Frau Merkels Keuschheit ist nicht unsere

Der heilige Augustinus von dem der wundervolle Stoßseufzer stammt: „Herr gib mir Keuschheit, doch nicht gleich!“ war keineswegs ein „seltsamer Heiliger“. Er kannte sich nur mit dem Wechselspiel von Tugend, Selbstbindung und Versuchung aus. Wie allen Gebildeten der Antike kannte er den Mythos von Odysseus, der seine eigene Schwäche voraussieht und sich an den Mast binden lässt, um künftigen Versuchungen widerstehen zu können. Doch Augustinus wollte sich nicht sogleich, sondern lieber erst später binden. Unsere Politik hält es ähnlich mit der finanziellen Keuschheit. Unsere letzte Regierung und Parlamentsmehrheit haben die verfassungsmäßige Forderung nach in Zukunft ausgeglichenen Haushalten beschlossen. In Deutschland scheint diese Maßnahme bereits als ein Disziplinierungsmittel auf die jetzige Haushaltspolitik zu wirken. Der Haushalt – und nicht nur die Haushälterin – nimmt sozusagen schon einmal ab, damit sie künftig besser in den Keuschheitsgürtel passt.

Wer sagt uns allerdings, dass nicht nach einer Weile auch die Verfassungsmaßnahme den Versuchungen des Alltags nicht gewachsen sein wird. Eine Finanzverfassung ist womöglich auch nur ein Keuschheitsgürtel, zu dem die Dame den Schlüssel in der Hand hält. Es wird immer wieder Gründe geben, aus denen es nicht nur eine Versuchung ist, sondern moralisch geboten zu sein scheint, zum Schlüssel zugreifen und lieber unkeusch den Augenblick zu genießen (selbst wenn Frau Merkel eher protestantisch versuchungsfest scheint).

Der Vergleich von finanziellen und erotischen Versuchungen verharmlost allerdings das, was eigentlich Suchtverhalten der übelsten Sorte ist. Ganze Staaten hängen an der Nadel der Kreditaufnahme, die auf Dauer ruinös sein muss. Wie die Süchtigen wissen die Eliten und die informierte Öffentlichkeit dieser Staaten untergründig, dass die heutige Verschiebung schmerzhaften Verzichtes auf Morgen nur dazu führt, dass Morgen der Verzicht noch schmerzhafter sein wird und daher den Verzicht auf Übermorgen nahelegt. Wie alle schlimmen Süchtigen, sind sie gutwillig, aber schwach. Sie handeln sogar teilweise im guten Glauben, indem sie sich der Illusion hingeben, dass die guten Vorsätze, die heute nicht funktionieren, morgen funktionieren werden.

Wir sind an einem Punkt, an dem Gutgläubigkeit selber zur Sünde wird. Wie die Süchtigen aus ihrer je eigenen Suchtgeschichte wissen wir alle aus unserer jüngsten Finanzgeschichte, dass es bereits vor Einführung der Gemeinschaftswährung Mahner gab, die sowohl die drohende Verschuldung einzelner Mitglieder der Währungsunion als auch die zu deren Bekämpfung notwendige Interventionsspirale voraussagten. Sie sahen korrekt die aus möglichen Rettungsinterventionen hervorgehenden Tendenzen zu einer stärkeren politischen Zentralisierung in Europa voraus. Damals wurden sie unterschiedslos mit den ewig gestrigen Nationalisten in einen Topf geworfen, um sie zu diskreditieren. Heute werden jene, die ähnliche Sorgen bezüglich einer von „Eurobonds“ gesicherten Währung äußern, gerne als „Neoliberale“ diskreditiert, die bereits durch ihre Theorien die Entstehung finanzieller Massenvernichtungswaffen und die Finanzkrise begünstigt hätten. Dieser blühende Unsinn ist geeignet Illusionen zu nähren, jedoch keineswegs dazu, etwas zur Lösung der aktuellen Finanzprobleme der öffentlichen Hände beizutragen.

Natürlich ist es wahr, dass insbesondere die Rettungsmaßnahmen für Banken in vielen Ländern fundamental zur Verschuldung von deren öffentlichen Händen beigetragen haben. In einem Land wie Irland, das grundsätzlich politisch intakt und in der Lage ist, schmerzhafte Einschnitte zur Anpassung an neue Gegebenheiten politisch durchzusetzen, hat dieser Effekt eine große Rolle gespielt, scheint aber bereits jetzt im Wesentlichen überwunden zu sein. Irland kann voraussichtlich in absehbarer Zeit den so genannten Rettungsschirm verlassen. Länder wie Portugal oder gar Griechenland und leider vermutlich auch Italien, scheinen nicht über diese innere politische Kraft zu verfügen und daher große politische Risiken für den Fortbestand eines geeinten Europas mit sich zu bringen. Wir sollten uns keine Illusionen machen, es geht in der jetzigen Krise letztlich nicht um ein „technologisch“ zu lösendes Währungsproblem, sondern um fundamentale Strukturen demokratischer Politik.

