Die Religion lebt. Und Säkularisierung ist eine Illusion. Es ist genau umgekehrt gekommen, wie es Marx, Nietzsche, Freud und die Religionskritik der europäischen Aufklärung erwartet haben: Die Annahme, wonach Modernisierungsprozesse mit Notwendigkeit zu einer Schwächung der Religion und früher oder später zu ihrem Verschwinden führen müssen, hat sich als falsch erwiesen. Der Prozess beschleunigter Globalisierung in vielen Ländern Asiens liefert dafür den Beweis. Satte Wohlstandsgewinne und robustes Wachstum seit Jahren haben mitnichten zu einem Rückgang religiöser Überzeugungen und Praktiken geführt. Im Gegenteil. Heute bekennen sich über 80 Prozent der Inder zum hinduistischen Glauben. In Russland hat das Ende des Kommunismus nicht nur zu Wachstum, sondern auch zum Erstarken des orthodoxen Christentums geführt. Und in China wird der Konfuzianismus sogar von der „aufgeklärten“ KP-Führung selbst gestärkt: Denn er steht für die Tugenden der Rechtschaffenheit, Sparsamkeit und Arbeitsmoral und verspricht eine Belohnung hierarchischer Unterordnung. In Südamerika ist zwar das katholische Christentum im Niedergang begriffen. Dagegen finden Methodisten und Evangelikale (das so genannte „Health- und Wealth Gospel“) immer mehr Anhänger. Überflüssig zu erwähnen, dass zugleich weltweit der Islam einen nicht geahnten Aufschwung erlebt hat. Religion, so scheint es, ist ein Bedürfnis der Armen und der Reichen, der Globalisierungsgegner und der Globalisierungsgewinner. Religion, die Bindung der Menschen an „das Heilige“, galt immer schon als ein anthropologisches Grundbedürfnis. Das hat sich bis heute nicht geändert.
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