Gastbeitrag
Durchbruch zu nachhaltigen Rentensystemen in der EWU?

In den Euroländern stehen die Ampeln für die Fiskalpolitik auf Rot. Es muss gespart werden, damit die weithin viel zu hohe Staatsverschuldung nicht weiter ausufert. Andernfalls könnte das Misstrauen der Finanzmärkte gegenüber Schuldenstaaten weiter um sich greifen und alle Hoffnung auf breite wirtschaftliche Erholung im Eurogebiet und auf anhaltende Stabilität der Gemeinschaftswährung zerstören.

Die neuen fiskalpolitischen Realitäten gelten auch für die staatlichen Alterssicherungssysteme. Unter dem Druck der Finanzmärkte und entsprechend der Empfehlungen europäischer und internationaler Institutionen ziehen hier immer mehr Regierungen die Ausgabenbremse. Entschlossenes Handeln ist geboten, wenn die Umlagesysteme trotz kräftig steigender Rentnerzahlen und schrumpfendem Potenzial an Beitragszahlern längerfristig finanzierbar bleiben sollen.

Zwar rollt der Zug der Rentenreformen in der EU schon seit Jahren, aber nicht alle Länder sind zeitig aufgesprungen. Gerade einige der inzwischen hoch verschuldeten Staaten gehören zu den Nachzüglern. Das zeigt eine Analyse der EU-Kommission aus dem Jahr 2009. Sie weist für die Euroländer im Durchschnitt einen Anstieg der staatlichen Ausgaben für die Alterssicherung von 11% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2008 auf 13,9% bis zur Jahrhundertmitte aus. Besonders brisante Zuwächse, nämlich mehr oder minder eine Verdoppelung der Rentenausgabenquote, wurden damals für Griechenland, Irland und Spanien ermittelt.

Inzwischen ist die Sanierung der Systeme weithin in Gang. Vor allem auch die genannten Peripherieländer könnten die staatlichen Ausgaben für Renten und Pensionen auf deutlich niedrigeren Niveaus einbremsen als bislang erwartet. Dafür spricht die meist gute Ausgestaltung der Reformen. Diese setzen zu Recht auf der Ausgabenseite an. Die Illusion, Sanierungserfolge durch höhere Steuern oder Sozialbeiträge erzielen zu können, ist zerplatzt. In der Politik scheint die Erkenntnis Platz zu greifen, dass weiteres Drehen der Abgabenschraube kontraproduktiv wäre: Es wirkt negativ auf das Arbeitsangebot im eigenen Land und schwächt das Wachstumspotenzial. Stattdessen bauen immer mehr Länder auf ein höheres Renteneintrittsalter und direkte Einschnitte bei den Renten.

Die Anpassung des Rentenalters ist eine treffende Antwort auf den demografischen Wandel, insbesondere die steigende Lebenserwartung. In Deutschland können Ruheständler, die eine abschlagsfreie Rente beziehen wollen, heute bei Rentenbeginn mit fast 18 weiteren Lebensjahren rechnen. In Frankreich und Italien sind es sogar 22 bzw. 23 Jahre. Diese mögliche Bezugsdauer einer vollen Rente hat seit 1971 in Deutschland um 4 Jahre und in den beiden letztgenannten Ländern um jeweils über 8 Jahre zugenommen. Der tatsächliche Ruhestand dauert, gemessen vom durchschnittlichen Alter beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben an, in den drei Ländern mit rund 20 bzw. jeweils 24 Jahren noch länger. Damit hat sich die Ruhestandsdauer in den vergangenen 4 Jahrzehnten jeweils in etwa verdoppelt. Notwendige Korrekturen hier anzusetzen entspricht nicht nur dem Gebot der Gerechtigkeit gegenüber der jungen Generation, welche die lange laufenden Renten finanzieren muss. Es ist auch ökonomisch sinnvoll. Damit lassen sich die demografisch bedingten Probleme bei der Wurzel packen. Mit einem höheren Rentenalter sinkt die Zahl der Rentenempfänger, während jene der Erwerbstätigen steigt, soweit die Älteren tatsächlich länger erwerbstätig sind. Aber es geht um mehr als diese triviale Arithmetik, nämlich um neue Chancen für mehr Wachstumsdynamik. Diese darf man erwarten, weil mehr gearbeitet wird und die Arbeitskräfte während der Erwerbsphase einen höheren Anteil ihres Einkommens konsumieren.

Einer Analyse des Internationalen Währungsfonds zufolge ließe sich die Quote der staatlichen Alterssicherungsausgaben in der Eurozone weitgehend stabilisieren, wenn das tatsächliche Rentenalter bis 2030 um 1,5 Jahre und zwischen 2030 und 2050 um weitere 6 Monate erhöht würde. Das BIP im Eurogebiet läge dann nach den Berechnungen der IWF-Experten 2050 nahezu 6% höher als im Basisszenarium ohne Reformen (vgl. OECD [2011], S.25).

Zu Recht wird daher die Liste der Länder, die das gesetzliche Renteneintrittsalter erhöhen, immer länger. Dabei gehört Deutschland mit der 2007 beschlossenen schrittweisen Anhebung von 65 auf 67 Jahre bis 2029 zu den Vorreitern. Aber auch andernorts, insbesondere in den Schuldenstaaten, werden die Bürger künftig erst mit einem höheren Alter als bislang in den Ruhestand eintreten können, wenn sie eine volle Rente beziehen wollen. Italien und Griechenland z.B. passen das Rentenalter ab 2015 bzw. 2020 an die Lebenserwartung an.

