Die Länder, in denen am Ende des 19. Jahrhunderts in Märchen die Kooperationsbereitschaft gestärkt wurde, wachsen bis heute stärker. Wo dieser Wert nicht positiv konnotiert war, ist das Wachstum heute geringer.
Dass Werte und Normen eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Gesellschaften spielen ist eine altbekannte Hypothese, die – neben vielen anderen – auch von Adam Smith geteilt wurde. Dass Menschen die in ihrer Gesellschaft jeweils gültigen Werte und Normen während ihrer Kindheit erlernen und dann im Laufe ihres Lebens weitgehend unverändert daran festhalten, ist eine ebenfalls weit verbreitete Hypothese. Andererseits beobachten wir in verschiedenen Lebensbereichen einen sehr schnellen Wandel von Werten und Normen, etwa in Bezug auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Um die Relevanz von Werten und Normen über eine relativ lange Frist zu ermitteln, werden Daten benötigt. Das gilt natürlich auch für die Beschreibung von Wertewandel. Der World Values Survey enthält viele Informationen zu Werten und Normen und hat sich zu einer wichtigen Datenquelle entwickelt. Allerdings reichen die Daten nur bis 1981 zurück, aus der ersten Welle liegen zudem nur Daten aus 22 Ländern vor. Was also tun, um die vorherrschenden Werte und Normen von – etwa – 1881 zu ermitteln?
Unsere Idee: wir sammeln traditionelle Märchen aus möglichst vielen Gesellschaften und werten sie auf die von ihnen propagierten Werte und Normen aus. Jahrhundertelang wurden Märchen nicht nur zur Unterhaltung genutzt, sondern haben auch eine wichtige Rolle bei der Erziehung – und der Vermittlung von Werten und Normen – gespielt. Als wichtiger Teil von Folklore wurden sie mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Insofern sind sie eine wichtige Quelle für die historisch vorherrschenden Werte und Normen verschiedener Gesellschaften.
Als Ökonomen sind wir daran interessiert, welche Werte und Normen sich positiv auf die langfristige Entwicklung von Gesellschaften auswirken. Wir wollen wissen, ob bestimmte Normen wachstumsfördernd sind oder nicht. Dazu haben wir die ökonomische Literatur durchforstet und darauf aufbauend insgesamt 36 Variablen kreiert, die wir in sieben Gruppen zusammengefasst haben, nämlich Kooperation, Altruismus, Arbeitsmoral, Unternehmertum, Toleranz, (Ablehnung von) Diskriminierung und das Infragestellen von Autorität. Um es an einem Beispiel konkreter zu machen: Der Faktor „Arbeitsmoral“ knüpft natürlich an Max Weber an und enthält Variablen zu harter Arbeit, Aufmerksamkeit fürs Detail, Ehrlichkeit, Geduld, das Erfüllen von Versprechen und Pünktlichkeit.
Aber bevor wir Märchen auf diese Variablen hin kodieren konnten, mussten wir uns erstmal eine Märchensammlung zulegen. Unser Interesse galt traditionellen Märchen, die in den jeweiligen Gesellschaften populär waren. Der allergrößte Teil unseres Korpus‘ stammt aus Anthologien, die sich in der Regel auf Staaten bzw. Regionen beziehen. Insgesamt enthält unser Korpus mehr als 27.000 Märchen. Unsere Sammlung deckt 172 Länder ab, in denen mehr als 99% der Weltbevölkerung leben. Für die Analyse der Märchen haben wir ein Large Language Model (ChatGPT) genutzt.
Um den Zusammenhang zwischen historisch vorherrschenden Werten und Normen und wirtschaftlicher Entwicklung herzustellen, haben wir ein Standardwachstumsmodell um jeweils einen unserer Faktoren ergänzt. Wir haben dafür die Periode zwischen 1990 und 2019 gewählt. Diese relativ aktuelle Periode erlaubt uns, eine hohe Zahl von Staaten bzw. Märchentraditionen zu berücksichtigen. Für die 140 Länder, für die uns Daten vorlagen, zeigt sich, dass alle sieben Faktoren signifikant mit Wirtschaftswachstum verbunden sind. Wenn wir die 140 Länder in die ärmeren und die reicheren Länder unterteilen zeigt sich, dass die Koeffizienten der ärmeren Länder durchweg höher sind als die der reicheren Länder.
Den Datensatz, auf dem diese Schätzungen beruhen, haben wir Historical Values Survey genannt, in bewusster Abgrenzung zum World Values Survey. Er kann bei der Beantwortung vieler Fragen helfen. So liegt es nahe, dass der Faktor „Infragestellen von Autorität“ Konsequenzen für die Governance Qualität eines Landes und möglicherweise sogar das realisierte Rechtsstaatsniveau haben kann. Derzeit arbeiten wir daran, dieselben Variablen für einige Länder auf der regionalen Ebene zu ermitteln. Für heterogene Staaten wie etwa Indien versprechen wir uns davon zusätzliche Erkenntnisse über die langfristigen Wirkungen von Werten und Normen.
Hinweis: Ein erstes Diskussionspapier zu diesem Projekt habe ich gemeinsam mit Mahdi Khesali und Nadia von Jacobi verfasst. Es ist unter dem Titel „Once Upon a Time: Introducing the Historical Values Survey“ verfügbar und kann hier heruntergeladen werden: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=5378791