Kopfrechnen bei Terrorismus

In vielen Analysen, die sich mit wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder sozialen Themen befassen, geht es letztlich um die Wohlfahrt von Individuen. Um diese zumindest approximativ zu messen, wird meist mit Pro-Kopf-Größen gearbeitet. So vergleichen wir die Einkommen pro Kopf zwischen verschiedenen Ländern und nicht die Gesamteinkommen. Zwar ist das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt von Indien knapp 2,5 mal so groß wie jenes von Deutschland – allerdings leben rund 15 mal mehr Menschen in Indien, auf die das Einkommen verteilt ist und so gut wie niemand würde behaupten, eine durchschnittliche Inderin genieße eine höhere Wohlfahrt als eine durchschnittliche Deutsche. Ähnlich werden Zahlen für Staatsschulden, Verkehrsunfälle, Kriminalität und viele mehr in Relation zur Bevölkerungsgröße betrachtet. So ist für den einzelnen Bürger die Kriminalitätsrate von wesentlich größerer Bedeutung als die absolute Anzahl an Verbrechen – zehn Gewaltverbrechen haben in einem kleinen Dorf weitaus größere Auswirkungen auf die individuelle Sicherheit als beispielsweise in Berlin. Wir rechnen also pro Kopf und bewerten die Effektivität von politischen Maßnahmen im Regelfall mit Pro-Kopf-Größen.

Überraschenderweise haben wir das Kopfrechnen bei der Analyse und der Bewertung von Terrorismus verlernt, sprich, wir rechnen in diesem Bereich nicht pro Kopf. Bisher wurden in Analysen zu Terrorismus üblicherweise absolute Zahlen verwendet, wie etwa die Gesamtzahl von Todesopfern durch Terror oder die Gesamtzahl von Terroranschlägen in einem Land. Unser Wissen über die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Faktoren, die Terrorismus beeinflussen oder begünstigen können, basiert daher oft auf Analysen dieser absoluten Terrorzahlen, die dann zur Grundlage politischer Entscheidungen werden. Kopfrechnen wäre hier angesagt, denn 100 Terroropfer auf den Seychellen mit etwa 90.000 Einwohnern haben einen weit größeren Einfluss auf die Gesellschaft und die individuelle Wohlfahrt dort als 100 Terroropfer in Indien, wo 1.252.000.000 Menschen leben. Es ist sinnvoll, Terrortote pro Kopf der Bevölkerung zu analysieren anstatt die absolute Anzahl von Terrortoten.

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In einer quantitativen Untersuchung zu Terror mit modernen statistischen Methoden rechnen wir pro Kopf. Bisher galt es als weithin gesichert, dass insbesondere der Anteil muslimischer Einwohner in einem Land sowie die Zersplitterung der Bevölkerung in verschiedene Sprachgruppen in einem positiven Zusammenhang mit Terrorismus stehen. Der Effekt von ausgeprägter Demokratie erwies sich in bisherigen Studien erstaunlicherweise ebenfalls als positiv, also mehr Demokrat schien die absolute Anzahl an Terroranschlägen zu erhöhen. Ein völlig anderes Bild zeigt sich jedoch, wenn wir Pro-Kopf-Größen für Terrortote und Terroranschläge analysieren. Dazu nutzen wir Daten der Global Terrorism Database für 214 Ländern von 1970 bis 2014. Insbesondere bevölkerungsreiche Staaten und Länder in Ost- und Südostasien weisen vergleichsweise niedrige Terrorwerte auf, wenn Terror pro Kopf gemessen wird.

Die empirischen Befunde zeigen, dass sich sowohl die Richtung als auch die Größe und statistische Bedeutsamkeit des Einflusses von Demokratie, des Anteils muslimischer Einwohner und der Sprachvielfalt verändern, wenn Pro-Kopf-Größen für Terror anstatt absolute Zahlen verwendet werden. Abbildung 1 illustriert die Hauptergebnisse.

