Gibt es höhere oder niedrigere Steuern, wenn Bürgerinnen und Bürger direkt anstelle von Parlamenten entscheiden? Eine neue Studie zeigt: Es kommt ganz auf die Steuer an. Die Grundsteuer, die alle zahlen müssen, dürfte eher sinken. Für Unternehmen ändert sich dagegen wenig – die Hebesätze der Gewerbesteuer bleiben fast unverändert. Die Ergebnisse beruhen auf einer Ausnahmeregelung des Grundgesetzes, die direkte Demokratie auf kommunaler Ebene in Deutschland erlaubt. 30 von knapp 11 000 Gemeinden in Deutschland wählen keine Gemeinderäte, sondern haben eine Gemeindeversammlung aller Wahlberechtigten als Kommunalvertretung.
Direkte Demokratie wird weltweit immer populärer. Das Brexit-Referendum oder die Verfassungsreferenden in Irland und der Türkei sind aktuelle Beispiele für wichtige politische Entscheidungen, die direkt durch die Bürgerinnen und Bürger getroffen wurden. Auch im Kleinen verbreitet sich direkte Demokratie immer stärker. In Deutschland werden auf lokaler Ebene jedes Jahr inzwischen mehr Initiativen für direkte Demokratie gezählt als in mehreren früheren Jahrzehnten zusammengenommen (Mehr Demokratie e.V. 2020).
Direkte Demokratie verändert zweifellos die Mechanismen von Politik. Statt Entscheidungen an Vertreter zu delegieren, entscheiden die Bürgerinnen und Bürger direkt. Diese sind dadurch deutlich mehr gefordert, sich zu informieren, zu diskutieren und Entscheidungen selbst abzuwägen. Dafür steigen jedoch auch die Verantwortung und der Einfluss auf das politische Alltagsgeschäft.
Interessant ist nun, ob sich unter direkter Demokratie auch die Ergebnisse von Politik verändern, zum Beispiel Steuersätze. Steuern sind die wichtigste Einnahmequelle des Staates und Kern von Finanz- und Wirtschaftspolitik. Die Messung des Effektes von direkter Demokratie auf Steuersätze ist jedoch schwierig. Zu hohe oder zu niedrige Steuern rufen im Zweifel die Bürgerschaft auf den Plan und provozieren Initiativen und Bürgerbegehren. Was ist also Henne, was ist Ei? In diesem Beitrag wird eine neue Studie zusammengefasst. Diese zeigt, dass direkte Demokratie durchaus einen Einfluss auf Steuergesetzgebung haben kann. Die Grundsteuersätze sinken in kleinen Gemeinden in Schleswig-Holstein, in denen keine Gemeinderäte gewählt werden, sondern Gemeindeversammlungen aller Bürgerinnen und Bürger entscheiden.
Direkte Demokratie in deutschen Kleinstgemeinden
In einer neuen Studie nutzen Geschwind und Rösel (2022) ein Kuriosum im Bundesland Schleswig-Holstein, um die Wirkung von direkter Demokratie auf Steuern kausal zu isolieren. In einer wenig beachteten Passage erlaubt das deutsche Grundgesetz, dass in Gemeinden an die Stelle von gewählten Gemeinderäten auch Gemeindeversammlungen aller Bürgerinnen und Bürger – also direkte Demokratie – treten kann (Art. 28 Abs. 1 S. 4 GG). Nur Schleswig-Holstein macht gegenwärtig hiervon per Landesgesetz Gebrauch. Für Kleinstgemeinden gilt: Haben Gemeinden zu einem bestimmten Stichtag nur 70 Einwohner oder weniger, wird für die kommende Legislaturperiode kein Gemeinderat gewählt. Stattdessen tritt eine Gemeindeversammlung aller Bürgerinnen und Bürger zusammen. Die Gemeinden haben dabei keine Wahl. Die Grenze von 70 Einwohnern ist zwingend und bindend. Nahezu gleich große Gemeinden haben also unterschiedliche Institutionen: ein oder zwei Einwohner über oder unter 70 Einwohnern machen den Unterschied. Gegenwärtig haben rund 25 Gemeinden in Schleswig-Holstein Gemeindeversammlungen, eine ähnliche hohe Zahl von Gemeinden liegt nahe oberhalb des Grenzwerts von 70 Einwohnern. In den vergangenen 40 Jahren hatten etwa 36 Gemeinden wenigstens einmal Gemeindeversammlungen (Abb. 1).
Niedrigere Grundsteuer, kein Effekt bei der Gewerbesteuer
Gemeinden in Deutschland betreiben eigene Steuerpolitik. Sie legen die Hebesätze für die landwirtschaftliche Grundsteuer A, die allgemeine Grundsteuer B sowie die Gewerbesteuer fest. Geschwind und Rösel (2022) zeigen in ihrer Studie, dass in Kleinstgemeinden in Schleswig-Holstein an der Grenze zwischen direkter Demokratie und Gemeinderäten die Steuersätze erkennbar springen. Die Autoren nutzen hierfür einen großen Paneldatensatz, der Steuersätze in Schleswig-Holstein über mehr als 40 Jahre hinweg dokumentiert. Gemeinden mit 68 oder 69 Einwohnern sollten sich kaum von Gemeinden mit 71 oder 72 Einwohnern unterscheiden, haben aber rund 10 bis 15 Prozent niedrigere Grundsteuersätze (Abbildung 1). Kein Sprung ist dagegen bei der Gewerbesteuer sichtbar. Gemeinderäte und Gemeindeversammlungen besteuern Unternehmen also in ähnlicher Weise, Unterschiede werden aber beim Grundeigentum gemacht.
