Gastbeitrag
Ist die These vom Wandel durch Handel überholt?

Wer miteinander Handel treibt, hat durch Gewalt etwas zu verlieren. Warum funktioniert das Prinzip, dass Außenhandel friedensstiftend wirkt, mit Putins Russland gerade nicht – und wie kann es künftig funktionieren?

Mit Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine wurde deutlich, dass die Vorstellung, Präsident Putin würde durch Außenhandel und die damit regelmäßig – aber eben nicht immer und für jeden – verbundenen Wohlfahrtssteigerungen zu einem zivilisierten Regierungschef werden, mindestens unrealistisch, eventuell naiv oder gar grob fahrlässig war. Es war offenbar nie Putins Absicht, nur wegen der potentiellen materiellen Besserstellung seiner Bürger von seiner Vorstellung der Wiederauferstehung der Sowjetunion abzulassen. Hinzu kommt, dass Putin regelmäßig deutlich gemacht hat, dass er im Außenhandel eher ein Nullsummenspiel als ein Positivsummenspiel sieht. Wer so denkt, wandelt sich nicht durch Handel.

Die These, dass Außenhandel friedensstiftend wirkt und gleichzeitig zur Demokratisierung beiträgt, ist wenigstens 100 Jahre alt. Der amerikanische Politiker und US-Außenminister der Jahre 1933-1944, Cordell Hull, sagte bereits noch während des Ersten Weltkrieges sinngemäß, dass Handel und Frieden genauso ein Geschwisterpaar seien wie Krieg und Autarkie. Die Entwicklung Europas seit Ende des Zweiten Weltkrieges gibt ihm in beeindruckender Weise Recht. Zwei sogenannte Erbfeinde, Deutschland und Frankreich haben einen Friedens- und Integrationsprozess initiiert, der mit der Einrichtung des Europäischen Binnenmarktes zur Hochform auflief und für den die Europäische Union (EU) 2012 zu Recht den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam.

Die Logik der Hypothese, dass Frieden und Handel Geschwister sind, ist recht einfach. Wer miteinander Handel treibt, hat durch Gewalt etwas zu verlieren. Ökonomen sprechen von den durch Handel steigenden Opportunitätskosten der Gewalt, der wortgewandte Entertainer Dieter Nuhr formulierte es etwas krasser, als er – wiederum sinngemäß – sagte, Händler würden ihre Kunden nicht so gerne erschießen. Die Logik ist die gleiche. Hinzu kommt das Phänomen, dass Menschen, die miteinander Handel treiben, sich besser kennenlernen, Vorurteile abbauen und Vertrauen aufbauen. Dies gilt übrigens auch für diejenigen, die mit russischen Partnern Handel treiben.

Dieses mikroökonomische Kalkül kann man dann auf ganze Gesellschaften übertagen. Das Bild der Deutschen hat sich in den letzten 75 Jahren dramatisch verbessert, nicht zuletzt wegen der guten Qualitätsware, die deutsche Unternehmen produzieren und zuverlässig liefern und im Laufe des Lebenszyklus warten. Viele haben die deutschen Unternehmen als gute Partner, Kunden und Arbeitgeber erlebt. Das hilft uns allen.

Der Außenhandel hat sich gewandelt. Er besteht heute zum Großteil nicht mehr darin, ein Produkt an einem Standort komplett zu produziere und anderswo zu verkaufen. Vielmehr ist der Produktionsprozess in sehr viele Schritte unterteilt. In sogenannten globalen Wertschöpfungsketten (global value chains, GVCs), die zum Teil mehrere Dutzend Schritte umfassen, arbeiten Menschen aus vielen Ländern – wenigstens indirekt – zusammen. Der Außenhandel übersteigt die Wertschöpfung regelmäßig um ein Mehrfaches.

Die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung führt dazu, dass viele Regionen Anschluss an die Welt gefunden haben. Dies ist eine positive Entwicklung, denn die Einkommen steigen und mit ihnen Bildungschancen, soziale Sicherung und Zugang zum Gesundheitswesen. Die Intensivierung der Arbeitsteilung durch die GVCs hat aber auch Nachteile. Denn die Anpassungsgeschwindigkeit und damit der Anpassungsdruck nehmen in den Wertschöpfungsketten dramatisch zu. Unternehmen verlagern Standorte viel schneller als noch vor dreißig Jahren. Arbeitnehmer in Industrie- und Entwicklungsländern kommen unter hohen Druck. Nicht zuletzt deshalb ist der offene Außenhandel nach wie vor gesellschaftlich nicht unumstritten. Per saldo überwiegen jedoch klar die Vorteile!

