Putins Machtlogik und der Reformbedarf im Westen

Wer Frieden in der Ukraine will, muss die Motive Vladimir Putins verstehen. Dazu gibt es viele Analysen. Zumeist stellen sie konkrete Ziele ins Zentrum: die Abwehr einer vermeintlichen Bedrohung Russlands durch die NATO, das Streben nach territorialer Expansion oder gar die Rekonstruktion der Sowjetunion. Doch die moderne politische Ökonomik empfiehlt einen anderen Ansatz. Wie alle politischen Entscheidungsträger sollte auch Putin nicht als Ideologe oder gar Träumer verstanden werden, sondern als jemand, der seine Macht sichern und ausbauen will, dabei aber Einschränkungen unterliegt.

Putins Entscheidungen folgen zugleich geopolitischen Restriktionen und einer strengen innenpolitischen Machtlogik. Dabei beeinflussen seine außenpolitischen Schritte die Stabilität seiner Herrschaft im Inneren. Folglich müssen die außen- und innenpolitischen Dynamiken zusammengedacht werden, um die Handlungen des Kremls in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen.

Putins Zwangsjacke

Sechs zentrale Einschränkungen lassen sich identifizieren, die durch internationale Entwicklungen sowie Putins frühere Politik bedingt sind und seinen Weg in den Krieg begünstigten:

(1) Innere Struktur des Regimes. Über mehr als zwei Jahrzehnte entwickelte sich Russland unter Putin zu einer autoritär-mafiösen Herrschaftsform, in der politische Macht und wirtschaftliche Ressourcen eng verflochten sind. Der Staat wurde zur Beute einer kleptokratischen Elite, die ihre Profite aus der Ausbeutung fossiler Energieträger zieht. Eine Rückkehr zu rechtsstaatlicheren, liberaleren Verhältnissen brächte für viele dieser Akteure große Risiken – nicht zuletzt, weil ihre Vermögen dann als illegal oder zumindest illegitim gelten dürften. Die Loyalität der Eliten gegenüber dem Präsidenten basiert damit auf gemeinsamen Interessen, nicht (nur) auf politischer Überzeugung.

(2) Schwäche des russischen „Geschäftsmodells“ – der Ausbeutung fossiler Ressourcen. Infolge der europäischen Dekarbonisierungspolitik, des technologischen Fortschritts bei alternativen Energien sowie der Renaissance der Kernkraft dürfte die Nachfrage nach Öl und Gas in Zukunft im Vergleich zum Angebot sinken. Das lässt mittelfristig die realen Preise für Rohöl und Gas fallen und beschädigt das bisherige russische Geschäftsmodell. Russland bräuchte also einen Übergang zu einer innovationsgetriebenen Wirtschaft. Doch das erfordert Liberalisierung und Demokratisierung – eine Bedrohung für Putins Machtzirkel, dessen Reichtum auf der Kontrolle von Staat und Wirtschaft basiert. Die strukturelle Fixierung auf Rohstoffexporte limitiert nicht nur das ökonomische Potenzial Russlands, sondern macht es auch zunehmend abhängig von Asien, dabei insbesondere von China.

(3) Wirtschaftliches Aufblühen der Ukraine. Ab 2015 entwickelte sich die Ukraine wirtschaftlich erstaunlich gut. Erstmals wuchs das Pro-Kopf-BIP der Ukraine schneller als das russische. Für das autokratische Regime Russlands war das höchst gefährlich – vor allem, weil die Ukraine ein kulturell und sprachlich verwandtes Land ist. Eine aufblühende Ukraine drohte russlandintern als positives Gegenmodell zur putinschen Herrschaft wahrgenommen zu werden – vergleichsweise demokratisch, wachsend, offen – und wäre der ideale Zufluchtsort für russische Unternehmer, Start-ups und die politische Opposition. Der Ukraine-Konflikt ist damit auch ein Kampf um Narrative, um die Deutungshoheit über Modernisierungspfade im postsowjetischen Raum.

