Die Volkswirtschaftslehre befindet sich in einem merkwürdigen Stadium. Sie ist mächtig und unbeliebt. Noch vor kurzem war sie auf dem Höhepunkt ihrer Macht – genauer gesagt: sie war es bis zum Ausbruch der Finanzkrise vor fast neun Jahren. Danach hat es erbitterte Debatten über die Frage gegeben, ob die ökonomische Wissenschaft eine Mitschuld an dem Desaster treffe.
Das Unbehagen über die VWL war schon länger groß, sowohl in Teilen der Bevölkerung als auch unter vielen Studenten und einigen Professoren. Seit einigen Jahren hat nun ein Suchprozess begonnen, ob die VWL sich in Teilen verändern muss, ihre Prämissen und einige wichtige Modelle nochmals kritisch hinterfragen, ob die Lehrpläne und die Lehre angemessen sind oder ob sich darin nicht doch auch Lücken auftun.
Lassen Sie mich in einem kurzen Rückblick die Entwicklung der VWL skizzieren, ihren Aufstieg und Fall – wenn man so sagen kann. Im 19. Jahrhundert war die Ökonomie bei einigen wegen ihrer teils düsteren Vorhersagen, etwa von Malthus, als „Dismal Science“ verrufen. Dann stieg sie im späten zwanzigsten Jahrhundert zur „Queen of Social Sciences“ auf – zumindest war das ihre Selbstwahrnehmung. Den Neid und die Ressentiments anderer Sozialwissenschaften nahm man als eine Auszeichnung.
Keine andere Sozialwissenschaft scheint auch heute noch so mächtig und einflussreich wie die VWL. Was Ökonomen fordern und wovor sie warnen, das wird in Medien und Öffentlichkeit und von der Politik gehört. Regierungen lassen sich von Ökonomen beraten. Nicht zu unterschätzen ist auch der langfristige Einfluss ökonomischer Lehren, die oft jahrzehntelang prägende Dominanz des herrschenden ökonomischen Paradigmas.
Erinnern wir uns an die Worte von Keynes im Schlusskapitel der „General Theory“. Er schrieb darin, Praktiker (gemeint waren auch Politiker), die sich für geistig unabhängig hielten, seien „gewöhnlich die Sklaven eines längst verstorbenen Ökonomen“. Natürlich ist das eine weit überzogene Behauptung, dass Politiker sich sklavenhaft an Ökonomen-Ratschläge hielten. Im Gegenteil: Viele Ökonomen klagen, ihr Rat werde zu wenig gehört. Politiker müssen in einer Demokratie Wahlen gewinnen, daher neigen sie zu Pragmatismus und gar Opportunismus. Nibelungentreue zu einem ökonomischen Paradigma oder zu ordnungspolitischen Prinzipien ist da eher hinderlich.
Doch auch wenn man Abstriche von Keynes’ Bemerkung macht: Zweifellos haben Ökonomen-Lehren politisches Gewicht. Sie sind einflussreicher als etwa Politologen oder Soziologen, von Geisteswissenschaftlern ganz zu schweigen. Kritiker beklagen eine „Ökonomisierung“ (fast) aller Bereiche des Lebens, weil Ökonomen praktisch sämtliche Fragen der Gesellschaft mit ihren ökonomischen Theorien analysieren und bewerten. Manche haben von einem ökonomischen „Imperialismus“ gesprochen.
Misstrauen gegen die Ökonomen
Der Aufstieg der Ökonomik im 20. Jahrhundert zur beherrschenden Sozialwissenschaft ging einher mit ihrer Verwandlung in eine mathematisch-formale Disziplin, die sich exakter und wissenschaftlicher fühlt als andere Sozialwissenschaften. Sie arbeitet mit harten statistisch-ökonometrischen Methoden, um ihre Hypothesen zu prüfen und ökonomische Theorien und Gesetzmäßigkeiten zu erarbeiten, die einer soziale Physik gleichkommen sollen.
