Über den Umgang mit Unsicherheit und Offenheit
Erfahrungen eines Wirtschaftsjournalisten nach fünf Jahren Finanz- und Wirtschaftskrise

I. Einleitung[1]

Leert jemand ein vollständig mit Wasser gefülltes Viertelliterglas vor den Augen einer Beobachtergruppe bis auf die Hälfte, sagt der überwiegende Teil derer, die das beobachten, nun sei das Glas „halb leer“. Wenn aber dasselbe Glas zunächst leer ist, dann aber mit einem Achtelliter Wasser gefüllt wird, sagt dieselbe Gruppe wie aus einem Munde, nun sei das Glas „halb voll“.

Dass man ein Glas mit gleichem Recht als „halb voll“ oder „halb leer“ bezeichnen kann, ist trivial. Wovon es aber abhängt, welche Beschreibung wir mehrheitlich benutzen, ist schon weniger trivial. „Framing-Effekt“ nennen Psychologen die Tatsache, dass es der Kontext – oder besser: der Rahmen – ist, welcher die unterschiedliche Wahrnehmung und Interpretation eines Sachverhaltes bestimmt.

Was wir in den vergangenen fünf Jahren seit dem Höhepunkt der Finanzkrise nach dem Zusammenbruch der Lehman-Bank erlebt haben, meine Damen und Herren, ist tatsächlich ein Re-Framing, eine Neuvermessung unserer Welt. Damit hatte niemand gerechnet, nicht die Ökonomen, nicht die Politiker, auch die Neunmalklugen nicht, die seither mit dem Geschäftsmodell „Krisenpropheten“ hausieren gehen, und schon gar nicht wir Journalisten.

Ich will Ihnen heute Abend in ein paar Annäherungen aus der subjektiven Perspektive eines Wirtschaftsjournalisten berichten vom Wechselbad der Gefühle in den vergangenen Jahren, welches auch ein Wechselbad der Interpretationen und Deutung war dessen, was gerade passierte. Durch Erfahrungen wird man klug, sagt der Volksmund. Deshalb soll am Ende die Frage stehen, ob wir denn jetzt wirklich klüger geworden sind und wenn ja, inwiefern?

II. Die Ankunft der Unsicherheit

Paradiese sind gefährliche Orte. Adam und Eva können ein Lied davon singen. Es ist die größte Gefahr des paradiesischen Zustands, dass all jene, die in ihm leben, denken, es werde immer so bleiben. Paradiese verleiten zu Unaufmerksamkeit und Sorglosigkeit. Sie nähren das Gefühl falscher Sicherheit. Umso größer ist der Schrecken, wenn es vorbei ist. Könnte es nicht sogar sein, dass dieser Schrecken selbst erst den früheren Zustand als paradiesisch erkennbar macht, während zuvor, mangels alternativer Erfahrung, die Gegenwart des goldenen Zeitalters gar nicht recht gewürdigt wurde?

Seit Mitte der achtziger Jahre lebten die Menschen in einer Art irdischem Paradies, gewiss mit Schwächen und gewiss vielen Ungerechtigkeiten. Aber zumindest in der reichen Welt Amerikas und Europas konnten die Menschen der Meinung sein, ökonomische – und wohl auch politische – Katastrophen blieben ihnen erspart und ihr Wohlstand werde sich – wenngleich nicht immer zu ihrer vollsten Zufriedenheit und nicht für alle gleichmäßig – auf lange Sich noch mehren. „Das zentrale Problem der Depressions-Vermeidung haben wir gelöst“, deklarierte Ökonomie-Nobelpreisträger Robert Lucas im Jahre 2003.

