Gut gemeint genügt nicht

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Am 6. Mai 1795, in Zeiten grosser Not, betraten die Friedensrichter im südenglischen Speenhamland bei Newbury sozialpolitisches Neuland. Sie beschlossen, dass der armen Landbevölkerung, unabhängig ihrer Einkünfte, ein Minimaleinkommen garantiert werden sollte. Diese an den Brotpreis gekoppelte Armenhilfe wurde – obwohl nie gesetzlich festgelegt – in mehreren Grafschaften übernommen und als Speenhamland-Gesetz bekannt. Das „Recht auf Lebensunterhalt“ sollte schon bald Wirkung zeigen, allerdings kaum wie beabsichtigt. Die Armenhilfe wurde zu einer indirekten Subvention der Grundbesitzer. Diese konnten zu niedrigsten Löhnen Arbeiter einstellen, welche ihrerseits kein Interesse daran hatten, ihre Arbeitgeber zufriedenzustellen. Während Löhne und Produktivität immer tiefer sanken, fanden sich weite Teile der Landbevölkerung in der Abhängigkeit wieder. Die Ursachen und Folgen des Speenhamland-Systems entfachten kontroverse Debatten um öffentliche Hilfeleistungen und beeinflussten das Denken der klassischen Nationalökonomen nachhaltig.

In der Schweiz möchte der Bundesrat auch Gutes tun und mit den «Überbrückungsleistungen» sozialpolitisches Neuland betreten. Diese Rente soll über 60-jährigen Personen zur Verfügung stehen, deren Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung erloschen ist und damit ausgesteuert werden. Der Handlungsbedarf leitet sich gemäss erläuterndem Bericht aus der Personenfreizügigkeit mit der EU ab. Sie setze die inländischen Arbeitskräfte unter Konkurrenzdruck, was für den Schweizer Arbeitsmarkt zur Herausforderungen werden könne. Bemerkenswert ist dabei zunächst, dass die objektiven Daten zur Entwicklung der Erwerbsquote, der Arbeitslosenquote oder der Sozialhilfequote älterer Arbeitskräfte die Einführung einer Überbrückungsrente nicht nahelegen würde. Im internationalen und im historischen Vergleich erweisen sich die Bedingungen für ältere Arbeitnehmer auf dem Schweizer Arbeitsmarkt als bemerkenswert günstig. Trotzdem gehört es natürlich zum Kern verantwortungsvoller Politik, dass eine Regierung zukünftige Herausforderungen adressieren will. Erweist sich also die Überbrückungsrente im Sinne von «Gouverner c’est prévoir» als sinnvolle Massnahme?

Die Leistungsausweitung der «Überbrückungsleistungen» wirkt analytisch insbesondere über zwei Kanäle auf den Schweizer Arbeitsmarkt: die höhere Ersatzquote (Leistungshöhe) und die längere Bezugsdauer. Je höher die Leistungen, desto höher der individuelle Reservationslohn für den Eintritt in den Arbeitsmarkt. Damit steigen die Anreize, die Stellensuche zeitlich auszudehnen – die Dauer der Arbeitslosigkeit nimmt zu. Das ist nicht nur graue Theorie: Empirische Analysen zur 3. ALV-Revision zeigen, dass Anpassungen im Rahmen der Reform dazu führten, dass sich die Ersatzquote für Individuen mit versicherten Einkommen zwischen 3536 und 4340 Franken um bis zu 5,9 Prozentpunkte erhöhte. Gemäss der Studie erhöhte sich dadurch die Dauer der Arbeitslosigkeit betroffener Personen um rund eine Woche. Weder die Wahrscheinlichkeit, nach Ende der Arbeitslosigkeit einer Arbeit nachzugehen, noch die Einkommen wurden durch die Änderung positiv beeinflusst. Ähnliches muss auch von der längeren Bezugsdauer durch die Überbrückungsleistungen erwartet werden.

Eine andere Studie zur 3. ALV-Revision untersuchte die 2003 eingeführte Kürzung der maximalen Bezugsdauer von 24 auf 18 Monate für Arbeitslose unter 55 Jahren. Die Reform erhöhte die Erwerbsbeteiligung der Betroffenen langfristig um rund drei Prozentpunkte. Im Vergleich zu Personen, die von der Reform nicht betroffen waren, führte die kürzere Bezugsdauer zu persistent höheren Einkommen von monatlich rund 200 Franken. Die Autoren stellen fest, dass der negative Effekt eines tieferen Reservationslohnes durch positive Effekte einer reduzierten maximalen Bezugsdauer mehr als wettgemacht werden: Die Abwertung des Humankapitals werde gebremst und die Stigmatisierung von Langzeitarbeitslosigkeit abgebaut. Die gemessenen mittelfristigen Vorteile einer kürzeren Bezugsdauer sind bei Arbeitslosen, die in forschungs- und entwicklungsintensiven Sektoren tätig waren, besonders stark.