Projektionen der OECD zufolge steigt durch die Anpassungen der letzten Jahre das gesetzliche Mindestalter für den Bezug einer vollen Rente in den 12 wirtschaftsstärksten Euroländern bis 2050 um etwa ein Jahr auf 64 Jahre an.  Das heißt indes auch, dass selbst ein Rentenalter von 65 im Durchschnitt der Länder immer noch in einiger Ferne ist (vgl. Karam et al.).

Um so wichtiger sind ergänzende Korrekturen beim Leistungsrecht. Dafür gibt es mehrere Ansatzpunkte:

  1. Die so genannte Valorisierung, d.h. die Regeln, nach denen die Rentenansprüche einer Person aus deren (Beitrags-)Leistungen während des Erwerbslebens abgeleitet werden. Hier besteht ein klarer Trend hin zum Äquivalenzprinzip. Die Höhe der Renten orientiert sich zunehmend an der Gesamtdauer der Erwerbstätigkeit und dem in dieser Zeit insgesamt erzielten Einkommen. Dies ist in Deutschland (zumindest) in der gesetzlichen Rentenversicherung seit jeher üblich, nicht aber in Frankreich und den südeuropäischen Ländern. Sie gewährten ihren Bürgern noch Mitte der 1990er Jahre nach spätestens 35 Erwerbsjahren eine großzügige, an den 5 oder 10 höchsten Jahresgehältern orientierte Rente. Mehr Leistungsgerechtigkeit bei der Rentenberechnung kann nicht nur helfen, die (künftigen) Staatausgaben zu reduzieren, sondern auch die individuellen Anreize für Leistungen am offiziellen Arbeitsplatz stärken. Nicht übersehen werden sollte aber eine gewisse Schattenseite der verstärkten Leistungsorientierung der Renten: Personen mit geringen Einkommen und unsteten Erwerbskarrieren sind dadurch einem erhöhten Risiko der Altersarmut ausgesetzt. Dem gilt es durch geeignete arbeitsmarkt- und bildungspolitische Maßnahmen für bessere Beschäftigungschancen Geringqualifizierter entgegenzuwirken.
  2. Die Indexierung der Renten, also deren Anpassung im Zeitablauf. Verbreitet ist die Abkehr von der ausschließlichen Kopplung an die Löhne hin zur Anbindung an die Konsumentenpreise und/oder das Sozialprodukt. Ersteres erfolgte in Frankreich und Italien bereits in den 1990er Jahren; Portugal stellte 2008 auf einen Mischindex aus Inflationsrate und BIP-Wachstum um, Griechenland hat nun Ähnliches für 2014 beschlossen.
  3. Demografische Korrekturfaktoren. Verschiedene Länder berücksichtigen bei der Berechnung von Rentenansprüchen demografische Indikatoren. In Deutschland geschieht dies mittels des seit 2005 geltenden Nachhaltigkeitsfaktors der Rentenformel. In dem 1995 etablierten beitragsorientierten (NDC-)System Italiens werden die (künftigen) Renten der jüngeren Generation nach versicherungsmathematischen Prinzipien kalkuliert. Deswegen führt dort ein Anstieg der Lebenserwartung prinzipiell zu geringeren jährlichen Renten. Eine Korrektur der Rentenhöhe bei steigender Lebenserwartung erfolgt für Neurenten seit 2008 auch in Portugal.

Länder, die auf das Äquivalenzprinzip bauen und darüber hinaus die Höhe der Renten in geeigneter Weise mit demografischen Indikatoren verknüpfen, können ihre umlagefinanzierten Alterssicherungssysteme demografiefest machen. Im Euroraum haben neben Italien Estland und Lettland solche Systeme etabliert. Die deutsche gesetzliche Rentenversicherung kam dem sehr nahe, bevor die Große Koalition 2009 mit der Rentengarantie, die negative Raten bei der Rentenanpassung ausschließt, einen Systembruch beging. Dabei sollte es im Interesse der jungen Beitragszahler aber nicht bleiben.

In den meisten Ländern des Eurogebietes können sich die jüngsten Rentenreformen sehen lassen. Das schließt die Länder der Peripherie ein. Durch engere Bindung der individuellen Renten an erbrachte Beitragsleistungen und ein höheres Rentenalter dürften die staatlichen Ausgaben für die Alterssicherung dort in Zukunft nur noch wenig mehr steigen als das Sozialprodukt. Freilich setzt dies eine konsequente Umsetzung der Reformbeschlüsse voraus. Es bleibt zu hoffen, dass die Länder ihren Kurs halten, auch wenn die Anreize dafür – zumal nach dem jüngsten Ausbau des Teilhaftungsverbundes in der Währungsunion – nicht optimal sind.

Selbstverständlich muss auch die Wirtschaft der Problemländer gesunden, wenn die Stabilisierung der Rentensysteme gelingen soll. Bei einer Arbeitslosigkeit von 12½, 15 oder gar fast 21% wie derzeit in Portugal, Griechenland und Spanien sind selbst bescheidenere Renten mittels Abgaben der Erwerbstätigen kaum zu finanzieren. Vor allem die genannten Länder sollten daher die Beschäftigung und das Wirtschaftswachstum durch weitere Strukturreformen etwa am Arbeitsmarkt fördern.

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