Die Volksparteien zerbröseln
Sind „linke“ und „rechte“ populistische Parteien nur Eintagsfliegen?

„Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 40 Jahren noch ist, hat keinen Verstand.“ (Georges Clemenceau)

Die europäische politische Landschaft ist in Bewegung. Ein Prozess der schöpferischen Zerstörung verursacht tektonische Verschiebungen. Linke und rechte Volksparteien von gestern verlieren dramatisch und rasant Anteile auf politischen Märkten. Viele von ihnen kämpfen heute ums nackte Überleben. Manche verschwinden sogar ganz von der politischen Bildfläche. Aus ihren politischen Trümmern entstehen an den Rändern neue Parteien, linke und rechte. Der Markteintritt ist um einiges leichter und wahrscheinlich nachhaltiger als in früheren Zeiten. Soziale Medien tragen mit ihrer Reichweite dazu bei, die Zutrittsbarrieren zu den politischen Märkten zu verringern. Die „alten“ Volksparteien überlassen diesen neuen Parteien ganze Marktsegmente. Vieles spricht deshalb dafür, dass sie keine parteipolitischen Eintagsfliegen sind. Sie kommen in die politische Arena, um zu bleiben. Meist agieren sie populistisch: Anti-marktwirtschaftlich, fremdenfeindlich und national-sozial. Damit treffen sie einen politischen Nerv. Die politische Stimmung ist pro (National)Staat und contra Markt, eher nativistisch als weltoffen, pro Umverteilung und contra Effizienz.

Zerbröseln „alte“ Volksparteien?

Die europäischen Volksparteien haben ihre Zukunft hinter sich. Sie befinden sich schon seit längerem im Abschwung. Die Wähler laufen ihnen in Scharen weg. Aber auch ein starker Verlust an Mitgliedern macht ihnen schwer zu schaffen.  Alte Parteimitglieder sterben, neue wachsen kaum nach. Die Mitglieder werden immer älter. Ihre „Zulieferorganisationen“ und „Deutungsagenturen“, Kirchen und Gewerkschaften, erodieren (hier). Vor allem aber, die Wähler haben das Vertrauen in die „alten“ Volksparteien verloren. In Italien verschwand die jahrzehntelang dominante Democrazia Cristiana (DC) innerhalb weniger Jahre von der politischen Bildfläche. Der Sozialistischen Partei (PS) in Frankreich erging es nicht besser. Sie führt heute ein politisches Schattendasein. In den Niederlanden wurde die Partei für die Arbeit (PvdA) in nur wenigen Jahren politisch bedeutungslos. Das alles gilt auch für Deutschland. Die beiden Volksparteien schaffen es gegenwärtig nicht einmal zusammen, eine Mehrheit der Wähler von ihrer Politik zu überzeugen.

Volksparteien („catch all parties“) vertreten möglichst viele Schichten der Gesellschaft, haben ein breites Programmangebot, spiegeln die Werte möglichst vieler sozialer Milieus wider, verfügen über eine breite Mitgliederbasis und weisen eine gewisse Größe auf. Die „alten“ Volksparteien kamen nicht von heute auf morgen in Schwierigkeiten. Dem ging ein längerer Prozess der Erosion voraus. Der wohl wichtigste Grund für den sich beschleunigenden Niedergang ist die wachsende Heterogenität der Präferenzen der Bürger. Mit steigendem Wohlstand differenzieren sich die Sozial- und Wertestruktur der Individuen stärker aus. Die Wähler unterscheiden sich stärker in ihren Einkommen, ihrem sozialen Status, ihren Konsumgewohnheiten, ihren Lebensstilen und vielem anderen mehr. Das alles macht die Gesellschaft differenzierter, wirtschaftlich, sozial und politisch heterogener. Auch die Volksparteien können immer weniger Wähler repräsentieren. Die Wähler fühlen sich nicht mehr allein von einer Partei vertreten. Das Parteiensystem splittert auf.