Andere methodische Ansätze wie Difference-in-Differences- oder Event-Study-Schätzungen bestätigen die Ergebnisse (Geschwind und Rösel 2022). Etliche Gemeinden in Schleswig-Holstein wechselten im Laufe der Zeit mehrfach zwischen parlamentarischer Demokratie und direkter Demokratie hin und her. Diese Wechsel spiegeln sich auch in Änderungen der Grundsteuer wider, nicht jedoch bei der Gewerbsteuer.
Weitere Robustheitsanalysen aus anderen Bundesländern bekräftigen die Ergebnisse. Zum Beispiel sind in Rheinland-Pfalz – einem Bundesland mit ebenfalls sehr kleinen Gemeinden, aber ohne Gemeindeversammlungen – bei 70 Einwohnern keinerlei Sprünge in den Steuersätzen zu sehen. In Brandenburg wurden 1994 für Gemeinden mit weniger als 100 Einwohner Gemeindeversammlungen freiwillig möglich. Im gleichen Jahr fielen in dieser Gemeindegrößenklasse die Grundsteuersätze stark ab, keine Reaktion ist dagegen bei der Gewerbesteuer sichtbar (Geschwind und Rösel 2022).
Welchen Unterschied macht direkte Demokratie?
Insgesamt verabschieden Gemeindeversammlungen somit tendenziell niedrigere Hebesätze für Steuern, welche einen großen Personenkreis betreffen. Schleswig-Holstein ist stark landwirtschaftlich geprägt, dies erklärt den Gleichlauf von Grundsteuer A und Grundsteuer B. Außerdem werden Grundsteuer A und Grundsteuer B oftmals gemeinschaftlich angepasst. Dagegen finden sich keine Effekte bei der Gewerbesteuer, obwohl die Wirtschaftsstruktur in den untersuchten Kleinstgemeinde kaum vom Landesdurchschnitt abweicht. Diese Selektivität spricht dafür, dass direkte Demokratie vor allem über eine stärkere Differenzierung von Politik wirkt. Anders als bei Gemeinderatswahlen können Bürgerinnen und Bürger jederzeit und getrennt über einzelne Steuersätze abstimmen und müssen sich nicht am Wahltag für ein Bündel an politischen Positionen entscheiden.
Geschwind und Rösel (2022) zeigen, dass andere Mechanismen keine Erklärung für die sinkenden Grundsteuersätze bieten. Weder die Größe der Kommunalvertretung noch deren Zusammensetzung können die Unterschiede in den Hebesätzen erklären. Auch die geringe Gruppengröße der untersuchten Gemeinden ist für die Analyse von Vorteil. Direkte Demokratie hat selbst in Kleinstgemeinden mit wenigen Einwohnern einen Effekt, obwohl dort die soziale Kontrolle der gewählten Gemeinderäte sehr hoch sein dürfte. Schließlich finden Geschwind und Rösel (2022) auch keine Evidenz für die Hypothese, dass unter direkter Demokratie „überhöhte“ Ausgaben heruntergefahren werden (Frey 1994).
Schlussfolgerung
In diesem Beitrag wurde eine neue Studie zusammengefasst, die die Wirkung von direkter Demokratie in deutschen Kleinstgemeinden untersucht. 30 von knapp 11 000 Gemeinden in Deutschland wählen keine Gemeinderäte, sondern haben eine Gemeindeversammlung aller Wahlberechtigten als Kommunalvertretung. Die Ergebnisse zeigen, dass die Grundsteuer unter direkter Demokratie sinkt, nicht aber die Gewerbesteuer. Bürgerinnen und Bürger stimmen also punktuell anders ab als Parlamente. Völlig andere politische Entscheidungen sind jedoch nicht zu erwarten. Direkte Demokratie kann in parlamentarischen Demokratien deshalb eine sinnvolle Ergänzung sein.
Literatur
Frey, B. (1994): Direct Democracy: Politico-Economic Lessons from Swiss Experience, American Economic Review 84 (2), 338-342.
Geschwind, Stephan und Felix Rösel (2022): Taxation under direct democracy. Journal of Economic Behavior & Organization 200, 536-554.Mehr Demokratie e.V. (2020): Bürgerbegehrensbericht 2020, Berlin, https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2020-09-28_Bu__rgerbegehrensbericht_Web.pdf.
Hinweis
Dieser Beitrag beruht im Wesentlichen auf einem Blogbeitrag für das Portal „Ökonomenstimme“ (https://www.oekonomenstimme.org/artikel/2021/08/buergerinnen-und-buerger-wollen-niedrigere-steuern-als-parlamente–manchmal-zumindest/) und erschien in ähnlicher Form in ifo Dresden berichtet, 2021, 28, Nr. 5, 7-9.
Das Ergebnis ist nicht überraschend: Gewerbesteuer zahlt eine kleine Gruppe von Unternehmen, während der Durchschnittsbürger sich davon nicht betroffen fühlt. Er kann ein Geschäft zulasten Dritter machen, wenn die Gemeinde die Gewerbesteuer erhöht.