Gastbeitrag
Gebietsreformen reduzieren das Heimatgefühl

Bild: Unsplash

Wir zeigen in diesem Beitrag, dass Fusionen von Landkreisen oder Gemeinden negative Auswirkungen auf die Verbundenheit mit dem eigenen Wohnort haben können. Einer von vier Bürgern verliert durch Gebietsreformen seine Identifikation mit der Kommune und damit eine wichtige Basis für soziales Engagement vor Ort. Überschaubare Strukturen sind ein wichtiger Faktor für Heimatgefühl, Ehrenamt und Partizipation vor Ort.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden in vielen Bundesländern die kommunalen Gebietszuschnitte immer wieder verändert. Motiviert durch mögliche Einsparpotenziale und Effizienzgewinne wurden in Gebietsreformen großflächig Nachbarkommunen zusammengelegt – sowohl auf der Gemeinde- wie auch auf der Kreisebene. Kritiker wenden gegen Gebietsreformen ein, dass die kommunale Identität unter (zu) großen, anonymen Strukturen leiden würde (siehe z. B. Henkel 1993). Hierzu kann eine Vielzahl von Mechanismen beitragen. Erstens wächst mit der Größe der Strukturen die räumliche wie auch die „politische Distanz“ zwischen Wählern und Entscheidern. Nach Fusionen entfällt regelmäßig eine Vielzahl ehrenamtlicher kommunalpolitischer Mandate (Rösel 2019). Immer weniger Kommunalpolitiker müssen sich dann um die kaum kleiner werdenden Nöte und Anliegen der Bürger kümmern. In größeren Einheiten werden außerdem frühere Gemeinderäte zu Ortsteil- oder Ortschaftsräten ohne größeren politischen Einfluss herabgestuft. Es entsteht das Gefühl von „Entmachtung“, wenn kommunalpolitische Entscheidungen nicht mehr im eigenen Ort getroffen werden können. In der Schweiz scheitern insbesondere aus dieser Sorge heraus regelmäßig Volksentscheide zu Gemeindefusionen (Strebel 2019). Mit dem historischen Namen, Wappen, Amtssitz der Gemeinde und früher auch Kfz-Kennzeichen entfallen zudem nach Fusionen wichtige Anknüpfungspunkte für kommunale Identität nach Gebietsreformen. Spekuliert wird daher, ob Gebietsänderungen auch mit einem Verlust an Heimatgefühl bzw. lokaler Verbundenheit einhergehen, die ein wichtiger „Motor“ für ehrenamtliches Engagement vor Ort sind (Förtsch und Rösel 2019). Wir untersuchen in diesem Beitrag deshalb die These, ob und inwieweit Gebietsreformen zu einer Veränderung der kommunalen Identität führen.[1]

Daten und Methodik

Unsere Datenbasis sind die European Values Study (EVS) und der World Values Survey (WVS) (für Details siehe EVS 2018 sowie WVS 2015) für die Jahre 2006, 2013 und 2017. Die EVS bzw. der WVS sind unregelmäßig erscheinende repräsentative Befragungen, die gleichzeitig in verschiedenen Ländern durchgeführt werden. In diesem Beitrag betrachten wir nur Deutschland. Im Rahmen von EVS und WVS werden sozioökonomische Merkmale wie zum Beispiel das Alter und das Geschlecht sowie das soziale und politische Engagement der Befragten erhoben. Außerdem werden die Teilnehmer nach ihrer Verbundenheit mit der Gemeinde, Region und Nation befragt. Unser Datensatz beinhaltet rund 5 500 Personen, die Fragen zur Identität beantwortet haben.

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Wir nutzen für unsere Untersuchung räumliche Unterschiede in der Intensität von Gebietsreformen innerhalb Deutschlands. Landkreise wurden flächendeckend in Sachsen-Anhalt (2007), Sachsen (2008) und Mecklenburg-Vorpommern (2011) fusioniert. In Sachsen-Anhalt wurden außerdem in den Jahren 2010 und 2011 Gemeinden großflächig fusioniert, in allen anderen Ländern dagegen höchstens punktuell (siehe Abbildung 1). Wir testen, ob sich in Bundesländern mit Gebietsreformen die kommunale Identität anders entwickelt hat als in anderen Bundesländern, wobei wir für sozioökonomische Unterschiede kontrollieren. Aufgrund der Panelstruktur unserer Daten und der nur in einigen Bundesländern realisierten Gebietsreformen erlaubt unsere Analyse dabei eine kausale Interpretation. Wir vergleichen Bundesländer, die Gebietsreformen durchführten, mit Bundesländern, die keine Gebietsreformen durchführten. Dabei berücksichtigen wir mithilfe der Difference-in-differences-Methodik Unterschiede, die bereits vor den Reformen bestanden (für Details zur Methodik siehe Infobox 1 sowie Blesse und Rösel 2017).

