Pleiten, Pech und Pannen auf politischer Ebene
Grobe Fehler bei der Bestellung von Impfstoffen (hierzu Gleißner et al. 2021), der abrupte Stopp von Hilfszahlungen durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, nachdem hier der Verdacht der (mittelbaren) – wenngleich nicht beabsichtigten – Terrorismusfinanzierung im Raum steht[1] und immense Bürokratie bei der Vergabe von Impfterminen lassen die politischen Akteure derzeit als zumindest partiell überfordert erscheinen. Auch das Fehlverhalten einzelner Abgeordneter in der sog. „Maskenaffäre“ trägt sicherlich nicht zum Vertrauen der Bevölkerung gegenüber den politischen Akteuren bei. Gleichzeitig sind es aber Politiker nahezu aller Parteien, die mit dem sprichwörtlichen Finger auf andere Branchen zeigen und ohne großen Zeitverzug stets strengere Regelungen auf den Weg bringen, betrachtet man etwa den Aktionismus im Fall Wirecard, bei dem mit der Wirtschaftsprüfungsbranche schnell ein Alleinschuldiger identifiziert wurde (hierzu bereits Follert und Widmann 2020).
Politische Akteure agieren in der COVID-19-Pandemie unter unvollständiger Information und wie gewohnt unter Unsicherheit, was jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der Politik ist, sondern das „tägliche Brot“ eines jeden Unternehmers darstellt (etwa Knight 1921; Gleißner et al. 2021). Im Vergleich zu Entrepreneuren tragen Politiker jedoch in den seltensten Fällen die Konsequenzen für ihr Handeln, da politische Fehler in aller Regel durch den Steuerzahler kompensiert werden. Betrachtet man die prominenten Rücktritte der vergangenen Jahrzehnte, stellt man fest, dass diese meist durch persönliches Fehlverhalten – das teils aus Zeiten resultierte, in denen die betreffenden Personen noch nicht bundespolitisch aktiv waren – begründet waren. Die Konsequenzen für sachliche Fehlentscheidungen, mangelnde Führungskompetenz oder Ignoranz gegenüber Fachexpertise werden nur sehr selten getragen.
Anreize und Institutionen
In der ökonomischen Theorie im Allgemeinen und der Politischen Ökonomie im Speziellen ist hinlänglich bekannt, dass es geeigneter Institutionen bedarf, um diskretionäre Potentiale, die sich aus einer Auftraggeber-Auftragnehmer-Beziehung wie dem Verhältnis zwischen Bürger und Politiker in einer parlamentarischen Demokratie (hierzu Follert 2018; Follert 2020a, Follert 2021) ergeben, zu reduzieren. Provokant könnte man die Frage in den Raum stellen, ob die derzeitigen Institutionen möglicherweise die „falschen Leute“ in das politische Amt ziehen? Beispielsweise kann das Salaire eines Bundestagsabgeordneten, welches bei etwa 11.000 Euro liegt, einen Anreiz bieten, dass sich Individuen mit einem Humankapital, das sich auf dem Arbeitsmarkt, bei dem sich der Preis – ohne staatliche Eingriffe – in Abhängigkeit von der Angebotenen und nachgefragten Arbeitskraft ergibt, nur schwer vermarkten lässt, dazu entscheiden, ein politisches Amt anzustreben. Gleichzeitig sind die Opportunitätskosten für einen Bankvorstand, einen mittelständischen Unternehmer oder einen Klinikdirektor sehr hoch, sodass dieser tendenziell davon absehen wird, sich politisch zu betätigen. Follert (2020a, 2020b) oder Müller-Vogg (2021) plädierten bereits dafür, die Bezüge eines Abgeordneten an sein vorheriges Gehalt zu knüpfen. Dieses könnte etwa anhand eines fünf-Jahresdurchschnitts bemessen und möglicherweise noch mit einem Risikozuschlag aufgrund der de-facto-Befristung auf die Legislaturperiode versehen werden (Follert 2020a, 2020b). Wenngleich eine Koppelung der Grundbezüge an das am Markt erzielbare Einkommen aus Sicht vieler Bürger sicherlich wünschenswert wäre, ist es insofern problematisch, als der Bundestag solche Regelungen selbst auf den Weg bringen müsste (bereits Follert 2018).