Die negativen Effekte einer Arbeitslosigkeit auf Humankapital und Stigma dürften gerade auch bei älteren Arbeitslosen eine wichtige Rolle spielen. Die ALV sieht daher bereits für ältere Arbeitslose eine längere Bezugsdauer von zwei Jahren vor. Wer in den letzten vier Jahren vor Erreichen des ordentlichen Rentenalters arbeitslos wird, hat zusätzlich Anspruch auf weitere sechs Monate Taggelder. Die verlängerte Bezugsdauer macht insofern Sinn, als dass ältere Arbeitslose oft schwerer vermittelbar sind. Arbeitslose können so selektiver auf die optimale Stelle warten. Allerdings setzt sie für Arbeitgeber und Arbeitnehmende Anreize, die ALV als Überbrückung der Zeit bis zur Rente in Anspruch zu nehmen.

Was sagt die internationale Forschungsliteratur dazu? Eingehend untersucht wurde eine Reform der österreichischen Arbeitslosenversicherung, die ähnlich zum Vorschlag des Bundesrats für ältere Personen die maximale Bezugsdauer erhöhte. Der Lausanner Ökonom Rafael Lalive zeigt die eindrücklichen Effekte der Ausweitung der maximalen Bezugsdauer für Arbeitslose über 50 Jahre von 30 auf 209 Wochen auf: Als Folge stieg die Dauer der Arbeitslosigkeit betroffener Männer um rund 14,8 Wochen, jene der Frauen um rund 74,8 Wochen. Anders ausgedrückt: Für jede weitere Woche möglicher Arbeitslosenleistungen steigt die Dauer der Arbeitssuche um 0,09 Wochen (Männer) bzw. 0,32 Wochen (Frauen). Die grosse Differenz zwischen den Geschlechtern dürfte auf das unterschiedliche frühestmögliche Rentenalter zurückzuführen sein. Jenes betrug 54 Jahre (Frauen) bzw. 59 Jahre (Männer). Für ältere Frauen stellten die Leistungen somit einen wichtigen Weg in die Frühpensionierung dar. Die verlängerte Bezugsdauer in Österreich scheint dabei die Qualität des Job-Matching nicht positiv beeinflusst zu haben (gemessen anhand des Einkommens und der Dauer des Beschäftigungsverhältnisses).

Das alles sind keine ermutigenden Befunde. Gut gemeint ist in diesem Fall offensichtlich der Feind des Guten. Wie kommt der Bundesrat trotzdem auf den Gedanken, eine Überbrückungsrente einführen zu wollen, wenn diese das Arbeitsangebot aller Voraussicht nach signifikant zu reduzieren droht? Wie kommt der Arbeitgeberverband dazu, eine solche Reform anzustossen in einer Zeit mit stark steigendem Altersquotient, so dass damit nicht nur das Arbeitsangebot noch stärker beschränkt würde, sondern auch die Lohnkosten für die Arbeitgeber ansteigen liesse und die Kosten für die Sozialversicherungen in die Höhe triebe?

Die Antwort liefert wiederum der erläuternde Bericht des Bundesrats. Man erachtet die Personenfreizügigkeit mit der EU als jenes Ventil, das den Unternehmen die Arbeitskräfte liefert und damit den Rückgang des Arbeitsangebots zu kompensieren vermag. Anders gewendet: wir bauen den Sozialstaat aus, damit ein Teil der einheimischen Arbeitskräfte neu mit Überbrückungsleistungen ihr Einkommen generieren kann und hoffen, diese Überbrückungsleistungen liessen sich durch die neu zugewanderten Arbeitskräfte finanzieren. Eine gewagte Wette. Das Risiko ist nämlich gross, dass die Übergangsrente ganz im Gegenteil schmerzliche Schäden an der Volkswirtschaft und insbesondere im Arbeitsmarkt verursacht. So wie die historischen Vorläufer bis zurück zum «Speenhamland-Gesetz», die nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch den Ausbau des Sozialstaats stärkten, sondern Zwist und Zwietracht sähten.

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