… und damit sollen Kinder zu kleinen Kapitalisten erzogen werden?
Ein Blick in Baden-Württembergs neue Wirtschaftsschulbücher

Die Sorgen waren groß bei den Kritikern des neuen Schulfachs „Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung“ (WBS), welches das Land Baden-Württemberg mit dem „Bildungsplan 2016“ an allen allgemeinbildenden Schulen eingeführt hat. Die Ökonomie gehöre in der Schule eingebettet in die anderen Sozialwissenschaften, damit sie die Schülerinnen und Schüler nicht einseitig in die Richtung eines zu wirtschaftlichen, gar kapitalistischen Denkens beeinflusse. Dass sich junge Menschen durchaus „viel“ Wirtschaftswissen wünschen, um in zunehmend komplexeren ökonomischen Lebenswelten bestehen zu können, spielte dabei in den Debatten selten eine Rolle. Heute ist das Schulfach in Baden-Württemberg etabliert und wird nur noch selten in Frage gestellt. Ein Blick in die aktuellen Schulbücher im Fach WBS zeigt, warum.

Auf dem Höhepunkt der Debatte um die Frage, ob und wie viel Wirtschaft in der Schule behandelt werden solle, machte eine Schülerin namens Naina auf Twitter eine einfache Feststellung, die bis heute nachklingt: sie, Naina, könne zwar eine Gedichtanalyse in vier Sprachen schreiben, habe aber keine Ahnung von Steuern und Versicherungen. Tatsächlich zeigen zahlreiche Studien, dass es um die so genannte „financial literacy“ selbst in den am weitesten fortgeschrittenen Volkswirtschaften dieser Welt nicht gut bestellt ist. Zugleich nimmt die Notwendigkeit zu, sich in ökonomisch geprägten Lebenssituationen angemessen verhalten zu können, da es immer mehr solcher Lebenssituationen gibt. Man mag dies beklagen, aber es handelt sich um ein Faktum, an dem der Einzelne wenig ändern kann. Enthielte man den jungen Menschen entsprechendes Wissen vor, wäre dies fahrlässig.

Zugleich ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Schulfach Wirtschaft durchaus Anlass für verzerrte Darstellungsweisen geben kann. Die finanziell meist nicht allzu gut ausgestatteten Schulen könnten dankbar auf von Unternehmen gesponserte und nicht uneigennützige Hochglanzmaterialien zurückgreifen; und manche Betriebsbesichtigung könnte zu einer Werbe- und/oder Rekrutierungsveranstaltung ausarten. Gleichzeitig könnte aber auch ein in kritischer Theorie sozialisierter Gemeinschaftskundelehrer, der von jetzt auf gleich zum Wirtschaftslehrer umschulen musste, seine Klasse von der Schlechtigkeit des Kapitalismus überzeugen wollen. Eine wirkliche Gefahr ist beides nicht, denn die Schülerinnen und Schüler der betroffenen Jahrgangsstufen 7 bis 10 bringen zumeist eine gesunde Grundskepsis gegenüber derartigen Versuchen der Beeinflussung mit.

Hinzu kommen institutionelle Hürden wie der „Code of Conduct“, den sich die relevanten gesellschaftlichen Gruppen in Baden-Württemberg gegeben haben. Er besagt, dass Materialien von Drittanbietern und – in einem weiteren Sinne – die Inhalte des Fachs WBS den Prinzipien des „Beutelsbacher Konsenses“ unterliegen müssen, der für das ähnlich ideologieanfällige Schulfach Politik entwickelt worden ist. Neben der Schülerorientierung sind seine zentralen Bausteine das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot. Sie sorgen dafür, dass gesellschaftliche Debatten über wirtschaftliche Fragen – kontrovers – in den Schulunterricht einfließen, weil eine einseitige – die Schülerinnen und Schüler überwältigende – Darstellung durch das Material, letztlich aber auch durch die einzelnen Lehrkräfte, nicht zulässig ist.

Der Bildungsplan und damit die Schulbücher der großen Schulbuchverlage (Klett, Westermann, Cornelsen, C.C. Buchner) versuchen, an dieser Stelle mit gutem Beispiel voranzugehen. Vermutlich wird dabei dem Kapitalismuskritiker immer noch zu viel über die Marktwirtschaft geredet und dem Wirtschaftsliberalen zu viel über den Staat bzw. zu wenig über die Vorteile des Wettbewerbs, aber die Mischung ist über alle offiziell zugelassenen Schulbücher hinweg ausreichend ausgewogen, um Ideologievorwürfe ins Leere laufen zu lassen.

