Warum zwei Prozent?
Zum Inflationsziel der Europäischen Zentralbank

Seitdem sich die Inflation in Europa auf dem Rückzug befindet, wächst die Kritik an der geldpolitischen Strategie der Europäischen Zentralbank, weil diese versucht, die Preissteigerungsrate im Eurowährungsgebiet mittelfristig auf einem Wert von unter (aber nahe bei) 2 Prozent zu stabilisieren. Während einige Stimmen die völlige Aufgabe von Inflationszielen empfehlen, fordern andere Beobachter, die Zielinflationsrate deutlich (etwa auf 4 Prozent) anzuheben und die Politik der quantitativen Lockerung so lange fortzusetzen, bis dieses Ziel erreicht ist (Blanchard, Dell’Ariccia, Mauro, 2010).

Kosten der Inflation

Solche Forderungen nach höheren Zielvorgaben für die Inflation machen nur Sinn, wenn es so etwas wie eine „optimale“ Inflationsrate gibt, die deutlich oberhalb der Null-Prozent-Marke liegt. Gegen einen positiven Zielwert spricht, dass Inflation – auch wenn sie korrekt erwartet und vollständig antizipiert wird – gesamtwirtschaftliche Kosten hat. Diese Kosten bestehen erstens in den Aufwendungen für häufigere Preisanpassungen („menue costs“). Zweitens entstehen Umverteilungseffekte, und zwar von den Geldnutzern zu den Geldproduzenten („inflation tax“) oder von den Steuerzahlern zum Staat, dessen reale Steuereinnahmen im Zuge der „kalten Progression“ zunehmen.

Drittens steigen die realen Kapitalkosten, solange die Steuerabzüge für Abschreibungen nicht mit der Inflation zunehmen, was die Investitionstätigkeit bremst. Viertens wachsen die Opportunitätskosten der Kassenhaltung, was Geldnutzer dazu anregt, häufiger zur Bank zu gehen und weniger Bargeld mitzuführen („shoe leather costs“). Schließlich sind Einzelpreise häufig kurzfristig rigide und können nur periodisch angepasst werden, sodass Inflation (ebenso wie Deflation) zu Einzelpreisverzerrungen führt, die Fehlallokationen bewirken.

Obwohl damit Preisniveaustabilität als wünschenswert erscheint, haben die Notenbanken in den meisten Industrieländern für 2016 Inflationsziele gewählt, die deutlich oberhalb von null Prozent liegen; nur in den Schwellenländern sind die numerischen Inflationsziele derzeit etwas höher (Tabelle 1). Um diese positiven numerischen Inflationsziele zu begründen, werden verschiedene Sonderfaktoren herangezogen (Überblick bei Billi und Kahn, 2008).

Messfehler bei der Inflationsermittlung

Der erste Faktor sind Messfehler bei der Inflationsermittlung, die vor allem durch die Schwierigkeiten bei der Erfassung von Qualitätsverbesserungen und durch Anpassungen im Konsumverhalten bedingt sind. Sie begründen, dass die gemessene Inflationsrate die tatsächliche Inflationsrate potenziell überzeichnet. Da sich die Güterqualität im Zeitablauf – von Ausnahmen abgesehen – eher verbessert und neue Waren eingeführt werden, verbilligen sich Produkte qualitätsbereinigt, auch wenn ihr Preis unverändert bleibt, ohne dass dies am Preisindex erfasst wird. Umgekehrt gehen Preiserhöhungen mit Qualitätsverbesserungen einher, sodass in Wahrheit Preisstabilität vorliegt, auch wenn die gemessene Inflationsrate positiv ist. Darüber hinaus veralten die bei der Berechnung von Verbraucherpreisindizes verwendeten Gewichte, wenn Verbraucher ihre Konsumstruktur an veränderte relative Preise anpassen und zu relativ billigen Gütern wechseln. Auch dadurch wird die tatsächliche Inflation überzeichnet.

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Nominallohnrigiditäten

Das zweite Argument zugunsten einer positiven Zielinflationsrate sind nach unten starre Nominallöhne, die es Unternehmen mit sinkender Nachfrage erschweren, die Arbeitskosten zu senken. Den Unternehmen bleibt ohne Inflation dann nur übrig, durch Entlassungen die Lohnkosten zu senken. Dies ändert sich in einem leicht inflationären Umfeld, weil Unternehmen in geringerem Maße auf Nominallohnsenkungen angewiesen sind; sie können die Reallöhne senken, indem sie die Nominallohnsteigerungen unterhalb der Inflationsrate halten. Insofern wirkte eine moderate Inflation wie ein „Schmierstoffs“ für den Strukturwandel und erlaubt es, Nachfrageverschiebungen ohne Realeffekte abzuwickeln.

