Im Vorfeld der Sondierungen zu einer möglichen Neuauflage der großen Koalition nennt die SPD die Einführung einer (einkommensabhängig finanzierten) Bürgerversicherung als Voraussetzung für eine Regierungsbeteiligung. Es obliegt dem Beobachter einzuschätzen, inwieweit hinter dieser Forderung auch Verhandlungstaktik stehen mag. Denn die Reformidee wurde bereits in allen vier Bundestagswahlkämpfen seit 2005 beworben, ohne dass sich der Souverän mehrheitlich für eine Regierungsbildung zugunsten dieses Projektes entschieden hätte. Doch von dieser Beobachtung einmal abgesehen stellt sich für den Ökonomen die Frage, warum die Idee der Bürgerversicherung so hartnäckig in der politischen Landschaft vertreten wird und welchen Beitrag der damit verbundene Systemwechsel zur Lösung drängender Probleme zu leisten vermag.
Zunächst ist zu konstatieren, dass ein nach dem Erwerbsstatus und der Einkommenshöhe geteiltes Krankenversicherungssystem ökonomisch nicht zu rechtfertigen ist. Die Zweiteilung in ein umlagefinanziertes gesetzliches Versicherungssystem und eine kapitalgedeckt finanzierte private Krankenversicherungsalternative (PKV) lässt sich nur historisch erklären. Aus ökonomischer Sicht ist es zwar rational, eine allgemeine Versicherungspflicht zu installieren. Denn sobald sich eine Gesellschaft aus humanitären Gründen bereit erklärt, Bedürftigen den Zugang zu einer notwendigen medizinischen Behandlung gegebenenfalls auch auf Kosten des Steuerzahlers zu ermöglichen, droht die Gemeinschaft der Steuerzahler durch Freifahrerverhalten ausgebeutet zu werden. Dieses Schutzinteresse gilt aber universell, das heißt unabhängig von dem Erwerbsstatus und der Höhe des Einkommens einzelner Bürger. Dass sich das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger an der selektiven Wahlmöglichkeit zugunsten einer privaten Krankenvollversicherung stößt, ist somit auch aus ökonomischer Sicht nachvollziehbar.
Doch reicht das aus, um einen Systemwechsel zu begründen? Das Bürgerversicherungsmodell muss sich auch an der Frage messen lassen, welchen Beitrag es zur Lösung der aktuellen Probleme und künftigen Herausforderungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu leisten vermag.
1) Zunächst ist festzustellen, dass die Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV seit der Wiedervereinigung deutlich stärker gestiegen sind als die beitragspflichtigen Einnahmen je Versicherten – im Durchschnitt um mehr als einen Prozentpunkt pro Jahr. Der Befund eines überproportional starken Ausgabenwachstums könnte durch den Einwand einer erodierenden Beitragsbemessungsgrundlage relativiert werden. Doch vergleicht man deren Entwicklung mit dem Wachstum der durchschnittlichen Bruttolöhne und –gehälter oder mit dem Volkseinkommen pro Kopf, dann hält das Wachstum der Bemessungsgrundlage mit der Entwicklung der Konsummöglichkeiten unserer Volkswirtschaft Schritt.
2) Dass die GKV zumindest aktuell nicht vorrangig unter Einnahmenproblemen leidet, zeigt auch das Tableau des Schätzerkreises GKV beim Bundesversicherungsamt. Der rechnet nämlich bei einem unveränderten paritätischen Beitragssatz von 14,6 Prozent damit, dass der Zusatzbeitrag im Durchschnitt aller gesetzlichen Kassen um einen Zehntelpunkt auf 1,0 Prozent sinken kann. Die gute Beschäftigungslage und die günstige Lohnentwicklung sorgen eben nicht nur in der Rentenversicherung, sondern auch in der GKV für ein kräftiges Wachstum der Beitragseinnahmen.