Inhaltlich folgen die Schulbücher unmittelbar den Vorgaben des Bildungsplans. Alle vorgegebenen Themen, Methoden und Kompetenzen werden aufgegriffen und abgehandelt. Eine inhaltliche Kritik an den Schulbüchern fällt damit letztlich immer auf den Bildungsplan zurück. Dennoch ist die konkrete Umsetzung in den Schulbüchern unterschiedlich und das eine Schulbuch erscheint gelungener als das andere. Weil dies aber im Auge des Betrachters liegt, dürfte die Auswahl des passenden Schulbuchs für die Wirtschaftsfachschaften an den Schulen keine leichte Aufgabe sein. Unterschiede bestehen im Niveau und der Ausführlichkeit der Inhalte ebenso wie in der methodisch-didaktischen Umsetzung. Durchaus unterschiedlich ist auch die Gewichtung zwischen praktischen Anwendungen à la „mein erster Handy-Vertrag“ und eher abstrakten Thematiken wie dem Angebots-Nachfrage-Diagramm.

Die Schülerorientierung wird in allen Büchern deutlich, weshalb den Schülerinnen und Schülern entsprechend dem Bildungsplan drei zentrale Lebenssituationen nähergebracht werden, die sie früher oder später selbst erleben werden. Die jungen Menschen sollen sich in die Rolle als Verbraucher, Erwerbstätige (unterteilt in Berufswähler, Arbeitsnehmer und Unternehmer) und Wirtschaftsbürger hineinversetzen. In der Verbraucherrolle werden die Grundprinzipien des Wirtschaftens bzw. Haushaltens mit ganz lebenspraktischen Dingen konfrontiert wie der Frage, welcher Käufertyp man ist, wie Werbung beeinflusst, wie man sich einigermaßen objektiv informieren kann oder wie nachhaltiger Konsum aussieht; auch Zahlungsmethoden, die Ausgestaltung von Kaufverträgen und die Rechte als Käufer werden behandelt. Lauter Dinge, die sich Naina in ihrer Schulzeit gewünscht hätte. Darüber hinaus wird aber auch ganz grundsätzlich das Funktionieren von Märkten im Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage behandelt – die wirtschaftsdidaktische Forschung hat hier eine Lernhürde identifiziert, die es zu überwinden gilt.

Hinsichtlich der Rolle der Schülerinnen und Schüler als Erwerbstätige greifen Bildungsplan und Schulbücher die so genannte „Leitperspektive Berufliche Orientierung“ des Bildungsplans auf. Sie gilt eigentlich fächerübergreifend, d.h. jedes Schulfach kann und soll prinzipiell zur beruflichen Orientierung beitragen. Verankert wird diese Leitperspektive schwerpunktmäßig im Schulfach Wirtschaft, das deshalb mit dem Zusatz „Berufs- und Studienorientierung“ versehen wurde. Diese Ergänzung hat einige Kritik hervorgerufen und es ist tatsächlich zu fragen, wie sinnvoll sie ist. In den Schulbüchern für den Unterricht an Gymnasien (und dort vor allem in den Klassen 8 und/oder 9) scheint man jedenfalls nicht so richtig zu wissen, wie man mit der Thematik umgehen soll, wenn selbst in einem ansonsten gelungenen Schulbuch klischeehaft Berufsfelder mit Schlagworten wie „Andrej K. und die Werkstoffe“ und „Anna G. und die Lebensmittel“ vorgestellt werden, als ob dies zur Berufsorientierung in einer sich permanent wandelnden Berufswelt (die übrigens an anderen Stellen durchaus thematisiert wird) beitragen würde. Da wirkt ein Abschnitt „Worauf kommt es im Betriebspraktikum an?“ schon passender, auch wenn dieses Thema eher eine allgemeine denn eine spezifische Kompetenz für das Fach Wirtschaft darstellt.

Die ebenfalls immer wieder kritisierte Berücksichtigung des Unternehmertums und der Selbständigkeit im Bildungsplan sollte hinsichtlich ihrer prägenden Wirkung, Schüler möglicherweise zu Kapitalisten zu machen, nicht überbewertet werden. Die Schulbücher befinden sich hier ganz in der Mitte der Gesellschaft, die diesen Dingen überwiegend skeptisch gegenübersteht. Die Selbständigkeit wird vor allem von ihrem potenziellen Scheitern aus gedacht: am Ende steht stets die mögliche Insolvenz. Empirisch ist diese Gefahr zwar real, aber Unternehmertum ohne Wagemut hat noch nie zum Erfolg geführt. Lust auf eine Unternehmensgründung entsteht jedenfalls nicht, wenn die Möglichkeit der eigenen Pleite hinter jeder Seite eines Schulbuchs hervorlugt. Es fehlt eigentlich nur noch der Hinweis, dass ein gescheiterter Unternehmensgründer in Deutschland für immer als Verlierer gebrandmarkt ist. Kapitalismusgefahr, das sei den Kritikern des Fachs versichert, kommt hier nicht auf.

