Harris, Trump und der vernachlässigte Medianwähler

Das Mittelmäßige dauert und regiert am Ende die Welt“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

Harris (zumindest für US-Verhältnisse) links, Trump wie gewohnt rechts – politische Positionierungen, die dem bekannten Medianwähler-Modell deutlich widersprechen. Gab es für sie gute Gründe oder stellen sie selbst einen Grund für das Wahlergebnis dar? Und schließlich: Was folgt aus alledem?

„Nicht noch ein Kommentar zur US-Wahl!“ – so oder so ähnlich werden viele Leser jetzt denken. Ich muss zugeben, dass ich auch ein wenig überlegt habe, ob eine weitere Anmerkung nach überlangem Wahlkampf, Megaberichterstattung am 5.11. und anschließender Meinungslawine mehr oder weniger kompetenter Stimmen im medialen Äther noch einen positiven Grenzertrag bringen kann. Andererseits habe ich in all dem Geschreibsel und Gerede nicht das gefunden, was ich als Ökonom eigentlich erwartet habe – den Rückgriff auf ein altes Modell der Public Choice-Theorie:

Das Medianwähler-Modell

Dieses Modell wurde in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt und hat seither Aufstieg und Niedergang erfahren.[1] Gerade für ein Zwei-Parteien-System liefert es einen sehr plausiblen Zugang zur Positionierung von Parteien und ihren Wahlprogrammen. Basis dafür ist eine eindimensionale Skalierung der Wählerpräferenzen dergestalt, dass jeder Wähler in einem bipolaren Spektrum, beispielsweise links<->rechts, genau an einer Stelle abgebildet werden kann. Je weiter eine Partei oder ein Kandidat mit ihrer/seiner Ausrichtung entfernt ist, umso weniger hat sie/er Aussicht darauf, die Stimme jenes Wählers zu erhalten.

Selbst in Wikipedia findet man die elementare grafische Darstellung dieses Ansatzes (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Median_voter_model.png, was das beschriebene Fehlen des Medianwählers in den aktuellen Kommentaren umso merkwürdiger erscheinen lässt):

Über der Präferenzskala ist zwischen L(inksextrem) und R(echtsextrem) die Dichte der Wählerverteilung eingezeichnet. M bezeichnet den Median, also die Position, bei der die Hälfte der Wähler mehr links und damit die andere Hälfte mehr rechts eingestellt ist. A und B sind zwei Parteien, deren Programm der jeweiligen Position auf der Präferenzskala entspricht. Im direkten Vergleich werden alle Wähler, deren Präferenz links von A liegt, für diese Partei stimmen und umgekehrt alle Wähler rechts von B für B. Was ist indessen mit den Wählern im Bereich zwischen A und B? Die werden sich zunächst je nach der konkreten Dichtefunktion, die stark von der idealisierten in der Grafik abweichen kann, auf die beiden Parteien verteilen. Entsprechend lohnt es sich für A und B, sich in Richtung der gegnerischen Position neu zu positionieren, um möglichst viel von diesem Stimmenpotenzial für sich zu gewinnen. Der Anpassungsprozess für die Stimmenmaximierung findet sein Ende, wenn beide Parteien M einnehmen. Entsprechend wird der Medianwähler bzw. dieses „Mittelmaß“ (allerdings in einer etwas anderen Bedeutung als bei Hegel) die Politik dominieren – wenn schon nicht in theoretischer Reinkultur, so doch in der langfristigen Tendenz.

So weit so gut, aber das widerspricht nicht nur der letzten US-Wahl (mehr dazu unten), sondern auch dem üblichen Verständnis von Parteien und Politikern. Darin nehmen die Akteure in der Demokratie Positionen gemäß ihrer inhaltlichen Überzeugung war und werben beim Wählen dafür, sich ihnen anzuschließen. Das heißt indessen nichts Anderes, als dass Wähler ihre Präferenzen ändern sollen, wodurch in der obigen Grafik die Dichtefunktion verändert wird. Es gibt also im Erfolgsfall keine Verschiebung von A oder B, sondern eine Verschiebung von M in Richtung auf A bzw. B. Insbesondere in den USA mit ihrem für diese Darstellung so geeigneten (faktischen) Zwei-Parteien-System war beides im Zeitverlauf zu beobachten, wobei Ergebnisse im Sinne des Medianwähler-Modells überwiegen.[2] Weshalb sollte man es also diesmal still übergehen?