Diese tektonischen Verschiebungen in der politischen Landschaft sind unvermeidlich. Sie werden verstärkt durch schwächelnde „Zulieferer“ der beiden großen Volksparteien, Kirchen und Gewerkschaften. Mit steigendem Wohlstand schwindet die konfessionelle Bindekraft. Die Deutungskraft der Kirchen geht zurück. Der wirtschaftliche Strukturwandel bekommt den Gewerkschaften schlecht. Ihre Klientel, die Industriearbeiter, geht von der Fahne. Die „alten“ Volksparteien konzentrieren sich immer stärker auf die schrumpfende politische „Mitte“, die einen stärker auf die Wähler rechts davon, die anderen mehr auf die Wähler links davon. Kein Wunder, dass sich die Parteiprogramme der großen Volksparteien einander annähern. Konservative Parteien werden sozialdemokratischer, sozialistische werden bürgerlicher. Der Kampf um die Mitte macht immer mehr Wähler mit Präferenzen dieseits und jenseits der Mitte politisch heimatlos. In diese Lücke stoßen Parteien, deren Programme für die heterogeneren Wähler passgenauer sind.

Wachsen „populistische“ Parteien?

Die Fakten sind eindeutig: Fast überall in Europa werden die „linken“ und „rechten“ politischen Ränder breiter. Die Parteien an den Rändern gewinnen bei Wahlen dazu, „rechte“ allerdings stärker als „linke“. Und immer öfter sind sie auch an Regierungen beteiligt, kommunal, regional und national. Sind das alles populistische Parteien? Die politische Diskussion legt es nahe. Das ist allerdings nicht richtig. Eine Partei ist nicht schon populistisch, weil sie gegen das gesellschaftliche, politische und ökonomische Establishment kämpft. Der Kampf ist ein Zeichen von Wettbewerb auf politischen Märkten. Wer den Mächtigen misstraut und sie kritisiert ist noch kein Populist. Zum Populisten wird er nach herrschender Meinung allerdings dann, wenn er sich dem Antipluralismus verschreibt (hier). Die Diskussion um Populismus bleibt allerdings bizarr. Populismus ist in der öffentlichen Diskussion zum politischen Kampfbegriff verkommen. Viel wichtiger als die Frage, was Populismus ist, erscheint mir, dass die Parteien an den Rändern dreierlei gemeinsam haben: Sie sind anti-marktwirtschaftlich, fremdenfeindlich und national-sozial (hier).

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Der Aufstieg von Parteien an den „linken“ und „rechten“ Rändern ist die andere Seite der Medaille der Erosion der „alten“ Volksparteien. Die wachsende Heterogenität der Präferenzen der Wähler und der „Extremismus der Mitte“ (Philip Manow) setzen den langfristigen (partei)politischen Trend. Ein schnellerer Strukturwandel, wachsende Ungleichheit, steigende Migration und zunehmende Entnationalisierung sind die „konjunkturellen“ Treiber des Trends (hier). Der Prozess der schöpferischen Zerstörung des „doppelten“ Strukturwandels pflügt die Sektor- und Qualifikationsstrukturen um. Temporäre strukturelle Arbeitslosigkeit und wachsende Marktungleichheit sind unvermeidlich. Das ist der Humus für politische Unzufriedenheit. Ein wichtiger Treiber der politischen Ränder ist die Angst der Bürger vor der Zuwanderung. Der Druck auf die Arbeitsmärkte vor allem für einfache Arbeit nimmt zu. Der Wettbewerb um die Nutzung öffentlicher Güter wird intensiver. Einheimische und Zugezogene liefern sich einen Verteilungskampf um distributive Sozialleistungen. Die Sozialpolitik wird national-sozial, die Soziologen sprechen von Sozialchauvinismus.