Aber dennoch gibt es ein großes Unbehagen an der VWL, außerhalb der Disziplin, aber auch innerhalb. Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Bevölkerung wenig Vertrauen in die Wirtschaftswissenschaftler hat. „Den Ökonomen glaubt man nicht“, fasste der Kölner Wirtschaftspsychologe Detlef Fetchenhauer die Ergebnisse einer breiten Befragung zusammen, die er vor einigen Jahren, kurz nach dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise, gemacht hat. Nur jeder Siebte hielt Ökonomen generell für glaubwürdig. Und sogar 80 Prozent der Befragten meinten, eine Gesellschaft könne auch gut ohne Ökonomen auskommen.
Nach Ansicht von Fetchenhauer liegt das angeknackste Renommee teils daran, dass Ökonomen zu oft Fehlprognosen gemacht haben. Weit diskutiert wurde ja die Tatsache, dass nur ganz wenige Ökonomen vernehmlich vor Ausbruch der Finanzkrise gewarnt haben… Dass einige auf grundsätzliche Probleme im Bankensektor, in der Regulierung, bei der Geldpolitik etc. hingewiesen haben, das will ich gar nicht verschweigen – ich komme gleich nochmals darauf zurück. Aber es war eben nicht eine Mainstream-Meinung, dass man unmittelbar auf eine große Krise zusteuere.
Hinzu kommen, auch unter einigen Studenten, sehr fundamentale Vorbehalte: Den Ökonomen werden realitätsferne Modelle vorgehalten, das neoklassische Gleichgewichtsideal, das sich im Kern eben doch an der Physik orientieren. Kritisiert wird ein eindimensionales Menschenbild, der „Homo oeconomicus“. Und es heißt, dass viel zu oft politische, soziale, historisch-institutionelle Aspekte ausgeblendet werden aus der Ökonomen-Modellwelt. Sie erscheint damit steril, nicht besonders realitätsnah.
Im Jahr 2000 gingen Studenten der Pariser Sorbonne auf die Barrikaden. Sie protestierten gegen die aus ihrer Sicht „autistische Wirtschaftswissenschaft“, die sich eine „imaginäre“ Modell- und Theoriewelt gebaut habe. Es gebe eine übertriebene Fokussierung der Ökonomen auf die mathematische Formulierung von Problemen, die zum Selbstzweck werde. Nötig seien eine „pluralistische“ Forschung und der Austausch mit anderen Sozialwissenschaften.
Wie ich schon erwähnte, hat sich die Vertrauenskrise verstärkt, weil praktisch kein Vertreter der Mainstream-Ökonomie den Ausbruch der großen Finanz- und Wirtschaftskrise vorhergesagt hatte, an deren Spätfolgen, vor allem an den enormen Staatsschuldenbergen, viele Länder noch heute leiden. Die meisten Ökonomen wirkten damals überrascht und überrumpelt, als plötzlich das Bankensystem am Rande des Abgrunds hing. Erst nach einer gewissen Schockstarre kamen sie wieder zu sich, fanden Erklärungen für die Finanzkrise. Noch viele Jahre wird die Wissenschaft damit beschäftigt sein, aus den Scherben der Krise ein einigermaßen stimmiges Puzzle-Bild der Ursachen und Wirkungen zusammenzusetzen.
Kein Run auf die Ökonomie-Fakultäten
Erstaunlich ist, dass die dramatische Krise kein merklich gestiegenes Interesse unter jungen Leuten an einem Wirtschaftsstudium geweckt hat. Es läge ein riesiges Forschungsfeld vor ihnen. Doch ein Ansturm von Studenten auf die VWL-Fakultäten ist ausgeblieben. Die Zahl der VWL-Erstsemester zum Herbstsemester, das gerade begonnen hat, liegt seit einigen Jahren bei rund 4000 deutschlandweit, das sind 20 Prozent weniger als vor fünfzehn Jahren.