Intuitiv war es immer schwierig zu erklären, dass mehr Demokratie, also mehr Freiheit und Mitbestimmungsrechte, zu mehr Terrorismus führen solle. Wie sich zeigt, besteht der positive Zusammenhang nur zwischen Demokratie und absolute Terrortoten. Er verschwindet jedoch gänzlich, sobald Terror pro Kopf gemessen wird. Dieses Ergebnis ist nun intuitiv zu erklären: Terroranschläge in bevölkerungsstarken Demokratien wie Indien haben zu dem positiven Zusammenhang in bisherigen Studien geführt. Berücksichtigt man aber die Einwohnerzahl, ist die Beziehung sogar leicht negativ und damit auch wesentlich eingängiger.

Gängige Überzeugung war darüber hinaus, dass Terrorismus in muslimisch geprägten Ländern weiter verbreitet ist, was auch derzeit zu vielen Politikdiskussionen in Europa und den USA führt. Tatsächlich zeigen die Daten diesen Zusammenhang, wenn absoluter Terror untersucht wird. Der Befund ändert sich jedoch völlig, sobald Terror pro Kopf Gegenstand der Betrachtung wird. Wenn überhaupt eine Beziehung zwischen dem Anteil der Muslime in einem Land und Terrorismus pro Kopf besteht, so ist diese Beziehung negativ. Unterstützt wird dieses Ergebnis auch durch die Tatsache, dass in der Vergangenheit nur 10.23% aller 113.239 Terrorattacken in der Global Terrorism Database von muslimischen Gruppierungen begangen wurden, obwohl sich 23% der Weltbevölkerung als muslimisch bekennen. Ein systematischer, positiver Zusammenhang zwischen dem Anteil von Muslimen und Terror ist also nicht zu beobachten. Gleiches gilt für den Gebrauch verschiedener Sprachen innerhalb eines Landes. Zwar besteht ein positiver Zusammenhang zwischen sprachlicher Zersplitterung und absolutem Terror, nicht aber mit Terror pro Kopf.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, wie zentral die Verwendung relativer Größen ist, um sinnvolle Vergleiche zwischen unterschiedlichen Ländern anzustellen. Genauso wie beim Bruttoinlands­produkt oder bei Kriminalität sind pro Kopf Statistiken bei Terrorismus wesentlich aussagekräftiger und relevanter für die individuelle Sicherheit und die gesamtgesellschaftliche Lage als absolute Zahlen. Unsere Ergebnisse haben eine gewisse politische Relevanz, denn Politikempfehlungen zur Bekämpfung von Terrorismus unterscheiden sich wesentlich danach, ob Terror pro Kopf betrachtet wird oder absolute Zahlen analysiert werden. Insbesondere zeigen unsere Resultate, dass die Förderung von Demokratie ein möglicherweise besseres Mittel zur Terrorbekämpfung ist als die Unterstützung von Potentaten, die vielleicht Stabilität versprechen aber gleichzeitig Ressentiments schüren. Darüber hinaus zeigen sie auch, dass zumindest in der Vergangenheit kein Zusammenhang zwischen dem Anteil an Muslimen in einem Land und Terrorismus bestand. Vermutlich könnte das auch in Zukunft so bleiben, wenn wir etwas mehr Kopfrechnen und unseren Blick von der Bekämpfung von totalem Terror auf relevantere Größen lenken.

Literatur:

Jetter, Michael and Stadelmann, David (2017): “Terror Per Capita“, CESifo Working Paper Series No. 6335, CESifo Group Munich, available on SSRN https://ssrn.com/abstract=2925765

Blog-Beiträge zum Thema:

Tim Krieger: Acht Thesen zur Antiterrorpolitik im Bundestagswahlkampf 2017

Tim Krieger: Terrorismus und Migration. Eine Bestandsaufnahme

Tim Krieger: Warum sich Ordnungsökonomen auch mit Terrorismusforschung beschäftigen sollten

David Stadelmann und Michael Jetter
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4 Antworten auf „Kopfrechnen bei Terrorismus“

  1. „Unterstützt wird dieses Ergebnis auch durch die Tatsache, dass in der Vergangenheit nur 10.23% aller 113.239 Terrorattacken in der Global Terrorism Database von muslimischen Gruppierungen begangen wurden, obwohl sich 23% der Weltbevölkerung als muslimisch bekennen.“

    Das klingt, als wäre hier ein Weißwaschen im Gange. Interessant wäre z.B. zu wissen, was unter „Terror“ zu verstehen ist und ob nicht alles in einen Topf geworfen und verrührt wurde.