Man hat jene Jahre die Zeit der „großen Mäßigung“ („The Great Moderation“) genannt. Das mag jene überraschen, die gewohnt sind, der Dominanz von Wall Street Unmäßigkeit vorzuwerfen. Doch darum geht es hier nicht. Mit „Great Moderation“ ist gemeint, dass die Ausschläge des Konjunkturzyklus gedämpft und die Erfahrung dauernden Wechsels zwischen wirtschaftlichem Auf- und Abschwung abgemildert, eingeebnet, wenn nicht gar abgeschafft schienen. Allein, dass dies eine Welt ohne (oder allenfalls mit nur geringer) Inflation war, kann gar nicht überschätzt werden, wenngleich das Verschwinden der Inflation alsbald mit Selbstverständlichkeit genommen wurde.

Diese Jahre der „Great Moderation“, in denen ich als Wirtschaftsjournalist groß geworden bin, waren sicherer Zeiten. Und gerade darin steckte ihre größte Gefahr. Denn Sicherheit ist verführerisch: Sie verführt dazu, Risiken falsch einzuschätzen. Zumal dann, wenn alle anderen sich auch so verhalten. Dann hat das Risiko einen zu geringen Preis, oder, anders formuliert: Der Einstiegskurs für riskante Abenteuer (und Investitionen) ist verführerisch niedrig. Das aber wird später sich rächen. Doch wer wollte damals davon wissen?

Dann kam der Schock des Herbstes 2008, als im Abstand von wenigen Wochen über Inflation, Rezession, Deflation und Depression gesprochen wurde. Und als in rascher Abfolge aus einer Finanzkrise eine Weltwirtschaftskrise wurde, die aus Furcht vor Beschwörungsfolgen nur keiner so nennen wollte. Erst war unklar, ob das Geld noch sicher ist, dann machte sich die Sorge um die Jobs breit. Erst flehten die Banken um Geld vom Staat, dann bettelten die Autofirmen um Rettung. Alles Unheil schien plötzlich irgendwie mit der Finanzkrise in Zusammenhang zu stehen. Schließlich kam der Markt als Ordnungsprinzip generell unter Verdacht. In größerer Unordnung hatte man die Welt lange nicht gesehen. Lähmung und Mutlosigkeit ergriff die Menschen: Auch Depression kann anstecken. Und je mehr Menschen von ihr erfasst sind, umso schwerer wurde es, sich aus der Krise zu befreien: Ein Teufelskreis sich selbst erfüllender negativer Erwartungen.

Die Unsicherheit war so groß, dass sich die Kanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Peer Steinbrück vor genau fünf Jahren im Oktober 2008 vor die Kameras stellten um zu beteuern, die Spareinlagen der Bürger seien sicher. Spätestens da wusste jeder, wie groß die Unsicherheit gewesen sein musste – die Gefahr des Bankruns war ganz und gar real. Schon hatte die Bundesbank der deutschen Regierung gemeldet, dass an deutschen Bankautomaten 500-Euro-Noten in gefährlich hoher Stückzahl abgehoben würden. Und die Regierung hatte klugerweise niemandem davon ein Sterbenswörtchen verrraten.

Dabei waren wir Journalisten und auch weite Teile der Öffentlichkeit wenige Wochen vor dem Lehman-Zusammenbruch der Meinung gewesen, das Schlimmste läge bereits hinter uns. „Ich sehe keinerlei Indizien für eine neue Krise“, sagte uns Josef Ackermann, der damalige Chef der Deutschen Bank, in einem Interview. Ackermann, den wir damals entspannt an einem schönen Tag im Mai 2008 in Zürich trafen, war stolz darauf, dass auch unter den Bedingungen der Globalisierung das Krisenmanagement funktioniert hat. „Wir haben das bewältigt.“ Auch die Bankeliten hatten den Glauben – und wollten ihn natürlich auch haben, wie wir heute wissen -, es habe sich um eine zwar ungewohnt heftige, aber letztlich doch lokal begrenzte amerikanische Immobilienkrise gehandelt.