Eine andere Institution, die Politiker zwänge, die Konsequenzen ihrer Handlung zu tragen, wäre die persönliche Haftung. Hier kann trotz aller Unterschiede eine strukturelle Parallele zum Recht der Kapitalgesellschaft gezogen werden, da es sich auch hier um eine Agency-Beziehung zwischen den Eigentümern und dem Vorstand handelt. Auch der Vorstand einer Aktiengesellschaft haftet als Vertretungsorgan grundsätzlich persönlich für Pflichtverletzungen und kann sich hiergegen mittels sogenannter D&O-Versicherungen schützen (zumindest, wenn nicht dauerhafte strukturelle Probleme bei der Entscheidungsvorbereitung existieren).
Es erscheint in der derzeitigen Krise als problematisch, dass politische Akteure wenig experimentieren, innovative Ansätze verfolgen und alle Risiken zu vermeiden suchen – und zudem die mit ihren Handlungen verbundenen Risiken nicht adäquat in ihren Entscheidungen und Handlungen berücksichtigen. Dies mag zum einen daran liegen, dass die Einheiten zu groß sind, während in Kommunen – etwa in der Stadt Tübingen – wesentlich kreativer gearbeitet wird (zu den Vorteilen kleiner Einheiten siehe Marquart und Bagus 2017). Zum anderen kann der Grund jedoch auch in einem tendenziell risikoaversen politischen Akteur liegen, der die Bundespolitik prägt. Die bloße Einführung einer Haftung hätte daher möglicherweise die Folge, dass politische Entscheidungsträger die Risiken und Chancen asymmetrisch bewerteten. Jedoch muss auch bedacht werden, dass die Institution Haftung a priori eher risikoaffine Individuen dazu bewegen wird, sich politisch zu engagieren. Ein pragmatischer und im Recht der Kapitalgesellschaft bewährter Weg ist die Einführung eines sog. Haftungsfreiraums, wie er in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG durch die sog. Business Judgment Rule normiert ist.
Entscheidungsvorlagen, Information und Risikobewertung
Der Kerngedanke der Business Judgment Rule ist einfach: Jede unternehmerische Tätigkeit ist mit Risiken verbunden und speziell sind auch die Auswirkungen unternehmerischer Entscheidungen unsicher. Unternehmerische Entscheidungen sind grundsätzlich besonders wesentliche Managemententscheidungen unter Unsicherheit, d.h aufgrund bestehender Chancen und Gefahren (Risiken) sind die Auswirkungen unsicher. (siehe Graumann et al. 2009; RMA 2019; Gleißner 2021). Wenn man aber Risiken eingehen muss, werden sich gelegentlich solche Risiken auch realisieren und zu negativen Planabweichungen, Verlusten oder schlimmstenfalls einer Insolvenz führen. Infolge der Business Judgment Rule soll jedoch niemand für das Pech haften, dass Risiken auch einmal eintreten können. Um dieses „Haftungsprivileg“ in Anspruch nehmen zu können, fordert der Gesetzgeber mit §93 AktG – der Business Judgment Rule – aber eine sorgfältige Entscheidungsvorbereitung („Sorgfaltspflicht“). Gefordert wird, dass bei allen „unternehmerischen Entscheidungen“ die zur Vorbereitung erforderlichen „angemessenen Informationen“ vorliegen. Die Beweislast für eine sachgerechte Entscheidungsvorlage liegt beim Vorstand, der entsprechend eine transparent dokumentierte Entscheidungsvorlage erstellen sollte. Um von „angemessenen Informationen“ ausgehen zu können, muss daher im Rahmen einer entscheidungsvorbereitenden Risikoanalyse insbesondere aufgezeigt werden, welche Chancen und Gefahren mit dieser verbunden sind und wie sich der Gesamtrisikoumfang durch die Entscheidung verändern würde (Gleißner 2019 zur Bewertung von Handlungsoptionen). Darüber hinaus muss eine Entscheidungsvorlage Ziele, Nebenbedingungen, Handlungsmöglichkeiten und erstellte Prognosen des Nutzens, mit den zugrundeliegenden Annahmen, nennen. Schließlich ist eine Gesamtbeurteilung der verschiedenen Handlungsoptionen unter Beachtung des prognostizierten Nutzens und der Risiken erforderlich (risikoadäquate Bewertung). Es ist genau die Intention der Business Judgment Rule durch eine derartig fundierte Entscheidungsvorbereitung die Qualität der Entscheidung zu verbessern – und letztlich die Ziele des Unternehmens und seiner Eigentümer möglichst weitgehend zu erreichen.