    Und dann noch das: „Darüber hinaus zeigen sie auch, dass zumindest in der Vergangenheit kein Zusammenhang zwischen dem Anteil an Muslimen in einem Land und Terrorismus bestand.“ Schauen Sie doch mal in die arabische Welt. Oder auf die Terrorattentate der letzten Jahr. Wirklich kein Zusammenhang?

  2. Ihre Relativierung mag grundsätzlich plausibel sein, erscheint mir aber doch ziemlich irreführend.

    1) Was nicht klar wird, ist die inhaltliche und zeitliche Abgrenzung des Terrorismus. Zum Beispiel würden mich ETA, IRA und RAF heute nicht mehr beunruhigen, der totalitäre Islam aber sehr.

    2) Nach ihrer Pro-Kopf-Methode wären die Anschläge in Frankreich weniger schlimm, wenn sie in Deutschland stattgefunden hätten. Was sagt das über das Terrorproblem?

  3. Die von David Stadelmann vorgeschlagene Vorgehensweise sollte in der empirischen Terrorismusforschung konsequenter als bisher ausgewiesen werden, da sie interessante Erkenntnisse bringt. Allerdings sollten in der Diskussion zwei Aspekte beachtet werden. Erstens verwenden nahezu alle relevanten Studien zum Terrorismus die Bevölkerung eines Landes als Kontrollvariable, sodass ein Teil der Effekts, den Jetter/Stadelmann betrachten, auf diese Weise bereits Berücksichtigung findet. Zweitens ist zu fragen, wie gut das Pro-Kopf-Terrorismusmaß in der Lage ist, die Wahrnehmung von Terrorismus zu messen. Beim Terrorismus gilt, dass die Wahrnehmung vor allem durch einzelne spektakuäre Attacken bestimmt wird. Bei Pro-Kopf-Maßen verschwindet dieser Effekt noch mehr als bei den sonst üblichen Maßen „Anzahl der Anschläge“ bzw. „Anzahl der Opfer“. Je nach Untersuchungszweck muss also genau überlegt werden, welches Maß passt (oder es werden alle Maße betrachtet und kritisch diskutiert).

  4. ich schließe mich der Meinung von Hagen Tunt an. Die Relativierung bringt in Bezug auf den Terror nichts. Vielmehr verleitet ein Pro-Kopf-Maß hier zu Fehlschlüssen. Denn gerade seit 2001 ist die überwiegende Zahl von Terrortoten durch muslimisch begründeten Terror zu beklagen. Buddhisten, Christen, Juden etc. verüben keine Anschläge im Namen des jeweiligen Protagonisten. Im Vergleich zu anderen Religionen erscheint der Islam also relativ gefährlicher.
    Eine Verlängerung des Betrachtungszeitraumes auf insg. 44 Jahre führt m.E. zusätzlich zur Verwässerung, da der Terror der 1970, 1980er und 1990er Jahre von anderer politischer Seite initiiert war.
    Letztlich wird die Weltbevölkerung in wenigen Jahren die 10 Mrd.-Menschen-Marke durchbrechen. Allein dadurch ließen sich über Pro-Kopf-Maße alle schlimmen oder ungeliebten Fakten relativ kleinrechnen. Der direkte Vergleich absoluter Zahlen ist nicht immer verkehrt. Effizient ist er allemal. Zielführend mitunter auch, in dem er den Sinn für das Wesentliche schärft.

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