Die Gesamtzahl der VWL-Studenten war ausgerechnet im ersten Jahr der Wirtschaftskrise unter 20 000 gefallen, seitdem hat sie sich nur mäßig erholt (plus 10 Prozent) – obwohl die Gesamtzahl der Studenten seitdem von etwa 2 Millionen auf heute 2,8 Millionen gestiegen ist (also ein Plus um 40 Prozent). Mittlerweile gibt es zehnmal mehr BWL- als VWL-Studenten. Zum Teil mag das an den angeblich besseren Jobperspektiven liegen, doch gibt es wohl auch Gründe, die im Fach selbst liegen.
Dass das VWL-Studium viele Studenten frustriert, haben inzwischen auch viele Professoren erkannt. Der Verein für Socialpolitik organisierte in diesem Herbst auf der Jahrestagung in Augsburg eine Podiumsdiskussion. Teilnehmerin war auch eine kritische junge Studentin der Humboldt-Universität. Sie klagte: „Wir bekommen im VWL-Studium keine Antworten auf unsere Fragen zu den realen wirtschaftlichen und sozialen Problemen.“ Stattdessen werde man mit abstrakten Modellen und Formeln zugedeckt. Was fehle, seien konkrete Beispiele und Anwendungen. Aus Verzweiflung haben die Humboldt-Studenten selbst Kurse über Ideengeschichte und zur Finanzkrise organisiert. In den regulären Vorlesungen finde Wirtschaft in abstrakten Modellwelten, im luftleeren Raum statt, abgehoben von den Institutionen und der Geschichte, die zum echten Verständnis wichtig wären.
Aufstieg der mathematischen Ökonomen, Wandel zur Empirie
Wie kam es dazu? Ich will ganz kurz und schematisch die Entwicklung skizzieren.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich die VWL mehr und mehr in eine zwar elegante, aber auch abgehobene, mathematikzentrierte Theoriewelt zurückgezogen. Gérard Debreu, einer der Pioniere der Entwicklung mathematisierter Gleichgewichtsmodelle, hat es mit zwei Zahlen verdeutlicht: Während man 1940 auf weniger als drei Prozent der Seiten der „American Economic Review“ rudimentäre Mathematik gefunden habe, waren fünf Jahrzehnte später nahezu 40 Prozent der Seiten voll mit höherer Mathematik. Kritiker sprachen von „Mathturbation“ der Ökonomen. In den achtziger Jahren war der Höhepunkt erreicht.
Seitdem ist der Anteil der mathematisch formulierten Theorie in den Top-Zeitschriften wieder gesunken, wie Daniel Hamermesh von der Universität Texas dokumentiert hat. Er schreibt: „Die ökonomische Theorie war wohl so abstrus geworden, dass die Herausgeber der führenden allgemeinen Journale, als sie realisierten, dass nur noch sehr wenige ihrer Leser diese Theorie verstehen konnten, Einschnitte bei Veröffentlichungen solchen Typs machten.“
Seitdem hat es einen Wandel weg von der reinen Theorie hin zu empirischen Arbeiten gegeben – Gott sei dank! Immer mehr Ökonomen verwenden nun Daten aus der realen Welt, um ihre Thesen zu testen. Das ist grundsätzlich eine sehr begrüßenswerte Entwicklung. „Empirische Evidenz“ ist heute das Zauberwort der Ökonomen, die Berge von Daten durch die Statistikprogramme am Computer pressen und damit Thesen zu belegen versuchen.
Zudem gibt es zunehmend verfeinerte Methoden, die bloße Korrelation und echte Kausalität – also Ursache-Wirkung-Zusammenhänge – klarer unterscheiden können. Man versucht mit Daten aus „natürlichen Experimenten“ zu arbeiten. Durch historische Kontingenz oder tatsächliche Feldexperimente ergibt sich eine Varianz der Daten und man erhält somit Kontrollgruppen, um kausale Effekte herauszuarbeiten.
