Am aktuellen Rand
Zeitumstellung, Brexit und das sporadische Funktionieren des EU-Apparats

„Incentives are the essence of economics“ (Canice Prendergast)

1. „Wir machen das.“

Hätte nicht „Wir schaffen das!“ in den letzten Jahren eine so wechselhafte Beliebtheit erlangt, wäre „Wir machen das.“ doch ein überaus positiver Satz, oder? Noch mehr, wenn man den „Vorsatz“ dazu nimmt: „Die Menschen wollen das. Wir machen das.“ So gesprochen vom Vorsitzenden der EU-Kommission Jean-Claude Juncker am 31.8.2018 in einem ZDF-Interview, in dem er zu den Konsequenzen einer Internet-Umfrage über die Abschaffung der jährlichen Zeitumstellungen befragt wurde.

Mit dieser Quellenoffenlegung werden bei den Lesern vermutlich gleich mehrere cerebrale Sensoren reagieren. Konzentrieren wir uns deshalb auf den Sprecher und seine Institution. Jean-Claude Juncker unterfüttert immer wieder seinen Ruf als sinnenfroher und eloquenter Politiker, dessen Zitate ob ihrer Mischung aus herablassender Süffisanz und unverblümter Selbstgefälligkeit von verschiedenen Medien gesammelt werden. Beispiel gefällig? Was bei einer Preisverleihung in bayerischen Landesvertretung in Brüssel 2011 noch ironischen Interpretationsspielraum offen ließ, entfaltete kurz darauf angesichts eines bekannt gewordenen Geheimtreffens zur Griechenlandrettung maximale Brisanz: „Wenn es ernst wird, muss man lügen.“ [1]

Junckers Institution ist die EU, genauer ihre oberste Hierarchie in allen denkbaren Ausprägungen, mit deren Ausdifferenzierung wir uns hier nicht aufhalten und einfach vom „EU-Apparat“ sprechen wollen. Dieser EU-Apparat hat sich nun in den letzten Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten, in breiten Schichten der Öffentlichkeit einen zumindest hinsichtlich der Eindeutigkeit noch schlechteren Ruf als „Wir schaffen das!“ aufgebaut. Er ist für viele zum Idealtypus für politische Abgehobenheit, überbordende Bürokratie und Bürgerferne geworden. Lange Prozeduren, deren Intention sich für Außenstehende oft nur erahnen lassen, bringen am Ende Lösungen, die vermutlich nicht einmal von den wenigen, die sie verstanden haben, als bestmögliche Entsprechung des Bürgerwillens beurteilt werden. Natürlich gibt es auch dazu ein Bonmot von Jean-Claude Juncker, der bereits vor kurz vor der Jahrtausendwende den Brüsseler modus operandi in dankenswerter Klarheit wie folgt beschrieb:

Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.[2]

Was folgt daraus für das aktuelle „Wir machen das“? Nun, nicht viel. Politiker im allgemeinen und Jean-Claude Juncker im Besonderen wurden noch selten für nicht eingehaltene Zusagen gevierteilt. Im vorliegenden Fall gibt es sogar ziemlich verlässliche Auspizien für eine Umsetzung auf der Ebene des EU-Apparats. Es kostet Brüssel nichts, signalisiert doch noch Reste der verloren geglaubten Bürgernähe und schiebt die Umsetzung sehr geschmeidig in die Mitgliedsstaaten ab, denn die müssen final entscheiden, ob und wie das mit der Zeitumstellung in Zukunft weitgehen soll. Außerdem: Wird von EU-Kritikern nicht eine Rückverlagerung von Kompetenzen in die Mitgliedsländer vehement gefordert? Eine bessere Steilvorlage hätte sich Jean-Claude Juncker nicht wünschen können und ein alter Politprofi wie er wird sich (wie seine Brüsseler Kollegen) diese Chance nicht entgehen lassen!

2. Are EU-politicians tougher than Brexiteers?

Einer der Hauptvorwürfe gegen den EU-Apparat bestand und besteht darin, dass die Herren und mitunter auch Damen nur in Sachen eigener Pfründeerweiterung/-verteidigung die gebührende Härte an den Tag legen. Sind dagegen aufmüpfige Mitglieder oder Vertreter von Drittnationen in die Schranken zu weisen, übt man sich im diplomatischen Ausgleich, der allzu oft in finanziellen Zuwendungen zu Lasten der EU-Nettozahler mündet.

