Gastbeitrag
70 Jahre Grundgesetz

In Deutschland ist das Grundgesetz der Langzeitsieger unter den deutschen Verfassungen. Es trat 23. Mai 1949 in Kraft, und gilt bis heute, also volle 70 Jahre lang. Die Popularität des Grundgesetzes ist ungebrochen. Das Grundgesetz  definiert die Bundesrepublik Deutschland. Deutschland definiert sich aus dem Grundgesetz. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Deutschen auf eine andere Verfassung  als auf das Grundgesetz einigen würden. Der Vorgänger des Grundgesetzes war die Weimarer Reichsverfassung. Sie überlebte nur 14 Jahre, vom 31. Juli 1919,  bis zum 23. März  1933. Die Bismarcksche Reichsverfassung dauerte von 1871 bis 1919 und hielt  bisher den  Rekord von 48 Jahren Aber sie wird von den 70 Jahren des Grundgesetzes um fast das Doppelte übertroffen.

Auch die Institutionen des Grundgesetzes, Regierung, Parlament und Gerichte haben lückenlos 70 Jahre gehalten. Die meisten Artikel des Grundgesetzes sind revidierbar. Nur die Artikel 1 und 20 sind nicht revidierbar Art. 1 bindet die Bundesrepublik an die Grundrechte. Art. 20 legt die Regierungsform fest. Deutschland  soll eine Demokratie in einem Bundesstaat sein. Alle Staatsgewalt soll vom Volke ausgehen. Sie wird vom Volke in „Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt.

Das Grundgesetz zielt also nicht nur auf Volksentscheidungen über Personen in Wahlen, sondern auch auf direktdemokratische  Abstimmungen in Sachfragen. Die Bürgerinnen und Bürger sollen gegenüber ihrer Verfassung Verantwortung tragen und daher über deren Artikel abstimmen. Zu Volksabstimmungen auf Bundesebene wäre es im Jahr 2002 fast gekommen. Obwohl damals im Bundestag eine Mehrheit der Abgeordneten für die Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene votierte, wurde dort die erforderliche Zweidrittelmehrheit aufgrund der Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion verfehlt.

Es  ist nicht absehbar, dass sich in nächster Zeit eine Zweidrittelmehrheit beider Kammern des Parlaments für die direkte Demokratie aussprechrechen wird. Daher bleibt die Bundesrepublik Deutschland bis auf weiteres eine rein repräsentative Demokratie.

Bürgerinnen und Bürgern, die einen Vorschlag in die Politik einbringen wollen, steht die Petition offen. Doch Petitionen sind für die Volksvertreter politisch unverbindlich.

Dessen ungeachtet lässt sich fragen: Wie sähe die deutsche Beschlussfassung aus, wenn Deutschland eine direkte Demokratie hätte. Im Vergleich lässt sich danach die Schweiz betrachten, in der die direkte Demokratie über Sachfragen praktiziert wird, und fragen wie sähe im Vergleich die schweizerische Demokratie aus, wenn es in der Schweiz keine direkte Demokratie gäbe.

Meist wird kritisiert,  die direkte Demokratie führe zu vorschnellen Entscheidungen, die im Nachhinein bereut werden. Das sei in einer rein parlamentarischen Demokratie nicht der Fall, weil die Abgeordneten mehr Zeit hätten, sich ihre Entscheidungen zu überlegen. Die Entscheidungen seien  daher in einer rein repräsentativen Demokratie besser durchdacht. Die Erfahrung stützt diese Hypothese kaum. Die Wirklichkeit weist eher auf das Gegenteil hin. Von den 583 eidgenössischen Abstimmungsvorlagen, die den Bürgerinnen und Bürgern seit 1848 vorgelegt wurden, wurden mehr als die Hälfte, nämlich 305 von den Wählern abgelehnt. Die direkte Demokratie führte also anders als behauptet wird, nicht zu vorschnellen, sondern eher zu verzögerten Beschlüssen. Noch deutlicher kommt dies bei den Volksinitiativen zum Ausdruck, bei denen sich die Initianten am Parlament vorbei direkt an die abstimmendenden Bürgerinnen und Bürger wenden.

Von den zweihundert Volksinitiativen, die in der Schweiz zwischen von 1891 bis zum Jahr 2010 zustande kamen, wurden nur 18 also nur 9% angenommen. Die meisten Volksinitiativen sind an der Urne  gescheitert. Die Gefahr vorschneller Entscheidungen trifft also eher nicht zu und kann daher zurückgestellt werden.