Aber der Handel mit Russland ist nicht in dem Sinne in GVCs organisiert, dass russische Unternehmen und damit auch russische Beschäftigte in großem Stil in diese Wertschöpfungsketten integriert wären. Den Großteil der Exporte aus Russland bilden Rohstoffe, was einen Teil der russischen wirtschaftlichen und politischen Probleme erklärt. Denn in rohstoffreichen Ländern gibt es einen hohen Anreiz zur Korruption und zur Ausbeutung der Ressourcen durch kleine Minderheiten; dies ist der sogenannte Ressourcenfluch. Anstatt in Arbeitsplätze und produktive Unternehmen zu investieren, kaufen die reichgewordenen russischen Oligarchen Fußballclubs, Yachten und Luxusanwesen an schönen Orten. Damit ist schon ein Teil der russischen Importe beschrieben; dazu gleich mehr.

Zum Ressourcenfluch kommt die sogenannte holländische Krankheit, die nach dem Problem der Niederlande nach einem Gasfund in der Nordsee in den 1960er Jahren so bezeichnet wird. Sie beschreibt Folgen der Aufwertung der eigenen Währung eines rohstoffreichen Landes durch den Export großer Rohstoffmengen. Die Aufwertung führt dazu, dass andere heimische Unternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig werden, weil ihre Produkte durch die Aufwertung auf dem Exportmarkt, aber auch in der Konkurrenz zu den durch die Aufwertung verbilligten Importen, zu teuer werden. Beide Effekte zusammen haben dazu beigetragen, dass die meisten rohstoffreichen Länder arm geblieben sind.

Ein Teil der russischen Importe ist mit den Luxusgütern bereits skizziert. Daneben werden Maschinen, Ersatzteile, Medikamente und ähnlich wichtige Zwischen- und Endprodukte importiert. Ein Problem ist, dass die Exporte und Importe auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfungsketten angesiedelt sind und die tatsächlich erzielte Wertschöpfung der russischen Exporte wesentlich geringer ist als die ihrer Importe. Für den Westen ist das Geschäft besser als für Russland, wenigstens dann, wenn man das ganze Land betrachtet und nicht nur die korrupten Eliten. Hier liegt also ein strukturelles Ungleichgewicht vor, dass vermutlich die positiven, also vertrauensbildenden Wirkungen des Außenhandels relativeren, zumal Russland mit seinen Weiten kaum in GVCs einzubinden ist, und dies ganz unabhängig davon, wie korrupt Regierung und Wirtschaftselite sind.

Vor diesem Hintergrund kann man festhalten, dass die These vom Wandel durch Handel nicht überholt ist. Im russischen Fall kommen einige negative Einflussfaktoren auf die Wirksamkeit des Außenhandels für Wohlstand und internationale Integration der russischen Bevölkerung zusammen. Die Lehre kann nur sein, dass eine zweite Chance der russisch-europäischen Annäherung, sollte es sie geben, wesentlich entschlossener mit Blick auf Handel auf Augenhöhe und mit nachhaltiger Struktur agiert werden muss. Es würde nicht reichen, Russland später wieder als reinen Rohstofflieferanten und die korrupten Eliten als kaufkräftige Kunden unserer Luxusgüter zu betrachten.

Hinweis: Der Beitrag erschien am 15. April 2022 in der WirtschaftWoche Online.

Eine Antwort auf „Gastbeitrag
Ist die These vom Wandel durch Handel überholt?“

  1. Ein übersehenes Argument ist, dass „Wandel durch Handel“ – wenn die Aussage wahr sein sollte – möglicherweise nicht im Interesse der russischen Führung ist. Schaut man auf die Geschichte des Ostblocks, könnte man darin sogar eine politische Bedrohung sehen. Übrigens, die USA ist kein großer internationaler Handelsstaat, dort macht man fast nur internen Handel. Und China versucht die eigene Exportabhängigkeit zu reduzieren.

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