Man erkennt unmittelbar, dass diese Logik der Business Judgment Rule weitgehend auf politische Entscheidungen übertragbar ist. Auch politische Entscheidungen, z.B. der Regierung, sind mit unsicheren Auswirkungen verbunden. Das oben angesprochene mögliche defensive Verhalten, das eine zukunftsorientierte Ausrichtung eines Staates findet, kann vermieden werden, wenn in gleicher Weise ein „Haftungsprivileg“ klargestellt wird. Kein Politiker sollte für den Zufall, also die Auswirkung von Glück oder Pech haften. Aber analog der Business Judgment Rule sollte dieses Haftungsprivileg nur gewährt werden, wenn die politischen Entscheidungen sachgerecht vorbereitet werden. Nur so kann erreicht werden, dass die Ziele des Staates und der Bevölkerung unter Beachtung bestehender knapper Ressourcen, speziell Steuergelder, möglichst gut erreicht werden. Ganz auf der Intention der Business Judgment Rule ist es auch ein Gebot für den Staat knappe volkswirtschaftliche Ressourcen möglichst effizient zur Zielerreichung zu nutzen (welche Ziele auch immer verfolgt werden). Im Grundsatz unterscheiden sich politische Entscheidungen unter Unsicherheit nicht von Managemententscheidungen unter Unsicherheit – wenngleich man bei ersteren aus der Literatur Neuen Politischen Ökonomie gelernt hat (stellvertretend Downs 1957), dass hier den sachlogischen Erwägungen deren Implikationen auf die Wahlergebnisse seitens der Politiker Berücksichtigung finden. Aber gerade solche rein „wahltaktischen“ Erwägungen können durch eine sachgerechte und transparente Vorbereitung von Entscheidungen zumindest eingedämmt werden. Die vom wahlpolitischen Kalkül losgelösten Herausforderungen und Inhalte sind bei der Vorbereitung politischer Entscheidungen weitgehend identisch wie bei unternehmerischen Entscheidungen unter Unsicherheit. Es geht um die Klarstellung der Ziele, das Aufzeigen der Handlungsmöglichkeiten sowie deren erwarteten Auswirkungen und natürlich der mit diesen verbundenen Risiken (siehe Gleißner et al. 2021 mit dem Fallbeispiel EU-Impfstoffbeschaffungspolitik). Wie auch bei strategischen Managemententscheidungen kann eine Handlungsoption dabei durchaus mit einer spezifischen Erhöhung bestimmter Risiken verbunden sein, mit dem Ziel andere – größere – Risiken zu reduzieren. Eine transparente und quantitative Risikoanalyse ist entsprechend beispielsweise wichtig, wenn man wegen der (sehr geringen) medizinischen Risiken einer Impfung mit dem AstraZeneca Impfstoff einerseits (zur Vermeidung) die (deutlich höheren) Risiken einer partiellen Verschiebung von Impfungen gegen COVID-19 verschiebt.
Fazit
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass man als Rahmen für politische Entscheidungen unter Unsicherheit viel lernen kann von den Anforderungen an Managemententscheidungen unter Unsicherheit. Es gilt ein defensives Entscheiden, den Versuch jedes Risiko zu vermeiden, ebenso entgegen zu wirken wie eine nicht adäquate Berücksichtigung von Risiken im Entscheidungskalkül. Der Weg zu einer sachgerechten Berücksichtigung von Chancen und Gefahren (Risiken) bei politischen Entscheidungen kann eine Political Judgment Rule sein. Sie sollte klarstellen, dass kein Politiker haftet für Glück oder Pech. Für dieses Haftungsprivileg, das etwas deutlich anderes ist als eine pauschale Haftungsfreistellung, ist dann aber eine fundierte und sachgerechte Entscheidungsvorbereitung zu fordern. Zentrales Element ist eine die Entscheidung vorbereitende fundierte Analyse von Risiken – und dabei notwendigerweise der Aufbau von mehr Kompetenz im Bereich Risikoanalyse und Entscheidungsfindung unter Unsicherheit im politischen Prozess. Fähigkeit im Umgang mit Unsicherheit ist ein wichtiges Element für einen „robusten Staat“ (Gleißner 2020b).