In Deutschland werden Volksabstimmungen vielfach mit dem Argument abgelehnt, sie hätten sich  in der Weimarer Republik nicht bewährt, ja. sie hätten zum Zusammenbruch der Weimarer Republik beigetragen.

Von den acht in der Weimarer Republik  angestrengten Volksbegehren kamen nur zwei tatsächlich zur Abstimmung: die Fürstenenteignung und der Young Plan. In der Fürstenenteignung sollten die ehemaligen Landesfürsten den über die Jahrhunderte angehäuften Staatsbesitz entschädigungslos an die Bürger verteilen. Von den 15 Millionen abgegebenen  Stimmen lehnten nur 3 % die Vorlage ab. 97 % sprachen sich für die Fürstenenteignung aus. Aber das half nichts. Denn die Stimmbeteiligung lag bei nur 30,2%, also weit entfernt von den im Abstimmungsgesetz geforderten 50%.  Das Scheitern der Fürstenenteignung lag daher nicht an der Weimarer Republik, sondern an der Gesetzgebung über die Volksabstimmungen.

Nach dem so genannten Young-Plan sollten die Reichsbahn und die Reichspost die Reparationszahlungen garantieren, welche Deutschland an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs bezahlen musste. Die Anleihe sollte bis 1988 zurückbezahlt werden. Die Gegner des Young-Planes betrachteten eine so langfristige Schuld als untragbar. Das gegen den Young Plan ergriffene Referendum scheiterte, weil nur 13,5 % der Stimmberechtigten zur Abstimmung gingen.

Aus den Volksabstimmungen lässt sich nicht schließen, dass die Weimarer Republik an der direkten Demokratie gescheitert ist. Die damaligen Volksbegehren waren so geregelt, dass sie gar nicht erfolgreich sein konnten. Am folgenreichsten war die Stimmbeteiligungslimite von 50%. Mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten mussten an der Abstimmung teilnehmen, damit diese gültig war.

Doch letztlich gescheitert ist die Weimarer Republik an der parlamentarischen Demokratie, nämlich an der  Annahme des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 durch den Deutschen Reichstag.

In der späteren Bundesrepublik wurden Volksabstimmungen mit den politischen Spannungen des Kalten Krieges  abgelehnt. „Kein Volksentscheid im Kalten Krieg“ hieß es. Es sei  besser, auf die direkte Demokratie vorläufig zu verzichten, um den Gegner nicht zu provozieren. Das deutsche Volk müsse erst in eine Quarantäne gehen und Volksentscheide zurückstellen. Diese These ist für die Zeit nach 1949 vertretbar. Aber im Mai  1949 war das Grundgesetz schon beschlossen. Das Argument vom kalten Krieg passt also nicht in die davor liegende Zeit der Beratungen des Grundgesetzes. Damals war vom Kalten Krieg noch nicht die Rede.

Lediglich mutmaßen lässt sich, wie konkrete  Beschlüsse in der Schweiz im Falle einer rein parlamentarischen  Demokratie und in Deutschland im Falle direkter Demokratie ausgefallen wären.

Vermutlich wäre die Schweiz  bei rein parlamentarischer Demokratie Mitglied der Nato. Sie hätte auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene  eingeführt. Ebenso wäre die Schweiz im Falle einer rein parlamentarischen Demokratie vermutlich Mitglied der Europäischen Union und des Euro geworden.

Die Schweiz muss allerdings infolge ihrer Volksabstimmungen weniger Unzufriedenheit politisch-frustrierter Bürger aushalten. Eine Volksabstimmung gewährt Legitimität. Entscheidungen der Stimmbürger werden zwar kritisiert, aber in der Regel eher hingenommen, wenn alle Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Möglichkeit haben sich durch ihre Stimme zu beteiligen als wenn politische Entscheidungen ausschließlich im Parlament  gefällt werden.

Literatur:

O. Jung Zur Revision der Weimarer Erfahrung mit der Volksgesetztzgebung. Jb. für Politik 1995 (67ff.);

G. Kirchgässner, L.P. Feld, M.Savioz: Direkte Demokratie,  Basel, München (Helbing, Vahlen) 1999.

Hinweis: Der Beitrag erscheint in abgeänderter Form in der Fachzeitschrift WiSt, H. 6 (2019)

Blog-Beitrag zum Thema:

Renate Ohr: Gehört die Wirtschaftsordnung in die Verfassung?

Charles B. Blankart
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