3) Allerding drohen längerfristig Finanzierungsengpässe, weil die Treiber der Ausgabenentwicklung auch über das aktuelle Beschäftigungshoch hinaus wirken. Dabei ist zum einen der medizinisch-technische Fortschritt zu nennen. Zu fragen ist allerdings, warum der Fortschritt ausgerechnet im Gesundheitswesen nicht zu effizienteren Lösungen gleicher Versorgungsqualität führen kann, wie es in anderen Sektoren der Volkswirtschaft zu beobachten ist. Möglicherweise sind es eher die institutionell bedingten Anreize, unter denen Innovationen angeleitet werden, als der medizinisch-technische Fortschritt selbst, die hier problematisch wirken.
4) Daneben führt der demografische Wandel zu erheblichen Anpassungslasten. Denn weil das Gesundheitsrisiko und damit der Behandlungsaufwand typischerweise mit dem Lebensalter steigt, die höheren Altersklassen in einer alternden Bevölkerung aber relativ häufiger besetzt sein werden, steigen die durchschnittlichen Ausgaben einer umlagefinanzierten Krankenversicherung künftig selbst bei unveränderten Fallkosten. Gleichzeitig steigt die Zahl der Ruheständler, die aufgrund des typischerweise niedrigeren Alterseinkommen einen in absoluten Größen gemessen geringeren Beitrag entrichten als GKV-Mitglieder im Erwerbsalter. Die daraus resultierende Finanzierungslücke wird sich nur über höhere Beitrags- und/oder Steuerlasten schließen lassen.
5) Mit Blick auf die Akzeptanz des Solidaritätsprinzips in der GKV liegt hier aber das Grundproblem. Denn unabhängig von der Frage, ob die Finanzierungserfordernisse den bislang beitragspflichtigen Versicherten und Einkommensbestandteilen angelastet oder auf weitere Gruppen und Einkommensquellen verteilt werden, auf mittlere Sicht werden die Kosten des demografischen Wandels auf die Mitglieder der jeweils jüngeren Kohorten überwälzt. Mit anderen Worten: Der Beitrag zum Solidarausgleich zwischen Jung und Alt, den die jeweils jüngeren Kohorten leisten, wird künftig höher ausfallen als bei den Gleichaltrigen heute. Ob dies dem landläufigen Verständnis von Solidarität in der GKV entspricht, wird künftig mit wachsender Dringlichkeit zu diskutieren sein.
Beschränkt man sich allein auf diese Herausforderungen, wird deutlich, dass weder eine Ausweitung des Versichertenkreises noch der Beitragsbemessungsgrundlage durch die Einführung einer Bürgerversicherung in der Lage sein werden, die Probleme auf der Ausgabenseite der GKV zu lösen. Es gilt keineswegs als ausgemacht, dass Selbständige oder Beamte per se zu den für die GKV günstigen Risiken gehören, wenn man zum Beispiel die in der PKV mit eigenen Prämien versicherten Familienangehörigen innerhalb der GKV beitragsfrei abgesichert hätte. Im Gegenteil steht zu befürchten, dass sich – sollten sich die Hoffnungen der Protagonisten auf eine üppigere Finanzausstattung der GKV bewahrheiten – der Reformdruck im gesetzlichen System zumindest vorübergehend abschwächt, also die systematischen Fehlsteuerungen nicht behoben werden.
Doch selbst erste Schritte in Richtung Bürgerversicherung würden kaum zum gewünschten Ergebnis führen: Wollte man zum Beispiel die Mieteinnahmen privater Haushalte der Beitragspflicht in der GKV unterwerfen – ein Vorschlag, der während der Jamaika-Sondierungen aus den Reihen der Grünen in die Öffentlichkeit getragen wurde –, so läge das Entlastungspotenzial selbst im günstigsten Fall bei gerade einmal drei Zehntelpunkten des Beitragssatzes. Dagegen stehen gravierende negative Anreizeffekte auf dem Mietwohnungsmarkt und unerwünschte Ausweichreaktionen der Investoren. Auch die Abschaffung des kassenindividuellen Zusatzbeitrags und dessen Umwandlung in einen paritätisch finanzierten Beitragssatz würde vor allem die wirtschaftliche Entwicklung und den Arbeitsmarkt belasten. Denn sobald eine derartige Umstellung mit steigenden Arbeitskosten einhergeht, was bei kurzfristig nicht reagiblen Tariflöhnen unvermeidlich wäre, sind Unternehmen in einem wettbewerblichen Umfeld zu Anpassungsreaktionen gezwungen, die sich in letzter Konsequenz negativ auf die Einkommens- und Beschäftigungschancen der Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen auswirken.