Umso mehr überrascht aus dieser Erfahrung die Hartnäckigkeit, mit der die EU samt ihrem Unterhändler Michel Barnier sich Befindlichkeiten Großbritanniens in der Folge des Brexits widersetzt. Es droht eine harte Variante des britischen Austritts und mit Panasonic hat Ende August der erste Weltkonzern die Verlagerung seiner Europa-Zentrale von London in die post-Brexit-EU (in diesem Fall Amsterdam) verkündet. Während Barnier & Co. als tough guys dastehen, haben sich die Gallionsfiguren der Separation in den meisten Fällen mehr oder weniger schmählich zurückgezogen. Nigel Farage und Boris Johnson fügen sich hervorragend in das altbekannte Sprichwort „Als Tiger abgesprungen und als Bettvorleger gelandet!“.

Warum ist das so? Wie bei der Zeitumstellung ist das Zusammenspiel aus Anreizen und Möglichkeiten bzw. Wollen und Können entscheidend. Die ausstiegswilligen Briten haben vermutlich beides unterschätzt. Wenn die EU einen der wenigen großen Nettozahler völlig schmerzfrei ziehen ließe, wäre das ein verheerendes Signal. Entsprechend muss ein Fanal stattfinden, das eine möglichst nachhaltige Abschreckungswirkung entfalten soll. Dies kann sogar funktionieren, denn die Rahmenbedingungen sind für EU-Aussteiger mit hoher Konnektivität zum Binnenmarkt und dem Rest der Welt nicht gerade günstig. Thomas Straubhaar hat das bereits unmittelbar vor der offiziellen Austrittserklärung durch Theresa May beeindruckend klar avisiert:

Denn überall dort, wo wirtschaftspolitisch die EU zuständig ist, und das ist vor allem beim Handel mit Gütern und Dienstleistungen sowie dem Wettbewerbsrecht der Fall, gibt es keine nationalen Verträge Großbritanniens mit anderen Ländern mehr. Das Vereinigte Königreich müsste in langwierigen Neuverhandlungen mit der EU, den USA und allen anderen Staaten bilaterale Abkommen vereinbaren, um alle Fragen von Belang neu regeln zu können.  …

Und weil die Abhängigkeit der Briten gegenüber dem Wohlwollen der EU so offensichtlich ist, wird die EU gegenüber dem Vereinigten Königreich den „brutalstmöglichen“ Verhandlungskurs fahren. Gemäßigte Stimmen werden von den Hardlinern übertönt werden, die sehr wohl die schwache britische Verhandlungsposition zu ihren Gunsten ausnutzen wollen. Und sei es nur, um in populistischer Weise zu Hause politisch punkten zu können.

Damit ist erkennbar, dass die Verhandlungspositionen sehr asymmetrisch sein werden. Ein britisches „Ausscheiden ohne Abkommen“ wäre für Europa ökonomisch eine Bagatelle verglichen mit den Folgekosten für Großbritannien. Deshalb kann die EU relativ gelassen maximale Forderungen stellen. Die Briten hingegen werden sich mit weichen Ergebnissen zufriedengeben müssen.“[3]

Folgen bis heute: Erklärungen und Debatten in Großbritannien reißen nicht ab, eine finale Lösung wird vermutlich erst durch den Fristablauf entstehen und selbst ein – dann vermutlich nicht so betitelter – faktischer Exit vom Brexit ist immer noch nicht ausgeschlossen.

3. Der Fluch der Normalität

Also ein Hoch auf den EU-Apparat? Leider NEIN! Die beiden besprochenen Fälle bleiben, bei aller einzuräumenden Publikumswirksamkeit, letztlich Ausnahmen. Die Normalkonstellation sieht so aus, dass die handelnden Personen in Brüssel entweder nicht die Anreize oder die Möglichkeiten haben, so zu handeln, wie es sich die weit überwiegende Menge des Wahlvolks wünscht. Die Ergebnisse sind entsprechend und die Verdrossenheit der Bürger nur für diejenigen überraschend, welche die offen zutage liegenden politökonomischen Verhältnisse nicht wahrnehmen können oder wollen. Der EU-Apparat wird nicht immer Anlass zur Kritik bieten, er kann sogar an besonders prominenter Stelle öffentlichkeitswirksam punkten, aber der Fluch der Normalität wird bleiben, wenn sich nicht so manches ändert. Auf lange Sicht werden die Briten ihre momentanen Probleme vielleicht sogar als zeitweiliges Ärgernis verbuchen, das durch anschließende Vorteile der Ungebundenheit auf der Zeitachse überkompensiert wird. Warten wir also einfach ab, ob dies eintreten und was Jean-Claude Juncker dann dazu sagen wird!

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[1] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/nach-geheimtreffen-zu-griechenland-juncker-nach-falschen-dementis-in-der-kritik-1641525.html.

[2] Aus Die Brüsseler Republik, Der Spiegel, 27. Dezember 1999.

[3] https://www.welt.de/wirtschaft/article163202896/Warum-ein-Exit-vom-Brexit-wahrscheinlicher-wird.html

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