Schuldendeflation

Das dritte, auf Irving Fisher (1933) zurückgehenden Argument stellt darauf ab, dass bei Deflation der Nominalwert von Einkommen sinkt, während der nominelle Schuldendienst aus Tilgungs- und Zinszahlungen unverändert bleiben, sodass der Realwert von Schulden zunimmt. Dies kann zu Zahlungsausfällen führen, die sich über den Finanzsektor fortpflanzen und in einem sich selbst verstärkenden Preisverfall resultieren. Insofern schafft eine positive Zielinflationsrate einen Puffer, der bei Angebotsschocks einen sich selbst verstärkenden Preisverfall verhindert.

Nullzinsgrenzen

Das letzte Argument stellt ab auf die Möglichkeiten einer Zentralbank, auf gesamtwirtschaftliche Angebotsschocks mit Nominalzinssenkungen zu reagieren, um die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren. Ausgangspunkt ist die Fisher-Hypothese, wonach der Nominalzinssatz langfristig approximativ mit der Summe aus Realzinssatz und Inflationsrate übereinstimmt. Deshalb weisen Länder mit niedrigen Inflationsraten häufig auch niedrige Nominalzinsen auf und verfügen über geringe Zinssenkungsspielräume, weil sie bald an die Untergrenze von null Prozent („zero lower bound“) stoßen. Weitere Zinssenkungen unter die Null-Zins-Grenze sind zwar denkbar, jedoch besteht bei negativen Zinssätzen die Möglichkeit für die Geldhalter, auf die Bargeldhaltung auszuweichen, deren „Verzinsung“ auf null Prozent festgeschrieben ist. Umgekehrt haben Länder, die ein höheres Inflationsniveau anstreben, bessere Möglichkeiten, mit Zinssenkungen auf Angebotsschocks zu reagieren und die Volkswirtschaft zu stabilisieren. Sie werden nicht gezwungen, mit geldpolitischen Sondermaßnahmen auf die Angebotsschocks zu reagieren.

Welches Inflationsziel braucht Europa?

Aus Sicht der vorhergehenden Argumente bildet die Wahl des numerischen Inflationsziels damit einen Kompromiss zwischen den Kosten einer höheren Inflation und dem Vorteil, auf gesamtwirtschaftliche Schocks flexibel mit Zinssenkungen reagieren zu können. Welcher Zielwert für die Inflation anzustreben ist, lässt sich kaum exakt ermitteln. Verschiedene empirische Studien zeigen allerdings, dass der Messfehler eher überschaubar und deutlich unter einem Prozentpunkt liegt (Lewow und Rudd 2003; Wynne, 2005). Zudem gibt es zwar Indizien für Nominallohnrigiditäten gibt, die jedoch eher aus Perioden mit höheren und variablen Inflationsraten stammen, und es ist umstritten, ob die Lohnrigiditäten auch fortbestehen, wenn die Geldpolitik glaubwürdig eine Nullinflation ankündigt.

Damit verbliebe als Begründung für eine positive Zielinflationsrate nur die Forderung nach einer Sicherheitsmarge, deren Validität entscheidend von der prognostizierten Volatilität der nominalen Zinssätze unter einem Regime der Inflationssteuerung abhängt. Bislang beträgt das Potenzialwachstum in der Eurozone knapp 1 Prozentpunkt; unterstellt man, dass dieses langfristig mit dem Realzinssatz übereinstimmt, ergibt sich nach der Fisher-Hypothese bei einer Zielinflationsrate von zwei Prozent ein langfristiger Nominalzinssatz von drei Prozent – und damit eigentlich genug Spielraum für Zinssenkungen. Bislang fehlen für den Euroraum überzeugende Hinweise darauf, dass eine höhere Sicherheitsmarge notwendig ist, zumal eine Erhöhung der Zielinflationsrate die Glaubwürdigkeit der geldpolitischen Strategie der Inflationssteuerung infrage stellen würde.

Literatur
Billi, R. M., Kahn, G. A. (2008), What is the Optimal Inflation Rate?, in: Federal Reserve Bank of Kansas City, Quarterly Review, Vol. 93(2). S. 5-28.

Blanchard, O., Dell’Ariccia G., Mauro, P. (2010), Rethinking Macroeconomic Policy, IMF Staff Position Note, SPN/10/03, 12 February 2010.

Fisher, I. (1933), The Debt-Deflation Theory of Great Depression, in: Econometrica, Vol. 1(4), S. 337-357.

Lebow, D. E., Rudd, J. B. (2003), Measurement Error in the Consumer Price Index: Where Do We Stand?, Journal of Economic Literature, Vol. 41, S. 159-201.

Wynne, M. (2005), An estimate of the measurement bias in the HICP,“ Working Papers 0509, Federal Reserve Bank of Dallas.

 

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