Es ist paradox: Wir hatten die Krise für beendet erklärt, als sie noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte. Wir ahnten nicht, dass das Schlimmste noch vor uns lag – die erste große Schrumpfung der Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert. Es kam die Pleite von Lehman und die Beinahepleite des amerikanischen Risikoversicherers AIG; alles Ereignisse, welche die gesamte Weltwirtschaft in eine Art Schockstarre versetzt haben. Allein die Deutschen fühlten sich genötigt, mit viel Geld ihre Hypothekenbank HRE zu verstaatlichen, der angeschlagenen Commerzbank und einem halben Dutzend Landesbanken unter die Arme zu greifen und zusätzlich 85 Milliarden Euro in die Konjunktur zu pumpen.

Was wir damals ebenfalls noch nicht wussten: Auf die Finanzkrise folge eine Staatsschuldenkrise, deren Ausmaß mindestens ebenso groß, wenn nicht noch heftiger war wie das der Finanzkrise. Als nämlich der Europäische Rat, ebenfalls im Oktober 2008, als Reaktion auf die Bankenkrise jeden Mitgliedsstaat dazu verpflichtete, sogenannte systemrelevante Banken nicht mehr Pleite gehen zu lassen, sondern auf eigene Rechnung zu retten, wurden die Kapitalmärkte hellhörig, die bis dahin den Eurostaaten zu historisch einmalig niedrigen Zinsen Kredit gegeben hatten. Auch die Eurozone hatte bis 2008 im Paradies der Great Moderation gelebt; Währungsstabilität, Inflationsfreiheit und risikolose Verschuldungsmöglichkeiten zum Ausbau paradiesischer Sozialstaaten schienen der Lohn zu sein. Jetzt plötzlich zweifelten sie daran, dass schwächere Eurostaaten in der Lage sein würden, die Bürde der Bankengarantie zu tragen. Infolgedessen stiegen die Zinsspannen zwischen den Staatsanleihen der schwächeren Eurostaaten und den Staatsanleihen der stärkeren Staaten, insbesondere Deutschland, an. Das Retten der Krisenländer – nichts anderes als eine künstliche Zinsverbilligung durch Eurogläubigerländer und EZB – nahm seinen Lauf. Es hält bis heute, mehr schlecht als recht. Und niemand kann sagen, wie und wo es endet.

Unsicherheiten sind, nach der Erkenntnis des Chicago-Ökonomen Frank Knight, mögliche Ereignisse, für deren Eintreten wir keine Wahrscheinlichkeiten angeben können. Das ist zutiefst beunruhigend. Risiken dagegen sind insofern weniger beängstigend und lange nicht so gefährlich, als wir die Wahrscheinlichkeit des Eintretens solcher Ereignisse berechnen können. Deshalb lebt es sich in einer Welt des Risikos komfortabler als in einer Welt der Unsicherheit. Gegen Risiken können wir uns versichern, gegen Unsicherheiten nicht. Was wir aber offenkundig übersehen haben: Der Prozess der Transformation von Unsicherheiten in Risiken war, allen Fortschritten der Mathematik zum Trotz, doch nicht so erfolgreich verlaufen, wie wir gedacht hatten. Wäre es anders gewesen, hätten wir Wahrscheinlichkeiten des Eintretens der großen Finanz- und Eurokrise angeben können, welche sich auch in den Preisen der Staatsanleihen oder der verbrieften Hypothekenkrediten hätte widerspiegeln müssen. Der gerne verspottete ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sprach von „unknown unknowns“: Ereignisse, die wir nicht nur nicht kennen, sondern von denen wir noch nicht einmal wissen, dass wir sie nicht kennen. Das ist viel gefährlicher als zu wissen, dass es eine bestimmte Gefahr geben könnte, die wir nur noch nicht kennen. Die Finanzkrise hat uns überwältigt als ein solches „unknown unknown“. Und wir hatten gemeint, wir lebten in einer Welt berechenbarer und beherrschbarer Risiken.