(4) Drohende Volksaufstände. Ja stärker ein autokratisches Regime kritische Gruppen und Bürger unterdrückt, desto schwächer erscheint normalerweise deren Widerstand gegen das Regime – und desto größer wird die Unsicherheit über seine wahre Position und Stärke, weil sich die Bürger nicht mehr offen äußern und ihre Tätigkeiten vertuschen. Die Folge können überraschende und schnelle Änderungen des sichtbaren Widerstands bis hin zu Massenprotesten und Revolutionen sein. Nachdem solche überraschenden Volksaufstände die russlandfreundlichen Regimes in der Ukraine (Euromaidan 2013/2014) ganz und in Weißrussland 2020 fast zu Fall brachten, musste Putin realistischerweise fürchten, dass auch sein Regime von solchen überraschenden Aufständen erfasst werden könnte. Zudem war vorstellbar, dass das weißrussische Regime einem weiteren Volksaufstand erliegt, was die Position Putins gegenüber dem Westen und der Ukraine weiter geschwächt hätte.

Militärisches Erstarken der Ukraine. Die Ukraine rüstete seit 2014 massiv auf. Zwar glaubten viele deutsche Politiker weiterhin an Putins Friedenswillen und verwarfen noch im Februar 2022 die Warnungen vor einer nahenden Invasion. Doch die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine wurde seit 2014 dank der Unterstützung aus den USA und Großbritannien schnell und stark verbessert. Die Zeit spielte gegen Putin. Je länger er mit einem Angriff wartete, desto schwerer würde es, militärisch zu obsiegen. Dabei sind nicht nur materielle Faktoren entscheidend, sondern auch der wachsende militärische Know-how-Transfer in Richtung Kiew, der die ukrainische Armee nachhaltig in ihrer Verteidigungsfähigkeit stärkte.

Neue Geopolitische Dynamiken. In den 2010er-Jahren glaubten viele, China schaffe den Aufstieg zur Weltmacht allein. Doch das chinesische Modell des autoritär-kontrollierten Kapitalismus stockt. Die Volksrepublik steckt sehr wahrscheinlich in der „Middle Income Trap“: Weiteres echtes Wachstum wäre durch eine stärker Konsumorientierung zu erreichen, die jedoch ohne politische Reformen und Demokratisierung höchst schwierig ist. Die verfehlte No-COVID-Strategie – die aber auch im Westen manche Politiker und Institute sogar nach der weitgehenden Immunisierung dank Impfung und durchlebter Infektion als vielversprechend erachteten – verschärfte die ökonomischen Probleme zusätzlich. Das hat die internationale Machtbalance verändert. Um mit den USA gleichzuziehen, braucht China nun auch Putins Unterstützung, was diesem neue Handlungsspielräume eröffnete. Die entstehende Zweckallianz zwischen Moskau und Peking ist damit Ausdruck beidseitiger Schwächen, nicht komplementärer Stärken.

Ausweg Krieg

Der schreckliche russische Krieg in der Ukraine erscheint aus dieser Perspektive nicht als Abenteuer Putins, sondern als logischer Schritt. Putin stand unter innenpolitischem und ökonomischem Druck. Gleichzeitig bot sich ihm eine strategische Gelegenheit: eine Ukraine, die militärisch noch verwundbar war; ein durch übermäßig teure COVID- und Klimapolitik finanziell ausgelaugter Westen; und ein China, das ihm Auswege aus der Isolation bot.

Putin dürfte sich einen schnellen Sieg erhofft haben, um die Ukraine in einen Vasallenstaat zu verwandeln. Dass dies misslang, dürfte ihn weniger überrascht haben als viele westliche Kommentatoren. Der Krieg war von Beginn an doppelt angelegt: als Option auf schnellen Sieg – und als Ausgangspunkt für einen langen Konflikt.

Ein andauernder Krieg dient mehreren Zwecken: Er rechtfertigt die Repression im Innern, stützt die wirtschaftliche Umorientierung in Richtung Militär und stärkt die Stellung des Regimes. Der militärisch-industrielle Komplex verschafft Putin und seiner Entourage neue Einnahmequellen. Der Krieg ist somit auch Geschäftsmodell. Das gilt leider nicht nur für Russland. Auch in der Ukraine erstarkt ein militärisch-industrieller Komplex, der – derzeit noch verständlicherweise – Ressourcen bindet, aber auch langfristig politische Entscheidungen beeinflusst, was die Demokratisierung des Landes gefährden kann. Allgemein gilt: Je länger Kriege andauern, desto größer wird der innenpolitische Einfluss von Kriegsspezialisten und -profiteuren. Die institutionellen Folgeschäden eines solchen Dauerzustands sind schwer rückgängig zu machen. Aus dieser Perspektive wäre es spätestens nach der abgewehrten Besetzung von Kiew relevant gewesen, wenigstens im Westen über Möglichkeiten einer zeitnahen Beendigung des Krieges nachzudenken.

