Bundestag und Bundesrat haben im Frühjahr 2025 in bemerkenswerter Geschwindigkeit drei Artikel des Grundgesetzes neu gefasst und dadurch den öffentlichen Verschuldungsspielraum deutlich ausgeweitet. Zur Berechnung der von der Schuldenbremse maximal erlaubten Kreditaufnahme werden die Verteidigungsausgaben und diverse damit in Verbindung stehende Ausgaben des Bundes nur noch in einem Umfang von 1 % relativ zum Bruttoinlandsprodukt herangezogen (Artikel 115); die Länder erhalten einen Kreditrahmen von 0,35 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (Artikel 109); und über ein neues Sondervermögen werden zusätzliche Kredite in Höhe von 500 Mrd. Euro (gut 1 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt des Jahres 2024) für Investitionen in die Infrastruktur und zur Erreichung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 ermöglicht (Artikel 143h). Unterstellt man Verteidigungsausgaben von insgesamt 3 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, wobei 2 % kreditfinanziert werden, dann beträgt das gemäß Grundgesetz zulässige strukturelle Defizit in den kommenden Jahren etwa 3,7 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt; es verzehnfacht sich also etwa gegenüber dem alten Grenzwert von 0,35 %. Nach Auslaufen des Sondervermögens sind es immer noch etwa 2,6 %.
Die Ausweitung der Staatsverschuldungsmöglichkeiten wurde international und national überwiegend positiv kommentiert. Grundsätzlich ist es tatsächlich so, dass die alte Schuldenbremse unter langfristigen Stabilitätsgesichtspunkten übermäßig restriktiv war; und mit zusätzlichen öffentlichen Investitionen ließen sich die wirtschaftlichen Perspektiven Deutschlands in der Tat verbessern, wenn sie denn potenzialsteigernd eingesetzt werden. Die öffentliche Schuldenstandsquote wird zwar in der Laufzeit des neuen Sondervermögens von 62½ % im Jahr 2024 ausgehend in der Größenordnung von 20 Prozentpunkten zulegen; aber etwas über 80 % sind im internationalen Vergleich immer noch nicht sonderlich beunruhigend. Und der Anstieg der Schuldenquote könnte geringer ausfallen, falls zusätzliche Investitionen das Produktionspotenzial erhöhen.
Allerdings ist deutlich vor den zahlreichen Nebenwirkungen der drastischen Schuldenausweitung zu warnen. Erstens wird durch die Kreditnachfrage der öffentlichen Hand Kapital knapper; dadurch werden Zinsen steigen, mit entsprechenden Auswirkungen auf private Unternehmensinvestitionen und auf den privaten Wohnungsbau. Zweitens werden reale Ressourcen in die Bereiche Verteidigung und Infrastruktur umgelenkt. Dadurch stehen weniger reale Ressourcen für den Konsum zur Verfügung; wenn man den Koalitionsvertrag liest, fallen allerdings Maßnahmen auf, die den Konsum eher stimulieren, wie etwa die deutliche Ausweitung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung. Ohne angebotsseitige Reformen, von denen bislang wenig Konkretes zu hören ist, dürfte es vor allem in denjenigen Bereichen, in denen die Kapazitäten schon heute knapp sind, zu spürbaren Preissteigerungen kommen, so dass der Konsumverzicht in gewissem Umfang über die Inflation erzwungen werden wird – je nach geldpolitischer Reaktion und mit tendenziell eher unerwünschten Verteilungswirkungen. Drittens wird die Zinslast vor allem im Haushalt des Bundes, aber auch in den Haushalten der Länder steigen. Eine Verdoppelung der öffentlichen Zinsausgaben von etwa 1 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt auf 2 % ergäbe sich bereits, wenn die Zinssätze nicht deutlich steigen. Höhere Staatsschulden mögen kurzfristig politisch unliebsame Verteilungsfragen verdrängen können, über kurz oder lang werden diese aber bei der Haushaltsaufstellung angesichts der steigenden Zinslast nicht wegzuwischen sein. Dies gilt umso mehr, als ein substanzieller Teil der geplanten Mehrausgaben das Produktionspotenzial nicht steigern wird. Zusätzliche Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit mögen notwendig sein, aber sie erhöhen nicht das Produktionspotenzial, sondern binden Ressourcen für militärische Zwecke, die für zivile Zwecke dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Infrastrukturinvestitionen erhöhen das Produktionspotenzial nur, wenn es sich um Erweiterungsinvestitionen handelt, die den öffentlichen Kapitalstock dort zunehmen lassen, wo er produktiv wirken kann; regionales Proporzdenken könnte hier zum Beispiel hinderlich sein. Und bloße Ersatzinvestitionen, wie etwa die Sanierung von maroden Brücken, erhalten lediglich den bestehenden Kapitalstock, aber erweitern ihn nicht.
Nicht zuletzt birgt die Änderung des Grundgesetzes auch eine erhebliche Sprengkraft für die europäischen Fiskalregeln. Mit den gegenwärtigen, im vergangenen Jahr reformierten Regeln sind geplante strukturelle Defizite von über 3 % und eine Schuldenquote von über 60 % nicht vereinbar. Es ist nicht auszuschließen, dass hieraus gravierende Probleme für die Finanz- und Preisstabilität im Euro-Währungsgebiet resultieren könnten.
Der kommenden Bundesregierung ist somit zu empfehlen, vorsichtig mit den neuen Möglichkeiten umzugehen. Dass eine höhere öffentliche Verschuldung zulässig ist, heißt noch nicht, dass sie auch im gesamten möglichen Ausmaß sinnvoll ist. Dies gilt insbesondere für die Verteidigungsausgaben. Zwar ist es nachvollziehbar, dass sich die jetzt für erforderlich gehaltenen Mittel nicht kurzfristig aus dem laufenden Bundeshaushalt aufbringen lassen. Aber es ist nicht nachhaltig, Verteidigungsausgaben – die eher konsumtiver denn investiver Natur sind – dauerhaft über immer neue Schulden zu finanzieren.
Außerdem ist wichtig, dass sprudelnde öffentliche Mehrausgaben nicht von den strukturellen Problemen der deutschen Wirtschaft in den Bereichen Demografie, Energie und internationale Wettbewerbsfähigkeit ablenken und den gespürten Reformdruck mindern. Dieser ist nämlich immens; ohne angebotsorientierte Strukturreformen werden die neuen Schuldenmöglichkeiten die in sie gesetzten Hoffnungen kaum erfüllen können; ein Allheilmittel sind sie nicht.
Serie: „Was Schwarz-Rot verspricht„
Joachim Weimann (OVGU): Beim Klima nichts Neues
Tobias Just (IREBS): Bezahlbar, verfügbar, umweltverträglich. Der Koalitionsvertrag verspricht eine moderate Neuausrichtung der Wohnungspolitik
Stefan Seuffert (ALU): Rente im Koalitionsvertrag. Wiederbelebung der doppelten Haltelinie – doppeltes Versprechen oder doppelte Last?
Alexander Eisenkopf (Zeppelin): Was bleibt vom Sondervermögen Infrastruktur für den Verkehr?
Markus Brocksiek (BdSt): Bürokratieabbau quo vadis?
Holger Schäfer (IW): Was wird neu an der „Neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende“?
Norbert Berthold (JMU) und Jörn Quitzau (Bergos): Was Schwarz-Rot verspricht