Jetzt war alles auf einmal da: Bankenkrisen und Staatenkrisen. Das System des Kapitalismus selbst erwies sich, völlig unerwartet, als fragil. Gewiss, Kapitalismus und Marktwirtschaft standen hierzulande immer unter skeptischer Beobachtung und blieben höchst umstritten. Der Kapitalismus hatte ein großes Problem: ein Gerechtigkeitsproblem, zwar effizient, aber nicht gerecht. Deshalb wurde und wird bis heute gefragt, wie viel Ungleichheit wir in unserer Gesellschaft zulassen wollen. Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, plädieren die einen für mehr und die anderen für weniger Umverteilung. Das ist der bekannte Kapitalismusdiskurs. Dass aber der Kapitalismus nicht nur ein Gerechtigkeits- und Verteilungsproblem, sondern auch eine systemisches Problem hat, als Ganzes kippen könnte, das war das Neue, womit weder Linke noch Liberale gerechnet hatten. Dabei hätten sie nur in die Geschichtsbücher schauen müssen.

III. Die Wiederentdeckung der Wirtschafts- und Ideengeschichte oder: „Schlag nach bei Marx & Co.“

Wie konnte das passieren? Ich komme zu den Reaktionen im Deutungsumgang mit der Krise. Dabei geht es zentral um das Vergessen.

Wer heute über die große Krise des beginnenden 21. Jahrhunderts nachdenkt, muss vor allem über das Vergessen reden. „Il n’y a de nouveau que ce qui est oublié“, wusste schon Rose Bertin, die Schneiderin der Marie Antoinette: „Es gibt nichts Neues – mit Ausnahme dessen, was wir vergessen haben.“

Die Sache ist einigermaßen paradox. Denn das Vergessen ist kein Versagen, sondern ein ungemein erfolgreiches Vermögen der Zivilisation. „Zu allem Handeln gehört Vergessen“, wusste Friedrich Nietzsche. Wenn er recht hat, dann gehört auch zu allem Wirtschaften das Vergessen. Und das ist gut so, so paradox es klingen mag. Würden die Menschen und Staaten sich stets daran erinnern, in welch desaströse Lage die Fehleinschätzung von Risiken und Unsicherheiten sie in früheren Zeiten schon einmal geführt hat, sie ließen allen Wagemut und allen Tatendrang resigniert bleiben: Die Erinnerung an alle früheren Krisen würde jegliche Investitions- und Konsumneigung ersticken. Der Übermut folgt aus der Blindheit gegenüber der Vergangenheit. Das Vergessen bietet einen großen Nutzen, so noch einmal Nietzsche, birgt es doch die einmalige Chance, „Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig zu schließen; von dem Lärm und Kampf, mit dem unsere Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegen einander arbeitet, unbehelligt zu bleiben“.

Doch der Preis des Vergessens ist hoch. Die Wiederkehr des Vergessenen als des Verdrängten kommt regelmäßig als Schock daher. Als wir anfingen, die Finanzkrise zu verstehen, sahen wir plötzlich, dass wankende Banken nicht zum ersten Mal die ganze Wirtschaft zum Einsturz brachten. Und als wir anfingen, die Eurokrise zu verstehen, sahen wir plötzlich, dass wankende Staaten, übertreiben sie es mit dem Schuldenmachen, ganze Gemeinwesen an den Abgrund führen können. Bankenkrisen und Staatspleiten sind, historisch gesehen, nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das Reframing, von dem ich am Anfang sprach, muss also mit Erinnerungsarbeit beginnen – mit einem Blick in das Geschichtsbuch. Wenn das Verhältnis von Ausnahme und Regel sich ändert, ändert sich auch die gesamte Wahrnehmung auf den Kapitalismus als Wirtschaftsform.

Was also sagt der Blick ins Geschichtsbuch? Die Antwort ist eindeutig: Krisen gehören zum Kapitalismus wie, sagen wir, die Nacht zum Tag, der Kater zur Trunkenheit oder die Enttäuschung zur Liebe. Noch einmal: Krisen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der Grund liegt darin, dass die Wirtschaftsgeschichte zyklisch verläuft. Eine der großen Entdeckungen der vergangenen Krisenjahre ist die Wiederentdeckung des Zyklus, die ewige Wiederkehr des Gleichen im stetigen Auf und Ab, die gewaltiger ausfällt als es die Verniedlicher eines beherrschbaren Konjunkturzyklus sich gedacht hatten.