Infobox 1: Methodik

claschabb1Kommunale Identität sinkt nach Gebietsreformen

Unsere Ergebnisse zeigen einen deutlichen Rückgang der kommunalen Identität in den Bundesländern, in denen Landkreise und Gemeinden zu größeren Einheiten fusioniert wurden (Abb. 1). Nach Gebietsreformen sank die durchschnittliche Identifikation der Befragten mit ihrer Kommune um fast 10 Prozentpunkte – verglichen zur Veränderung der kommunalen Identität in Bundesländern ohne Gebietsreform. In allen Schätzungen rechnen wir die Effekte von Alter, Geschlecht, Familienstand und lokalen Charakteristika heraus. Bei einem durchschnittlichen Anteil von Bürgern mit lokaler Identität in Deutschland von rund 40% verliert damit einer von vier Bürgern durch Gebietsreformen seine kommunale Identität. Der Effekt ist nicht nur statistisch signifikant, sondern auch in seiner Größenordnung erheblich.

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Erwartungsgemäß wirken sich Fusionen auf der Gemeindeebene, die das unmittelbare persönliche Lebensumfeld bildet, nochmals deutlich gravierender aus als Fusionen von Landkreisen. Wir beobachten einen auf dem 90%-Niveau statistisch signifikanten Rückgang der kommunalen Identität, wenn Fusionen auf der Kreisebene stattfanden (-6 Prozentpunkte), aber einen nochmals stärkeren Rückgang bei gleichzeitigen Landkreis- und Gemeindefusionen wie in Sachsen-Anhalt (-18 Prozentpunkte).

Diese Ergebnisse liefern einen deutlichen Hinweis, dass die kommunale Identität durch Gebietsreformen leidet. Angesichts der Zusammenhänge zwischen kommunaler Identität und sozialen Aktivitäten bzw. politischen Einstellungen ist insofern zu befürchten, dass Gebietsreformen damit auch einen negativen Einfluss auf ehrenamtliches Engagement und politische Stabilität haben könnten (Förtsch und Rösel 2019, Thum et al. 2019). Eine Vielzahl von Studien weist folgerichtig auch einen Rückgang der Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen nach Gebietsreformen nach (z. B. Rösel 2017, Lapointe et al. 2018, Bhatti und Hansen 2019, Blesse und Rösel 2019; für Überblicksstudien siehe auch Blesse und Rösel 2017, McDonnell 2019).

Fazit

Wir haben gezeigt, dass großflächige Gebietsreformen kommunale Identität reduzieren. Dies ist von hoher politischer Relevanz, da emotionale Verbundenheit mit dem Heimatort ein wichtiger Motor für ehrenamtliches Engagement und soziale Aktivitäten ist (Förtsch und Rösel 2019). Als alternatives Instrument zu Gebietsreformen wird daher immer häufiger die interkommunale Zusammenarbeit genannt (Bergholz und Bischoff 2019). Die freiwillige und punktuelle Kooperation von Kommunen auf bestimmten Gebieten, z. B. bei der Feuerwehr oder einem gemeinsamen Standesamt, erlaubt die Nutzung möglicher Größenvorteile, erhält aber zugleich die Eigenständigkeit und schont damit die Identität der Bürger der beteiligten Kreise und Gemeinden.

Literatur

Bergholz, C. und I. Bischoff (2019), Citizens’ support for inter-municipal cooperation: Evidence from a survey in the German state of Hesse, Applied Economics, 51(12), 1268–1283.

Bhatti, Y. und K. M. Hansen (2019), Voter turnout and municipal amalgamations—evidence from Denmark, Local Government Studies, 45(5), 697-723.

Blesse, S. und F. Rösel (2017), Was bringen kommunale Gebietsreformen?, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 18(4), 307–324.

Blesse, S. und F. Rösel (2019), Merging county administrations – cross-national evidence of fiscal and political effects, Local Government Studies, 45(5), 611-631.

EVS (European Values Study) (2018): European values study 2017: Integrated dataset (EVS 2017). GESIS Data Archive, Cologne. ZA7500 Data file Version 1.0.0, doi:10.4232/1.13090.

Förtsch, M. und F. Rösel (2019), Ehrenamt und Toleranz brauchen lokale Wurzeln, ifo Dresden berichtet, 26(6), 3-7.

Henkel, G. (1993), Der Ländliche Raum, Gegenwart und Wandlungsprozesse in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart.

Lapointe, S., Saarimaa, T. und J. Tukiainen (2018), Effects of municipal mergers on voter turnout, Local Government Studies, 44(4), 512–530.

McDonnell, J. (2019), Municipality size, political efficacy and political participation: A systematic review, Local Government Studies, im Erscheinen.

Rösel, F. (2017), Do mergers of large local governments reduce expenditures?–Evidence from Germany using the synthetic control method, European Journal of Political Economy, 50, 22-36.

Rösel, F. (2019), Anker der Demokratie geschwächt: Sachsen hat seit 1990 drei von vier Kommunalpolitikern verloren, ifo Dresden berichtet, 27(2), 21–22.

Strebel, M. A. (2019), Why voluntary municipal merger projects fail: evidence from popular votes in Switzerland, Local Government Studies, 45(5), 654-675.

Thum, M., Förtsch M. und F. Rösel (2019), Stärkung kommunaler Identität, Gutachten im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Potsdam.

[1] Der vorliegende Beitrag beruht in weiten Teilen auf einer Studie im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit; siehe Thum et al. (2019).

Mona Förtsch und Felix Rösel
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