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Brandbeschleuniger: Der Westen und China

Kurz- bis mittelfristig wirken die Sanktionen gegen Russland in paradoxer Weise: Sie stärken Putins Macht – entgegen den anfänglichen Hoffnungen und Behauptungen der westlichen Regierungen und trotz vielfacher Verschärfungen der Sanktionen. Aus politisch-ökonomischer Sicht ist es nur normal, dass Sanktionen die sanktionierten Regimes durch mehrere Mechanismen stärken (vgl. auch „Wie Sanktionen sanktionierte Regime stärken können“): Güterknappheit und wirtschaftlicher Druck machen die Bevölkerung abhängiger vom Regime. Gleichzeitig konnten regimenahe Akteure sich durch die Übernahme westlicher Unternehmen bereichern. Das Regime kann so die Wirtschaft besser kontrollieren. Es selbst wird zum Spezialisten der Umgehung von Sanktionen, während Unternehmen, die nicht mit dem Regime kollaborieren, darunter leiden. So kommt es zu einem ökonomisch begründeten „Rally around the flag“-Effekt, der weit stabiler und langlebiger ist als diejenigen aufgrund der oft diskutierten psychologischen Ursachen.

Erst sehr langfristig können Sanktionen ihre destruktive ökonomische Wirkung entfalten: Die russische Wirtschaft verliert an Innovationskraft, Kapital fließt ab, und der Investitionsrückstand wächst. So verändern sich Putins Optionen zur Kriegsführung. Für High-Tech-Waffen werden die Ressourcen knapp, aber mit dem Rückgang der realen Kaufkraft wird es einfacher, Soldaten zu rekrutieren und sie für die Zwecke des Regimes zu missbrauchen.

Die Sanktionen zwangen Russland zur Verlagerung seiner Handelsströme – insbesondere nach China und in Länder des globalen Südens. Diese strategische Umpolung stärkt die Kontrolle des Regimes über Exporte und Importe. Zudem fördert sie die geopolitische Allianz mit China, die für die Regimes beider Seiten lukrativ, für den Westen aber gefährlich ist. Dabei gerät besonders Europa in die Zwickmühle, sich zwischen wirtschaftlicher Abhängigkeit und strategischer Autonomie positionieren zu müssen.

In Washington scheint man teilweise diese Dynamik zu erkennen, auch wenn die amerikanische Politik eher erratisch scheint. Die USA haben zwei Optionen: Entweder Russland durch Zugeständnisse aus der Allianz mit China lösen oder Europa mit der „Peitsche“ zu größerer militärischer Eigenverantwortung drängen, um sich selbst auf Asien konzentrieren und Russland isolieren zu können. Die Trump-Administration versucht derzeit beides – wobei eine militärisch eigenständige EU bestenfalls ein Langzeitprojekt ist und die „Peitsche“ bislang kaum Wirkung entfaltet.

MWGA – Make the West Great Again

Doch auch Putins Dilemmata bleiben bestehen: Er braucht den Krieg zur Machtsicherung. Was also kann der Westen tun? Putin eine offensichtliche militärische Niederlage zuzufügen, würde seine Legitimität in Russland untergraben. Er würde die Niederlage deshalb wohl unter Einsatz aller Mittel zu verhindern versuchen und sich dabei immer als Retter Russlands vor fremden Mächten aufspielen. Für den Westen scheint deshalb ein Einfrieren des Konflikts zusammen mit einer geopolitische Isolierung Russlands nach nordkoreanischem Vorbild verlockend. Sie birgt aber große Risiken: Sie stabilisiert die autokratische Herrschaft eher, als dass sie sie untergräbt. Die strukturellen Zwänge, die Putin zum Krieg trieben, lassen sich nicht einfach beseitigen. Ein Abbau der Unterstützung für die Ukraine wäre deshalb sicherheitspolitisch fatal. Die Ukraine am wirtschaftlichen Aufblühen zu hindern, wäre genau so absurd. Innerhalb des Westens die Dekarbonisierung aufzugeben und so dem abgelebten russischen Modell nochmals Leben einzuhauchen, ist derzeit insbesondere in Deutschland klimapolitisch noch schwer vorstellbar. Es könnte jedoch bald als ökonomisch und sicherheitspolitisch notwendig erachtet werden. Denn Klimaschutz ist seit jeher ein globales öffentliches Gut: Eine rasche Dekarbonisierung Deutschlands und Europas leistet allenfalls einen geringen Beitrag zum Weltklima. Es ist politökonomisch naiv zu glauben, dass Klimaschutz in einer von Konflikten – wie dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine – sowie von Chinas geopolitischen Ambitionen geprägten Welt eine ernsthafte Priorität dieser Regierungen darstellt. Damit bleibt – neben einer überraschenden, grundlegenden und positiven Veränderung innerhalb Russlands – doch nur die Isolierung mit einer harten Grenze zwischen der freien Ukraine einerseits und der russischen Ukraine sowie Russlands andererseits. Die verwandten Fälle BRD vs. DDR und Süd- vs. Nordkorea lehren, dass – sobald die Grenze hinreichend fest und gesichert ist – die demokratische Seite aufblüht, und auf der autoritären Seite das Regime sich weitgehend damit begnügt, die eigene Bevölkerung auszubeuten, statt andere Völker zu unterwerfen.