Wir Wirtschaftsjournalisten haben in diesem Prozess der Aneignung des Vergessenen vor allem die Ideen von drei Klassikern der Wirtschaftstheorie (wieder)entdeckt: Karl Marx, John Maynard Keynes und Friedrich A. von Hayek. Ich erlaube mir angesichts der mir vorgegebenen Zeit zu allen dreien nur kurze Anmerkungen.

Karl Marx formulierte nicht nur als einer der ersten die Einsicht, dass der Kapitalismus seinem Wesen nach instabil ist und der wirtschaftliche Strukturwandel Zyklen durchläuft, Zyklen von Aufschwung, Boom und Rezession, sondern er führte auch die „überaus hilfreiche Unterscheidung“ (Werner Plumpe) ein zwischen „Krisen an sich“ und „Krisen für sich“: „An sich“ lassen sich alle Umschwünge vom Aufschwung zum Abschwung als Krise begreifen, aber ob sie in einem manifesten Sinn auch Krisen „für sich“ werden, hängt nicht nur von ihrer wirtschaftlichen Dimension ab, sondern auch davon, wie die Zeitgenossen auf das wirtschaftliche Geschehen reagieren. Es gibt sozusagen eine Feedbackbeziehung wechselseitiger Verstärkung von Krisen und Krisenreaktion. Da haben wir also wieder das Framing unseres Wasserglases, jetzt aber deutlich raffinierter: Denn Marx war der Meinung, dass das Framing die Krise selbst beeinflusst. Realwirtschaft und ihrer Wahrnehmung sind nicht unabhängig voneinander. Wie wir die Welt designen, so wirkt die Welt auf uns zurück. Marx Krisentheorie sagt nicht nur etwas über das Wesen des Kapitalismus aus, sondern auch über den Zusammenhang von Erkenntnis und Erfahrung. Nur eine Prophezeiung von Marx ist bis heute nicht eingetroffen: dass nämlich der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen und seinen sich verschlimmernden Krisen zugrunde gehen wird.  „Der Kapitalismus verfügt über die beinahe grenzenlose Fähigkeit, sich selbst neu zu erfinden“, sagt Dani Rodrik, ein linker Harvard-Ökonom, der die Folgen der Globalisierung sehr skeptisch ansieht. Rodrik bekennt aus vollem Herzen: „Es gibt nichts Gleichwertiges zum Kapitalismus, wenn es darum geht, die kollektive ökonomische Energie menschlicher Gesellschaften freizusetzen.“

Der Gedanke, dass Aufschwung und Abschwung nicht nur von „objektiven“ Daten, sondern auch von subjektiven Gefühlen abhängt, wurde von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes noch viel stärker betont als von Karl Marx. Weil Menschen nämlich von „Animal spirits“, von „animalischen Trieben“ geleitet werden, sind sie manchmal euphorisch, manchmal ängstlich; beides beeinflusst ihr wirtschaftliches Handels zutiefst und ist letztlich der Grund für den Wechsel von Boom und Bust. Keynes führt also die Ökonomie zurück auf Psychologie. Weil wir aber die menschliche Natur weder ändern können noch wollen, müssen wir mit Wirtschaftskrisen leben, auch wenn jede Generation zu denken pflegt, „this time is different“, dieses mal ist alles anders und wird es uns aufgrund wissenschaftlicher Einsicht oder politischer Strategie gelingen, die menschliche Natur und das ökonomische Gesetz zu überlisten und in das Paradies der „Great Moderation“ einzuziehen.