Literatur
Blum, U. (2016): Wirtschaftskrieg – Rivalität ökonomisch zu Ende denken, Universität Halle-Wittenberg, Halle 2016.
Blum, U., Gleißner, W. (2021): Mehr ökonomischer Sachverstand bei der Corona-Bekämpfung, in: Die Welt, 5.2.2021, 2.
Downs, A. (1957): An Economic Theory of Democracy, New York.
Follert, Florian (2018): Die Bürger-Politiker-Beziehung im Lichte der Neuen Politischen Ökonomie. der moderne Staat 11, 233–252.
Follert, Florian (2020a): Improving the Relationship between Citizens and Politicians: Some Economic Remarks from an Agency-Theoretical Perspective. Munich Social Science Review, New Series 3, 171–184.
Follert, Florian (2020b): Warum haften Politiker eigentlich nicht mit ihrem Privatvermögen? WirtschaftsWoche 45 vom 30.10.2020, Der Volkswirt, 40.
Follert, Florian (2021): Neue Regeln für neues Vertrauen: Ökonomische Überlegungen zur Bürger-Politiker-Beziehung, LI-Paper, Liberales Institut Zürich (Hrsg.).
Follert, Florian und Widmann, M. (2020): Politisches Aktionismus: Zum Referentenentwurf (Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarktintegrität) aus Sicht der Neuen Politischen Ökonomie. Wirtschaftliche Freiheit – Das ordnungspolitische Journal vom 14.11.2020, http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=28183.
Gleißner, W. (1998): Heuristische Geldpolitik – Theorie und Empirie für Deutschland und Europa, in: Dresdner Beiträge zur Volkswirtschaftslehre, Heft 4/1998, 1–23.
Gleißner, W. (2018): Risiko, Volkswirtschaft und Wohlstand, in: Growitsch, C., Loose, S., Wehrspohn, R. B. (Hrsg.): Beiträge zu Wirtschaftspolitik und -forschung – Festschrift anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Blum, Center for Economics of Materials CEM, Halle (Saale) 2018, 55–68.
Gleißner, W. (2019): Cost of capital and probability of default in value-based risk management, in: Management Research Review, Vol, 42, Heft 11/2019, 1243–1258.
Gleißner, W. (2020b): Der robuste Staat – Ein strategischer Rahmen zur Absicherung gegen Krisen und Katastrophen, auf: www.ludwig-erhard.de, 17.04.2020.
Gleißner, W. (2021): Unternehmerische Entscheidungen – Haftungsrisiken vermeiden (§ 93 AktG, Business Judgement Rule), in: Controller Magazin, Heft 1/2021, 16–23.
Gleißner, W., Follert, F., Daumann, F., Leibbrand, F. (2021): EU’s Ordering of COVID-19 Vaccine Doses: Political Decision-Making under Uncertainty. International Journal of Environmental Research and Public Health 18(4), 2169, doi: 10.3390/ijerph18042169.
Graumann, M., Linderhaus, H., Grundei, J. (2009): Wann ist die Risikobereitschaft bei unternehmerischen Entscheidungen „in unzulässiger Weise überspannt”? Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis, Heft 5/2009, S. 492–505.
Knight, F. H. (1921): Risk, Uncertainty and Profit, Reprint, Chicago 1921.
Marquart, A., Bagus, P. (2017): Wir schaffen das – alleine! München.
Müller-Vogg, H. (2021): Masken-Affäre: Müssten 10.000 Euro im Monat Abgeordnete nicht vor Gier schützen? Focus vom 12. März 2021. Verfügbar unter: https://www.focus.de/politik/deutschland/kommentar-von-hugo-mueller-vogg-in-den-bundestag-gewaehlt-und-endlich-richtig-kasse-machen-muss-nicht-sein_id_13073420.html.
Risk Management Association e. V. (RMA): Managemententscheidungen unter Risiko. Haftung – Recht – Business Judgement Rule, ESV, Berlin 2019.
Sinn, H.-W. (1980): Ökonomische Entscheidungen bei Ungewissheit, Tübingen.
[1] Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article228201629/Corona-Hilfen-fuer-islamische-Extremisten-Bandenmaessiges-Vorgehen.html.