Harris vs. Trump

Wer jetzt sagt „weil alle Parteien/Kandidaten das Modell nicht beachtet und sich jenseits vom Medianwähler positioniert haben“, lässt das Entscheidende weg: Eine der beiden Parteien musste gewinnen und eine hat am Ende gewonnen. Entsprechend muss sich die andere fragen lassen, ob sie dies nicht durch eine stärkere Annäherung an den Medianwähler hätte verhindern können. Hierzu einige Aspekte:

  1. Dass der Medianwähler eines Landes, in dem es ein Mann mit der Einstellung und der Vorgeschichte eines Donald J. Trump erneut zum aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten bringt, ziemlich weit rechts stehen muss, sollte eigentlich einleuchten.
  2. Dass ein solcher Mann sich nach eigenem Gusto und nicht modellkonform positioniert, ebenfalls. Diese deutlich rechte Position war zudem durch den frühen Erfolg bei der Kandidatenkür der Republikaner als unmittelbarer Gegner für die Demokraten bekannt (und schon lange vorher absehbar).
  3. In der bisherigen Darstellung wurde ein Problem noch nicht angesprochen, das jetzt fairerweise noch kurz zu behandeln ist: Für den finalen Erfolg musste Joseph R. Biden entsprechend den Modalitäten zunächst bei der Kandidatenkür die Mehrheit in der eigenen Partei und dann bei der allgemeinen Präsidentenwahl die Mehrheit im ganzen Wahlvolk erlangen. Liegen die beiden Präferenzverteilungen deutlich auseinander, kann dies ein Problem werden, wenn man sich zum Überspringen der ersten Hürde ungünstig für die zweite positionieren muss. Bei den Demokraten hatte Biden jedoch bereits vor seiner Nominierung einen großen Vorsprung – so groß, dass er programmatisch einigen Spielraum hatte, um danach näher am Medianwähler zu stehen. Anstatt diesen zu nutzen, setzte er jedoch gemeinsam mit seiner Vizepräsidentin den Linkstrend bei den Demokraten fort (vgl. https://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=37489).
  4. Noch weniger kann das 2-Hürden-Problem für Kamala D. Harris gelten, denn die beerbte Biden in einer akuten Notsituation als Kandidatin der Demokraten. Zwar war Bidens Programm auch von ihr vertreten worden, doch hatte sie sicher noch mehr Spielraum für Anpassungen als ihr unglücklicher Vorgänger.

Fasst man all dies zusammen, bleibt der klare Schluss, dass die Vernachlässigung des Medianwählers durch zuerst Biden und dann Harris nicht den Umständen geschuldet war, sondern die in der Wahl gescheiterte Positionierung aus freier Überzeugung vorgenommen wurde. Man mag dies ethisch begrüßen, am Ergebnis des 5. November ändert das allerdings nichts.

Renaissance des Medianwählers?

Welche Lehren werden daraus wohl in den USA gezogen? Was wird in die nächste Präsidentennominierung bei den Demokraten durchwirken? Wenn sich in den nächsten Jahren nicht sehr viel verändert, werden die Republikaner vermutlich mit James D. Vance in die nächste Wahl gehen – zugegeben, das ist spekulativ, aber aus heutiger Sicht die wahrscheinlichste Entwicklung. Dann wird sich vermutlich eine ähnliche Situation wie in diesem Jahr auftun. Werden die Demokraten dann wieder einen Kandidaten bwz. eine Kandidatin mit einem (zumindest für US-Verhältnisse) linken Programm wählen oder wird der Medianwähler stärkeres Gewicht bei der Nominierung erhalten? Erfahrungen aus der Vergangenheit sprechen eher für die zweite Alternative.[3]

Auf Deutschland mit seinem Viel-Parteien-System sind entsprechende Überlegungen nicht ganz so leicht zu übertragen. Trotzdem werden im öffentlichen Raum nach den Erfolgen von AFD und BSW die Diskussionen wieder stärker in der „links<->rechts-Dimension“ geführt. Inwieweit behauptete Verschiebungen des Medians dieser Präferenzverteilung in den letzten Jahren tatsächlich stattgefunden haben, kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Folglich muss auch offenbleiben, ob die aktuelle Situation eine entsprechende Verschiebung repräsentiert oder ob AFD/BSW sich nur mehr um Stimmen „aus der Mitte“ kümmern. Beides kann zum gleichen Ergebnis führen. Als Lehre aus den US-Verhältnissen für die nun bei uns bald anstehenden Bundestagswahlen bleibt jedenfalls festzuhalten, dass man den Medianwähler stärker beachten sollte, wenn man am Ende extremen Parteien nicht sehenden Auges Erfolge erleichtern will.


[1] Vgl. für eine kurze Einführung Holcombe, Public Choice 61, 1989, S. 115-125.

[2] Vgl. McKenzie/Tullock, The New World of Economics, 6th ed., Berlin-Heidelberg 2012, S. 363 f.

[3] Vgl. nochmals McKenzie/Tullock (Fn. 2).

2 Antworten auf „Harris, Trump und der vernachlässigte Medianwähler“

  1. Ein sehr interessanter Beitrag! Hoffentlich lesen ihn die „Politstrategen“ aller demokratisch gesinnter Parteien!

  2. Eine überaus hochauflösende Analyse, welche als Handreichung den Chefdenkern der maßgeblichen Parteien dienen sollte.

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