Es gibt aber auch noch eine andere Entwicklung, die vor allem den Parteien am „rechten“ Rand in die Karten spielt. Die heterogeneren Präferenzen der Bürger und die zentralistischen Entwicklungen auf nationaler und europäischer Ebene sind wie Feuer und Wasser. Der Brexit, Schottland und Katalonien sind nur die Spitze des Eisberges dieses Konfliktes. Die Menschen wollen nicht mehr nur stärker differenzierte Politik-Angebote der Parteien. Sie leiden auch an einem Mangel an kommunaler, regionaler und nationaler Unabhängigkeit. Wenn sie nicht mehr politische Autonomie bekommen, gewinnen separatistische Bewegungen an Boden. Dafür stehen Schottland und Katalonien. Auf europäischer Ebene führt der Mangel an nationaler Souveränität im schlimmsten Fall zum Austritt aus der Europäischen Union. Das erfordert zweierlei: Mehr wettbewerblichen Föderalismus auf nationaler Ebene und mehr Subsidiarität auf der Ebene der Europäischen Union. Wo dies verweigert wird, saugen die Parteien an den Rändern politisch Honig.

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Sind die Parteien an den Rändern gekommen, um zu bleiben oder verschwinden sie bald wieder? Für die „alten“ Volksparteien sind sie eine temporäre Erscheinung. Es reiche aus, sie ins Abseits zu stellen. Die Wähler würden sie wieder aus den Parlamenten vertreiben. Das könnte sich als fataler Irrtum erweisen. Ronald Inglehart und Pippa Norris, zwei renommierte Politikwissenschaftler, sind zwar der Meinung, dass zumindest die Parteien am „rechten“ Rand über kurz oder lang verschwinden werden. Die ältere Generation, die noch traditionellen Werten nachhängt und von Globalisierung und Finanzkrise gekennzeichnet ist, wird aussterben. Damit haben auch Parteien am „rechten“ Rand keine Zukunft (hier). Das dürfte nicht zutreffen (hier). Auch junge Generationen werden alt. Damit werden sie konservativer. Wichtiger scheint allerdings, dass ökonomische Ursachen, wie Strukturwandel, Ungleichheit und Migration, auf lange Zeit erhalten bleiben. Gelingt es der Politik nicht, die Folgen für die Verlierer nachhaltig abzumildern, bleibt das Potential für Parteien am „rechten“ und „linken“ Rand erhalten. Wir werden also weiter mit ihnen rechnen müssen.

Entsteht eine „neue“ Mitte?

Die „alten“ Volksparteien werden nicht nur von den „linken“ und „rechten“ Rändern her attackiert. Es gibt auch Konkurrenz aus dem Kern der Mitte. Liberale Parteien kämpfen schon immer um die Wählerstimmen der Mitte. Wirklich erfolgreich sind sie allerdings bisher nicht. Daran ändert auch der Erfolg der „République en marche“ wenig. Liberale Parteien sind marktwirtschaftlich ausgerichtet, offen für Fremde und sie wollen den Nationalstaat einhegen. Das ist ihr Markenkern. Der ist allerdings gegenwärtig wenig gefragt. Seit der Finanzkrise herrscht eine anti-marktwirtschaftliche Stimmung. Mehr Markt ist passé, mehr (Sozial)Staat ist en vogue. Mit der Flüchtlingskrise offenbart sich auch wieder eine fremdenfeindliche Einstellung. Die Einheimischen fürchten um ihre Arbeitsplätze und ihre (steuer- und beitrags)verdienten Leistungen aus dem Sozialstaat. Auch die Rolle des Nationalstaates wird wieder stärker geschätzt. In der Finanzkrise hat er, nicht die EU oder die G-7 geholfen. Auch in der inneren und äußeren Sicherheit ist der Nationalstaat der Libero. Mit ihrem Markenkern können liberale Parteien nicht punkten. Sie treten auf der Stelle.