Die Hinwendung zur Empirie hat aber auch Schattenseiten. Zuweilen orientieren sich junge Forscher nicht mehr danach, welches die drängenden volkswirtschaftlichen Probleme sind, hat Justus Haucap neulich in einem Beitrag kritisiert. Sondern die Verfügbarkeit schöner Datensätze wird zum leitenden Kriterium. Außerdem gibt es Zweifel daran, ob alle empirischen Arbeiten wirklich wasserdicht sind. Ein erschreckend hoher Anteil an Studienergebnissen lässt sich nicht replizieren (in der Psychologie und anderen Sozialwissenschaften spricht man von einer echten Replikationskrise, aber auch in der Ökonomie scheint es dunkle Flecken zu geben; Walter Krämer hat das jüngst gezeigt).
Einige Forscher scheinen ihre Studien ökonometrisch-statistisch so zu frisieren, dass die Ergebnisse gerade noch signifikant erscheinen; Hypothesen oder Datenauswahl werden nachträglich passend gemacht. Das ist keine ehrliche Wissenschaft. Ich glaube allerdings, dass diese Kritik nur eine kleine Minderheit betrifft.
Vorbehalte gegen den Homo Oeconomicus
Ein alter Vorwurf gegen die neoklassischen Ökonomen ist, dass sie auf einem realitätsfernen Menschenbild, dem „Homo oeconomicus“ aufbauen. Der „Homo Oeconomicus“ ist als rational-kühle, nutzenmaximierende Rechenmaschine berühmt-berüchtigt geworden. Allerdings ist jedem, der sich mit der Kritik differenziert befasst auch klar, dass teilweise gegen eine Karikatur angekämpft wird. Das Modellbild hat unbestritten seine Vorzüge, weil es in seiner einfachen Berechenbarkeit überhaupt erst ökonomische Modellbildung ermöglicht hat. Und die Ergebnisse und Vorhersagen sind in vielen Fällen gar nicht so schlecht.
Doch seit etwa vier Jahrzehnten haben verhaltenswissenschaftliche Experimente gezeigt, dass reale Menschen oft anders entscheiden als der „Homo Oeconomicus“, dass sie auch soziale Präferenzen haben und dass ihre Rationalität beschränkt ist. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ökonomen und Psychologen – ich nenne nur den Namen Daniel Kahneman – hat sich als sehr fruchtbar erwiesen. Auch wenn noch kein neues, ganz stimmiges Menschenbild den alten Homo oeconomicus abgelöst hat, gibt es große Erkenntnisfortschritte.
Im Bachelor-Studium erfahren VWL-Studenten von den verhaltensökonomischen Ergebnissen aber wenig bis gar nichts. Stattdessen werden sie oft mit veralteten Standardtheorien gefüttert. Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse werden meist erst im Master-Studium etwas vertieft behandelt. Was fehlt in der Lehre, ist also zum einen die Bereitschaft, schon früher die Limitationen des reinen Homo Oeconomicus anzusprechen. Ich weiß, dass im Bachelor-Studium die Zeit extrem knapp ist und der Druck hoch ist, doch müssten Dozenten schon in der Mikro-Einführungs-Vorlesung zumindest kurz klarmachen, dass es verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die dem allzu simplen Homo Oeconomicus den Boden wegziehen können. Zumindest sollte man andeuten, dass es eine Tür zu einer anderen Experimentalwelt gibt – auch wenn die Ergebnisse der Verhaltensökonomie in mancher Hinsicht noch vorläufig und inkonsistent sind.
