel zur Kasse in Europa. Das Problem ist nur, wer eine europäische Fiskalpolitik will, muss die Verträge ändern. Gegenwärtig ist das politisch völlig undenkbar. Für eine europäische Arbeitslosenversicherung braucht es dagegen keine Vertragsänderung. Eine Mehrheit im Europäischen Rat reicht.

Allerdings ist auch dieser Weg steinig. Es ist politisch undenkbar, eine echte gemeinsame Arbeitslosenversicherung zu installieren. Dem stehen die heterogenen nationalen Arbeitslosenversicherungen entgegen. Leistungen, Finanzierung und Zugangsvoraussetzungen unterscheiden sich, teilweise erheblich. Es wäre eine Herkulesaufgabe sie aufeinander abzustimmen. In Frage kommt deshalb nur eine „Rückversicherung“, ein europäischer „Katastrophenfonds“ für Länder mit einer maroden Arbeitslosenversicherung. Dabei geht es allerdings nicht mehr um asymmetrische Schocks, asymmetrische Trends dominieren. Ein permanenter Transfer von Mitteln in eine Richtung ist faktisch unvermeidbar. Das stößt auf den Widerstand der Zahlerländer. Die „Nordische Allianz“ der kleineren Länder der EU unter niederländischer Führung hat schon mal klargemacht, dass sie einen faktischen Finanzausgleich über die Hintertür einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung in der EU strikt ablehnt. Ob sich die südlichen (Empfänger)Länder bei der Rückversicherungslösung durchsetzen werden, ist also höchst ungewiss.

Fazit

Es spricht nicht viel für eine europäische Arbeitslosenversicherung, weder ökonomisch noch politisch. Dagegen sprechen national unterschiedliche soziale Präferenzen, unterschiedliche institutionelle Arrangements in der länderspezifischen sozialen Sicherheitsarchitektur und die Verwischung von Verantwortung bei mehrerer Ebenen. Wachsende Heterogenität und noch mehr Zentralisierung passen schlecht zueinander. Mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung wächst die Gefahr, dass ein ständiger europäischer Finanzausgleich durch die Hintertür installiert wird. Das wäre ein weiterer Schritt in eine Transferunion. Viel wichtiger sind Reformen der alles andere als effizienten nationalen Arbeitslosenversicherungen. Da liegt vieles im Argen. Das gilt sowohl für die passive als auch für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Es trifft aber auch für den Kündigungsschutz zu. Bei solchen nationalen Reformen kann man viel von anderen in Europa lernen, die es besser machen. Das gilt auch für die Reform der nationalen Arbeitslosenversicherungen.

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