Für die „alten“ Volksparteien bedrohlicher ist die Konkurrenz, die ihnen von den ökologischen Parteien droht. Die großen Volksparteien hatten sich auf einen polit-ökonomischen Konsens von Wettbewerb und Sozialem verständigt. Beide bewegten sich aufeinander zu. Die Sozialdemokraten akzeptierten mehr Wettbewerb („3. Weg“), die Konservativen billigten mehr Soziales. Die politische Mitte war lange damit zufrieden. Heute geht es aber nicht mehr nur um Effizienz und Gerechtigkeit. Ein dritter Parameter ist dazu gekommen: Die Ökologie. Ihr Stellenwert hat sich in der Gesellschaft fundamental geändert. Große Teile der Mittelschicht teilen den ökologischen Ansatz der Umwelt- und Klimaparteien. Der alte „sozialdemokratische“ Konsens von Wettbewerb und Sozialem gerät ins Wanken. Die Wähler der Mitte wünschen, die soziale Marktwirtschaft um ökologische Aspekte zu ergänzen, manche wollen sie ersetzen. So oder so, die politisch umkämpfte Mitte verlagert sich. Die „alten“ Volksparteien haben dabei keine guten Karten.

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Ob die ökologischen Parteien zu einer echten Konkurrenz für die „alten“ Volksparteien werden, steht allerdings noch in den Sternen. Allein ihr Programmangebot ist zu klein. Dennoch wird ihr Einfluss wegen der hohen Präferenz für die Umwelt steigen. Das hat Konsequenzen für die politische Mitte. Die ökologischen Parteien sind eher „links“. Sie sind keine Freunde der Marktwirtschaft. Planwirtschaftliche Ansätze liegen ihnen näher, auch in der Umwelt- und Klimapolitik. Mit der individuellen Entscheidungsfreiheit stehen sie auf Kriegsfuß. Tagtäglich kommen sie mit paternalistische Vorschlägen um die Ecke. Dem Nationalstaat stehen sie skeptisch gegenüber. Einige von ihnen wollen ihn möglichst schnell abschaffen. Das alles sind eher „linke“ Positionen. Folgt ihnen die Mittelschicht, wird die „neue“ Mitte künftig weiter links liegen. Ich bin skeptisch. Ein neuer Generationenkonflikt droht auszubrechen. Die Kinder protestieren für eine rigorose Klimapolitik ohne Rücksicht auf ökonomische Verluste. Ihre Eltern haben Angst um ihre Arbeitsplätze und protestieren gegen Entlassungen. Wie die „neue“ Mitte aussehen wird ist noch nicht entschieden.

Fazit

Den Volksparteien geht es nicht anders als anderen großen Institutionen, wie Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Sie verlieren Mitglieder, Wähler und politischen Einfluss. Der Grund ist immer derselbe: Mit steigendem Wohlstand werden die Präferenzen der Individuen heterogener. Eine Partei kann sie nicht alle auf einmal erfüllen. Die Parteien differenzieren sich aus. Sie werden zu „Spartenparteien“. In die Lücken, die Volksparteien an den „linken“ und „rechten“ Rändern hinterlassen, stoßen kleinere Parteien. Ob es sich dabei um populistische Parteien handelt, ist nicht ausgemacht. Diese Entwicklung ist keine Eintagsfliege. Die Ausdifferenzierung hält an. Volksparteien werden weiter erodieren. Dazu tragen auch Strukturwandel, Ungleichheit, Migration und Zentralisierungstendenzen der Politik bei. Hilft die Politik den Verlierern der wirtschaftlichen Unsicherheiten nicht, zersplittert die politische Landschaft weiter. Auch der heterogenen Entwicklung von Regionen muss entgegen gewirkt werden. Mehr wettbewerblicher Föderalismus, mehr direkte Demokratie und nicht weitere Zentralisierung können helfen.

Blog-Beiträge zum Populismus:

Norbert Berthold: Vetternwirtschaft und Populismus. Ein Übel kommt selten allein

Norbert Berthold: Populistische Teufelskreise. Ist wettbewerblicher Föderalismus ein Gegenmittel?

Norbert Berthold: Die Integration und der Populismus. Wohin treibt die Europäische Union?

Norbert Berthold: Antikapitalistisch, fremdenfeindlich und nationalsozial. Was hilft gegen Populisten?

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