Es fehlt die Einbettung in den sozialwissenschaftlichen Zusammenhang
Was fehlt, ist die Einbettung der Wirtschaftstheorie in den größeren sozialwissenschaftlichen Zusammenhang und eine kritische Selbstbetrachtung. Die Studenteninitiative „Netzwerk Plurale Ökonomik“ hat im Frühjahr eine Studie über die Inhalte von fast 350 Bachelor-Studiengängen in zwölf Ländern veröffentlicht. Ihr Ergebnis: Die Studenten würden viel zu wenig zum Nachdenken über das eigene Fach angeregt, in Deutschland besonders wenig. Mehr als 20 Prozent der Kurse im Bachelor-Studium hierzulande sind BWL, Management und Jura gewidmet. In 18 Prozent der Kurse paukt man mathematische und statistische Methoden. Die Kernfächer Mikro- und Makroökonomie kommen zusammen auf 21 Prozent. Verschwindend gering – 2 Prozent – ist dagegen der Anteil von „reflexiven“ Fächern wie Geschichte des ökonomischen Denkens, Wissenschaftstheorie, Wirtschaftsgeschichte oder auch Wirtschaftsethik.
Einige britische Eliteuniversitäten wie Oxford bieten ja schon seit langem einen Master-Studiengang namens „Politics, Philosophy and Economics“ an. Die meisten Mainstream-Ökonomen haben indes vergessen, dass die Ökonomie sich einst aus der Philosophie entwickelt hat und dass die frühestens, berühmten Ökonomen auch Sozial- oder Moralphilosophen waren. Immerhin scheint der Verein für Socialpolitik in Ansätzen zu erkennen, dass es Defizite und Reformbedarf in der Lehre gibt. Der Tenor der erwähnten Podiumsdiskussion in Augsburg war, dass die Theorie viel stärker mit konkreten Beispielen und Geschichte veranschaulicht und der historische und institutionelle Kontext berücksichtigt werden müsse.
Ich plädiere dafür, die Wirtschafts- und die Theoriegeschichte in der Lehre wiederzubeleben. Sie sind in den vergangenen Jahrzehnten in den Lehrplänen marginalisiert worden. Manche halten Geschichte für überholt. Auf die Frage, warum VWL-Studenten an deutschen Universitäten heute fast nichts über die Entwicklung des Faches erfahren, sagte die VfS-Vorsitzende Monika Schnitzer in einem F.A.Z.-Interview: „Wenn Sie einen Medizinstudenten ausbilden, dann lehren Sie auch nur die neuesten Methoden, so dass er später einen Bypass legen kann. Sie fangen nicht mit der Medizingeschichte und dem Aderlass an.“
Verfehlte „Whig History of Economics“
Die Antwort offenbart eine irrtümliche Vorstellung über die Entwicklung der Wirtschaftslehre. Sie entspricht einer „Whig History“ (nach den englischen Whigs mit ihrer optimistischen Geschichtsphilosophie): Demnach wird die Disziplin stetig besser, sie erreicht immer höhere Erkenntnissphären und immer mehr Erklärungskompetenz. Nach dieser Auffassung von (Wissenschafts-)Geschichte sind die neuen Ideen immer besser als die alten.
Doch stimmt das wirklich? In der Medizin kann man wohl sagen, dass bestimmte alte Therapien und Behandlungsmethoden widerlegt sind. Niemand will heute mehr einen Aderlass. In den Naturwissenschaften, die mittels Experimenten ihre Hypothesen testen, gibt es einen klaren Fortschritt. Doch die Sozialwissenschaften können nicht einfach Experimente durchführen und daraus exakte Schlüsse ziehen. Zudem sind die Sozialwissenschaften viel stärker von politischen Vorlieben der Wissenschaftler geprägt als die Naturwissenschaften.
Der Grazer Ökonom und Theoriegeschichtler Heinz Kurz betont, dass der „Markt für ökonomische Ideen“ nicht als perfekter Selektionsmechanismus funktioniert, der schlechte Ideen zuverlässig aussortiert und Irrwege zügig korrigiert. Vielmehr gibt es in der Wirtschaftswissenschaft Modetrends und Herdenverhalten, verstärkt durch positive Rückkopplungen im Wissenschaftsbetrieb (beispielsweise durch gegenseitige Belobigung und Zitieren und Publikation in den dominanten Journals, durch Berufungen auf Lehrstühle, durch Vergabe von Forschungsgeldern und Preisen; das sind die wissenschaftssoziologischen Mechanismen, die zur Bildung und Reproduktion eines Mainstream-Denkens führen).