Bleiben schließlich die Kapitel zur Rolle junger Menschen als zukünftige Wirtschaftsbürger. Sie sind in erster Linie eine Einführung in die Soziale Marktwirtschaft. Hier unterscheiden sich die Schulbücher inhaltlich am deutlichsten. Während einige Bücher eher grundlegende Konzepte vorstellen, schreiben andere das Kontroversitätsgebot groß und diskutieren alles, was in den letzten Jahren umstritten war: Energiewende, Mindestlohn, Mieten, Erbschaftsteuer, Gender Pay Gap, Sharing Economy, Postwachstumsgesellschaft und vieles mehr. Präsentiert wird dies oft in kurzen Textausschnitten unterschiedlicher Couleur, die aber nicht immer alle Sichtweisen hinreichend berücksichtigen und häufig den Problemaufriss mit zu wenig Handreichung bezüglich der Analysetechniken verbinden. Vor allem für die Lehrkräfte dürfte dies eine Herausforderung darstellen. Weniger wäre hier in manchem Schulbuch mehr gewesen.

Die Abschnitte über den internationalen Handel, die den Gegensatz von Freihandel und Protektionismus in ihren Mittelpunkt stellen, sind angesichts der neuesten Entwicklungen im Handelskonflikt zwischen den USA und China bzw. Europa bereits veraltet. Geradezu rührend wirkt es, wenn ein TTIP-kritischer Artikel von Rudolf Hickel und Jens Berger abgedruckt wird, derweil sich im Exportland Deutschland längst herumgesprochen hat, dass ein derartiges europäisches Handelsabkommen mit den USA für die deutsche Wirtschaft vermutlich besser gewesen wäre als die aktuelle Unsicherheit durch mögliche amerikanische Strafzölle. Dass das durchaus komplexe Thema TTIP ohne jegliche weitere Einordnung derart einseitig dargestellt wird, dürfte dabei dem Kontroversitätsgebot kaum gerecht werden. Eine bessere Herangehensweise wäre eine historische Kontextualisierung mit mehr konzeptionellem Input gewesen, immerhin wird die Debatte „Freihandel vs. Protektionismus“ bereits seit Jahrhunderten geführt. Auch hier wird den Lehrkräften einiges zugemutet, denn Schulbücher mit zu aktuellen Bezügen veralten schnell (ohne schnell ersetzt werden zu können). Dies macht es nötig, die eigenen Lehrmaterialien permanent anzupassen. Umso wichtiger ist eine fundierte Ausbildung der Lehrkräfte an den Hochschulen (wie an anderer Stelle auf diesem Blog schon dargelegt), damit sie sich stets den neuesten Stand der Debatten selbständig erschließen und ihn dann vermitteln können.

Bei aller Kritik im Detail bleibt aber festzuhalten, dass die neuen Schulbücher für das Schulfach WBS ausgewogen, interessant und lehrreich sind. Natürlich werden fünf Jahresstunden Wirtschaftsunterricht verteilt über die gesamte Mittelstufe die jungen Menschen nicht für alle Herausforderungen ökonomisch geprägter Lebenssituationen vorbereiten und ihre „financial literacy“ in die Höhe katapultieren können. Dennoch darf ein langfristig positiver Effekt erwartet werden, weil erstmals überhaupt eine breite, ausgewogene und in der Regel auch kritische Perspektive auf wirtschaftliches Denken und Handeln ermöglicht wird. Dabei ist vor allem wichtig, dass eine neue Generation von Wirtschaftsbürgern heranwächst, die sich – das ist die schlechte Nachricht für die Ideologen auf beiden Seiten – von niemandem mehr wird erzählen lassen, was es mit „der Wirtschaft“ auf sich hat, weil sie Zusammenhänge nun selbst deutlich besser versteht. Kleine Kapitalisten werden dabei nicht entstehen, auch keine Kapitalismusfeinde, wohl aber mündige Bürger.

Beiträge zum Thema:

Franziska Birke und Tim Krieger: Wirtschaft in der Schule. Wie eine gute Lehrerausbildung aussehen sollte

Eine Antwort auf „… und damit sollen Kinder zu kleinen Kapitalisten erzogen werden?
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