Entscheidend ist aber der Hinweis, dass die Einführung einer Bürgerversicherung die intergenerative Lastverschiebung, die im Umlageverfahren bei einer alternden Bevölkerung angelegt ist, nicht durchbricht. Vielmehr würde mit der PKV ein System geopfert, dass zumindest für knapp ein Zehntel der Bevölkerung Vorkehrungen gegen eben diese Verschiebung steigender Solidarlasten trifft. Denn in einem kapitalgedeckten System müssen dessen Mitglieder selbständig für die alterungsbedingt steigenden Ausgaben treffen. Vor diesem Hintergrund kann die Lösung des Problems wohl kaum darin bestehen, ein unvollkommenes System (PKV) durch ein anderes unvollkommenes System (GKV/Bürgerversicherung) zu ersetzen. Vielmehr gilt es, die Anstrengungen darauf zu konzentrieren, wie die Systeme mit ihren jeweiligen spezifischen Vorzügen auf ein gemeinsames Ganzes hin entwickelt werden, in dem beides möglich ist: der Schutz vor Risikodiskriminierung wie in der GKV und der Schutz vor intergenerativer Lastverschiebung wie in der PKV.
Literatur
Beznoska, Martin / Pimpertz, Jochen, 2017, GKV-Beiträge auf Mieteinnahmen sorgen kaum für Entlastung, IW-Kurzbericht Nr. 83/2017, Köln, https://www.iwkoeln.de/studien/iw-kurzberichte/beitrag/martin-beznoska-jochen-pimpertz-gkv-beitraege-auf-mieteinnahmen-sorgen-kaum-fuer-entlastung-370870?highlight=mieteinnahmen
Beznoska, Martin / Kolev, Galina / Pimpertz, Jochen, 2017, Makroökonomische Effekte eine paritätischen Beitragsfinanzierung – Eine Analyse aktueller Reformvorschläge für die Gesetzliche Kranken- und die soziale Pflegeversicherung, IW policy paper Nr. 15/2017, Köln, https://www.iwkoeln.de/studien/iw-policy-papers/beitrag/martin-beznoska-galina-kolev-jochen-pimpertz-makrooekonomische-effekte-einer-paritaetischen-beitragsfinanzierung-346018
Kochskämper, Susanna, 2017, Alternde Bevölkerung – Herausforderungen für die Gesetzliche Kranken- und die soziale Pflegeversicherung, IW-Report Nr. 8/2017, Köln, https://www.iwkoeln.de/studien/iw-reports/beitrag/susanna-kochskaemper-alternde-bevoelkerung-330668
Kochskämper, Susanna / Pimpertz, Jochen, 2017, Welche Umverteilungseffekte deckt das Solidaritätsprinzip in der GKV ab? IW-Trends, 42. Jg., Heft 1/2017, S. 105-119, Die https://www.iwkoeln.de/studien/iw-trends/beitrag/susanna-kochskaemper-jochen-pimpertz-welche-umverteilungseffekte-deckt-das-solidaritaetsprinzip-in-der-gkv-ab-215637
Pimpertz, Jochen, 2013, Bürgerversicherung – kein Hilfsmittel gegen grundlegende Fehlsteuerungen, IW policy paper Nr. 12/2013, Köln, https://www.iwkoeln.de/studien/iw-policy-papers/beitrag/jochen-pimpertz-buergerversicherung-kein-heilmittel-gegen-grundlegende-fehlsteuerungen-123776
- Gastbeitrag
Bürgerversicherung: Kernprobleme ungelöst - 2. Dezember 2017
Eine Antwort auf „Gastbeitrag
Bürgerversicherung: Kernprobleme ungelöst“