Aus dem Herdenverhalten der Wissenschaft kann schließlich – wie auf den Finanzmärkten – Blasenbildung resultieren. Der Internationale Währungsfonds gab selbst in einem Evaluierungsbericht über seine Tätigkeit in den Jahren vor der Krise zu, dass man sich einem „Gruppendenken“ hingegeben habe, dass eine große Finanzkrise unwahrscheinlich sei. Dies habe verhindert, dass die Organisation Risiken erkannt hat.
Nötig ist, dass die Ökonomen sich wieder bewusst werden, wie beschränkt ihr Wissen ist. Ein dogmengeschichtliches Fundament ist wichtig, wie schon Schumpeter sagte, weil es die Anfälligkeit gegen Modedenken reduziere oder sogar dagegen immunisiere. Die heutigen Ökonomen stehen auf den Schultern früherer Generationen – und deren Einsichten und auch ihre Irrtümer können uns heute noch etwas lehren. Die Geschichte zeigt zudem, dass es immer Alternativen gibt.
Der Meisterökonom hat eine breite Bildung
Notwendig ist zudem ein intensiverer Austausch mit den anderen Sozialwissenschaften. Gegen eine verengte Sicht helfen der interdisziplinäre Diskurs und ein breites Fundament an Bildung. Keynes schrieb vor fast hundert Jahren im Nachruf auf seinen Lehrer Alfred Marshall: „Der Meisterökonom muss eine seltene Kombination aus Talenten besitzen … Er muss Mathematiker, Historiker, Staatsmann, Philosoph sein – in gewissem Grade. Er muss Symbole verstehen und in Worten sprechen.“
Friedrich August von Hayek, sonst Keynes’ Gegner, sah es ähnlich: „Ein Physiker, der nur ein Physiker ist, kann durchaus ein erstklassiger Physiker und ein hochgeschätztes Mitglied der Gesellschaft sein. Aber gewiss kann niemand ein großer Ökonom sein, der nur Ökonom ist.“ Hayek fügte hinzu, dass „der Ökonom, der nur Ökonom ist, leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer regelrechten Gefahr wird“. Die Idee, dass ein Nur-Ökonom ein schlechter, gar gefährlicher Ökonom sei, hat schon John Stuart Mill geäußert.
Den Satz von Keynes, der gute Ökonom müsse „Symbole verstehen und in Worten sprechen“, finde ich wichtig: Viele Ökonomen heute sind in gewisser Weise sprachlos, weil sie ihre Erkenntnisse nicht mehr verbal, nur noch mathematisch begründen können. Eine Theorie, die man aber nicht mit sinnvollen verbalen Argumenten erklären kann, ist meines Erachtens problematisch. Sie kann nicht der Allgemeinheit vermittelt werden, sie wird nicht verstanden.
Warum ist eine Neu-Entdeckung der Geschichte, der Wirtschaftsgeschichte wichtig? Bei der Podiumsdiskussion in Augsburg hat Albrecht Ritschl von der LSE zwei entscheidende Argumente gebracht: Die Geschichte ist nun mal die wichtigste Quelle für Empirie, für empirische Daten. Und die Geschichte gibt Orientierung, weil wir verstehen, wie sich die Wirtschaft in großen Entwicklungsschritten gewandelt hat. Sie zeigt zudem, dass manche Muster wiederkehren.
Gerade die Geschichte der Finanzkrisen zeigt gewisse Regelmäßigkeiten, dass einer Krise fast immer eine starke Geld- und Kreditausweitung vorausgeht, dass es zu Phasen des Überoptimismus kommt und Marktteilnehmer Warnsignale ausblenden – insgesamt ein Verhalten, das der Theorie der effizienten Märkte widerspricht.