Was also tun? Die Antwort beginnt mit Selbstreflexion. Der Westen hat mit dem demokratischen Kapitalismus das überlegene System. Die USA, Deutschland, Japan, Südkorea, Australien und andere Verbündete vereinen über 1,1 Milliarden wohlhabende Bürger. Viele europäische Staaten zeichnen sich durch ein Modell der sozialen Marktwirtschaft aus, das im Prinzip hohe Wachstumsraten bei einem gewissen sozialen Ausgleich ermöglicht. Russland mit 140 Millionen deutlich ärmeren Einwohnern und China mit 1,4 Milliarden nur rund einem Drittel so wohlhabender Bürger sind wirtschaftlich klar schwächer. Doch die westliche Stärke muss mobilisiert werden.

Viele westliche Regierungen, auch die deutsche, haben ihre wirtschaftliche Basis durch Überregulierung, ineffiziente Klimapolitik, hohe Steuerlasten und eine expansive Schuldenpolitik stark geschwächt. Insbesondere Deutschland leidet unter einer ausgeprägten strukturellen Wachstumsschwäche. Sie kann durch noch höhere Schulden nicht gelöst, sondern höchstens verlängert werden. Denn bald dürfte es den derzeit noch recht soliden deutschen Staatsfinanzen so ergehen wie den französischen Staatsfinanzen. Glaubwürdige militärische Abschreckung aber erfordert starkes wirtschaftliches Wachstum und eine hohe Finanzkraft. Ausgaben auf Pump bringen keine glaubwürdige militärische Schlagkraft, denn der Gegner weiß, dass bald die Luft ausgeht. Zudem genügt es nicht, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen – sie müssen effektiv investiert werden: in die richtige Ausrüstung, in Ausbildung und Motivation der Soldaten – all das ist schwierig.

In Deutschland zu hoffen, dass ausgerechnet jene Anreizstrukturen und politischen Entscheidungsträger, die über Jahrzehnte hinweg zur Aushöhlung der Bundeswehr beigetragen und finanzielle Mittel in eigene politische Projekte umgelenkt haben, nun plötzlich einen effektiven Wiederaufbau schlagkräftiger Streitkräfte ermöglichen, ist kühn. Mehr Schulden allein werden daher keineswegs ausreichen. Notwendig sind vielmehr tiefgreifende institutionelle und strukturelle Reformen in Deutschland sowie Europa, die Effizienz, Innovationskraft sowie Vertrauen stärken und damit die Voraussetzung für dauerhaft hohe Wachstumsraten schaffen – als Grundlage für eine verlässliche Verteidigungsfähigkeit. Eine solche Strategie muss langfristig angelegt und gesellschaftlich breit legitimiert sein. Wie wäre es, die deutsche Verfassung aufleben zu lassen? Da heißt es doch: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.“ Da drängt sich doch ein Volksentscheid auf, über ein großes Reformpaket zur Fokussierung auf eine Wirtschaftspolitik, die ernsthaft relevante Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft verfolgt.

Hinweis: Dieser Beitrag baut auf einem am 8. April 2025 in der NZZ erschienenen Artikel mit dem Titel „Putin braucht den Krieg, der Westen Reformen“ auf.

Reiner Eichenberger und David Stadelmann
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