Unsere Kanzlerin hat das anscheinend auch verstanden. Verfassungsmäßige Einschränkungen der Fähigkeit, sich selbst zu verschulden, strebt sie deshalb für alle Staaten an, die unter dem Dach des Euro weitere Garantien ihrer Kreditwürdigkeit erhalten wollen. Dass solche Regelungen wünschenswert wären, scheint klar. Auch der Versuch, sie in der akuten Krise als Gegenleistung für aktuelle finanzielle Unterstützung einzufordern, erscheint als richtig. Da die Einrichtung der Beschränkungen — wie auch im deutschen Falle die Wirksamkeit der betreffenden Verfassungsklausel — in die Zukunft verschoben wird, ist allerdings großes Misstrauen geboten. Dies ist auch eine Einladung dazu, es mit dem heiligen Augustinus zu halten, um sich weiterhin bequem in der Gegenwart und deren Versuchungen einzurichten. Anders als Augustinus wird man aber nie heilig werden, sondern stillschweigend davon ausgehen, dass zukünftige verfassungsmäßige Beschränkungen auf ewig zukünftig bleiben werden.

Was immer heutige Regierungen gutgläubig versprechen, letztlich müsste der politische Souverän der jeweiligen Gesellschaften in demokratischen Abstimmungsprozessen zum Keuschheitsgürtel greifen. Es bedarf nur geringer Fantasie, sich auszumalen, wie die Öffentlichkeit anderer Länder darauf reagieren wird, wenn ausgerechnet Deutschland auf eine derartige Beschränkung von deren Souveränität dringen würde. Ähnlich wie Süchtige in Erwartung des nächsten Schusses, werden Regierungen und ganze Gesellschaften für einen dringend benötigten Finanzzuschuss wahrhaft das Blaue vom Himmel herunter versprechen — und sich wahrscheinlich sogar selber glauben, während die Not groß ist –, die Schmerzen der Entwöhnung werden sie danach aber gern vermeiden wollen.

Leider ist die charmante Metapher vom Keuschheitsgürtel weniger zutreffend auf die Finanzwirklichkeit der meisten heutigen demokratischen Rechtsstaaten als der Vergleich mit dem Junkie. Es geht für viele demokratische Rechtsstaaten nicht mehr darum, sich durch einen finanzpolitischen verfassungsmäßigen Keuschheitsgürtel ein zukünftiges Vergnügen zu versagen, sondern darum, einen schmerzhaften Entzug vor sich her zu schieben. Da der demokratische Rechtsstaat die größte aller zivilisatorischen Errungenschaften ist, ist es alarmierend, ihn in dieser Weise gefährdet zu sehen. Es scheint ironisch, dass die demokratischen Rechtsstaaten nach der Beendigung des so genannten kalten Krieges und der Beendigung des damit verbundenen Wettrüstens nicht zu ausgeglicheneren, sondern zu noch stärker defizitären öffentlichen Haushalten gelangt sind. Solange wir uns noch gegen einen aggressiven real noch unverblichenen Sozialismus verteidigen mussten, hatten wir womöglich alle das Gefühl, uns bestimmte Sünden nicht leisten zu können, ohne unsere Abwehrkräfte zu unterminieren. Jetzt haben wir uns wie die Süchtigen mit AIDS mit dem Syndrom latenten Staatsbankrotts infiziert. Hoffen wir, dass wir einen Weg aus der Krise auch ohne neue militärische Konfrontation finden werden. Anders als die vormalige Sowjetunion wäre unser voraussichtlicher neuer Gegner allerdings wirtschaftlich und technologisch dynamisch.

Literatur
Kliemt, H. (1993). Constitutional commitments. In Herder Dorneich (Ed.), Jahrbuch für Neuere Politische Ökonomie (Vol. 12, pp. 145-173): Mohr und Siebeck.

Koboldt, C. (1995). Ökonomik der Versuchung:  Drogenverbot und Sozialvertragstheorie (Vol. Band 87). Tübingen: Mohr.

Hartmut Kliemt
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