Martin Hellwig hat in seiner Zeit als Vorsitzender Monopolkommission 2003 eine Studie über die Großbanken in der späten Weimarer Republik-Zeit erstellt. Er zeigte darin, dass jene Banken, die sich damals schon als „systemrelevant“ fühlen konnten, zu risikofreudig waren. Das Moral-Hazard-Problem war schon damals klar sichtbar. Die Analyse der Finanzkrise von 1929ff hätte also schon wertvolle Hinweise auf Risiken und Gefahren liefern können, die in der Finanzkrise 2007ff. wieder schlagend wurden.
Auch bei anderen aktuellen Debatten hilft ein Blick in die Geschichte: Die Rückkehr protektionistischen Denkens in Amerika aber auch anderswo lässt sich viel besser einordnen, wenn man sieht, wie schon im späten 19. Jahrhundert auf die erste große Phase der Globalisierung mit Freihandel und großer Expansion des Welthandels ein protektionistischer Rückschlag folgte, ausgelöst auch durch die Verwerfungen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 1873ff., als man unter Überkapazitäten und sinkenden Preisen litt.
Wer die Vergangenheit vergisst, erlebt manchmal unangenehme Überraschungen
Junge Ökonomen, die kaum Wissen über die Wirtschaftsgeschichte in ihrem Studium vermittelt bekommen, können eine falsche Vorstellung von der Welt entwickeln. Lassen Sie mich das verdeutlichen am Beispiel der Generation von Ökonomen, die in der Zeit der „Great Moderation“ seit den späten achtziger und frühen neunziger Jahren aufwuchs und wissenschaftlich sozialisiert wurde: Die Great Moderation hat in gewisser Weise das Risikobewusstsein oder den Sensor für die Möglichkeit großer Krisen eingeschläfert.
Das politikwissenschaftliche Analogon dazu war die These vom „Ende der Geschichte“, die Francis Fukuyama 1992 aufstellte. Er meinte, nach dem Untergang der Sowjetunion und dem Ende des Systemkonflikts, der den Kalten Krieg geprägt hatte, habe nun ein liberal-demokratisch-kapitalistsiches System endgültig gesiegt. Die Zeit des großen ideologischen Ringens sei vorüber. Man habe gewissermaßen einen Endpunkt der Entwicklung, eben das Ende der geschichtlichen Kämpfe erreicht. 25 Jahre später kann man über diese These nur noch den Kopf schütteln.
Aber es gab in den wirtschaftswissenschaftlichen Debatten eine nicht ganz unähnliche Mentalität, die ich als die These vom „Ende der Wirtschaftsgeschichte“ bezeichnen würde. Man glaubte, die Zeit der großen Systemkrisen sei endgültig vorbei. Die Systeme habe man so gut im Griff, sie seien steuer- und beherrschbar. Der Makroökonom und Nobelpreisträger Robert Lucas etwa hatte ja bekanntlich in seiner Rede als AEA-Präsident 2006 gesagt: „Das zentrale Problem der Vermeidung von Depressionen ist gelöst“, sehr große Wirtschaftskrise schienen ausgeschlossen. Zu dieser Rede, eineinhalb Jahre vor Ausbruch der großen Krise, kann man nur sagen: „bad timing“.
Die Ära der „Great Moderation“ war eine Zeit, in der die Wirtschaft recht gut lief, die früheren heftigen Ausschläge, Friktionen und Großkrisen gehörten scheinbar der Vergangenheit an. Man lebte in einer vermeintlich sicheren, aufstrebenden Welt, die durch as Wachstum der Schwellenländer angetrieben wurde. Die Wachstumsraten waren recht hoch und recht stetig, die Inflationsraten niedrig, die Volatilität insgesamt moderat. Zwar gab es die 2000er-Internetblase an der Börse, doch die realwirtschaftliche Folge von deren Platzen war nur eine kleine Delle.
Die „Great Moderation“ wurde so stark verinnerlicht, dass sie von einer aktuellen empirischen Beobachtung zu einem Versprechen für die Zukunft uminterpretiert wurde. Das Risikobewusstsein schlief ein. Ökonomen und Banker rechneten, etwa bei der Bewertung der Risiken der hochkomplexen Verbriefungen wie ABS mit recht kurzen Zeitreihen. Diese kurzen Zeitreihen aus der Phase der Great Moderation seit den neunziger Jahren gaben aber einen falschen Eindruck davon, wie stark korreliert Abwärts-Risiken sein können. So wurden die Abwärts- und Ausfallrisiken der Papiere unterschätzt. Fälschlicherweise wurde angenommen, dass die Risiken etwa von unterschiedlichen Regionen des US-Häusermarkts nicht korreliert seien. Da hat man sich getäuscht.
Wer die Vergangenheit vergisst, erlebt manchmal unangenehme Überraschungen. Deshalb halte ich es für essentiell, dass Ökonomie-Studenten in ihrer Ausbildung ein solides Fundament, zumindest aber einen Überblick über die unterschiedlichen Phasen der wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung erhalten und zudem eine Strukturmerkmale von Krisen anhand historischer Finanzkrisen erkennen lernen. Auch die politische Reaktion auf die Krisen ist höchst instruktiv – sie vermittelt, welche Fehler gemacht wurden und welche Fehler man künftig besser vermeidet. Die Politik hat 2008 anders als 1930 reagiert – damals war die Fiskalpolitik eher restriktiv, in der jüngsten Krise reagierte sie mit expansiven Maßnahmen. Und die Geldpolitik hat als „Lender of last resort“ das Bankensystem stabilisiert.
Wer die Geschichte kennt, kann aus ihr Lernen. Zwar gibt es manche pessimistische oder zynische Geister, die sagen, das einzige, was die Geschichte lehre, ist, dass wir nichts aus ihr lernen. Das ist mir zu pessimistisch. Man kann aus ihr lernen (bei allen Limitationen, weil sich die Geschichte eben doch nicht wiederholt, sondern höchstens gewisse Muster ähneln). Mit großer Wahrscheinlichkeit aber ist es so, dass man eher dazu neigt, Fehler zu wiederholen, wenn man die Geschichte nicht kennt.
Daher mein Plädoyer für eine intensivere Beschäftigung mit der Geschichte, die über die Verwendung empirischer historischer Daten hinausgeht. Geschichte darf nicht nur ein Steinbruch sein, aus dem man massenhaft Daten heraushaut, die dann in kleinen Bröckchen durch Rechenmaschinen geschoben werden. Man muss auch die jeweiligen politischen, institutionellen und sozialen (Rahmen-)Bedingungen, mithin den historischen Kontext ernst nehmen und in die Analyse mit einbeziehen. Eine solche Wirtschaftsgeschichte kann enorm wertvoll sein.
Hinweis: Der Text basiert auf einer Lecture am Center for Financial Studies der Frankfurter Goethe-Universität.
Philip Plickert hat kürzlich das Buch „Die VWL auf Sinnsuche. Ein Buch für zweifelnde Studenten und kritische Professoren. Frankfurt am Main 2016“ veröffentlicht. Wolf Schäfer hat es hier im Blog besprochen.
Blog-Beiträge zum Thema:
Christian Schubert: Zum Elend der „Pluralismus-Debatte“. Und ein Vorschlag zur Güte
Wolf Schäfer: Die Sinnsuche in den Wirtschaftswissenschaften. Anmerkungen zum neuen Buch von Philip Plickert
Mathias Erlei: Was ist richtig an der Kritik heterodoxer Ökonomen?
Christian Schubert: „Pluralismus“ in der VWL: Bewegt Euch!
- Plurale Ökonomik (5)
Kein Ende der Wirtschaftsgeschichte - 23. Dezember 2016