Friedrich August von Hayek schließlich, Keynes“˜ großer Antipode, würde seinem Widersacher emphatisch zustimmen darin, dass der Zyklus das große Wunder der Wirtschaftsgeschichte ist. Während Keynes aber mit Strategien einer intervenierenden Fiskal- und Geldpolitik die Schockstarre der Nachfrage im Krisental zu überwinden sucht, liegt für Hayek die Wurzel alles Übels schon im Aufschwung begründet. Zumeist ist es zu billiges Geld, das die Wirtschaftsakteure zu verschwenderischen Investitionen verführt, die am Ende nur zur Bildung von Blasen führen. Hayek hält Keynes vor, seine Instrumente kämen nicht nur zu spät, sondern legten bereits den Ausgangspunkt zur nächsten Krise.

Wir können das im Einzelnen hier nicht weiter verfolgen. Wenn Sie es nicht längst schon getan haben, rate ich Ihnen, sich den wunderbaren Rap zu Keynes und Hayek anzusehen, dann merken Sie, worauf es mir ankommt: Die Wiederentdeckung der zyklischen Struktur des Wirtschaftskreislaufes führt, bei aller Gemeinsamkeit, zu fundamental divergierenden Erzählungen. Das bestätigen auf wunderbare Weise auch die beiden diesjährigen Nobelpreise an Vertreter der Ökonomie der Finanzmärkte. Während Eugene Fama aus Chicago die Hayek-Linie stärkt, wonach Märkte effizient und alle verfügbaren Informationen längst eingepreist sind, weshalb es niemandem vergönnt ist, den Markt zu schlagen, bewegt Robert Shiller sich in der Linie von Keynes: Preise an Finanzmärkten spiegeln nicht nur objektive Informationen, sondern werden von Angst und Gier systematisch verzerrt. Wir haben zwar in der Finanzkrise Denker von früher entdeckt, aber ihre Lehren sind nicht zur Deckung zu bringen. Deshalb auch wird so erbittert gestritten über die Strategien der Rettung aus der Krise. Austerität oder Wachstumsstimulus heißt bekanntlich die Alternative in der Eurokrise. „Bail out“ oder „Bail in“ hieß die Alternative bereits in der Finanzkrise. Soll man Staaten und Banken pleite gehen lassen, damit sie haften für ihre Risikolust in der Vergangenheit und das nächste Mal vorsichtiger werden? Oder soll man sie mit anderer Leute Geld retten, weil andernfalls der Schaden für alle nur noch größer würde. Sie sehen: Die Krise hat uns gelehrt, dass es einen Kapitalismus ohne Unsicherheit nicht gibt. Was aber der rechte Umgang mit der Unsicherheit ist, da trennen sich die Erzählungen, welche die Bücher der Wirtschafts- und Ideengeschichte feil bieten.

IV. Die Wiederentdeckung der Literatur: „Schlag nach bei Shakespeare &Co.“

Ich will zumindest noch kurz auf eine zweite Wiederentdeckung in der Krise eingehen, die Entdeckung der Literatur für das Verständnis der Wirtschaft. Blickt man nämlich mit ein wenig Distanz auf die Erfahrung der vergangenen fünf Jahr, so zeigt sich, dass sowohl Finanz- wie auch Eurokrise im Kern Schuldenkrisen sind. Banken haben mehr Geld ausgeliehen als es gut gewesen wäre, weil sie an die Solvenz ihrer Schuldner – im Nachhinein zu leichtfertig – geglaubt haben und sich satte Gewinne erwarteten, mit denen sie die fetten Boni ihrer Investmentbanker bedienen konnten. Staaten haben sich zu billigem Zins am internationalen Kapitalmarkt mehr Geld geborgt als ihnen gut tat (und Maastricht erlaubt hätte), weil sie darauf setzten, dass im Fall eines Falles sie schon von den Brüdern und Schwestern der Eurozone herausgepaukt würden. So ist es auch gekommen, aber nur um den Preis eines schmerzhaften Austeritätsprogramms.

Hohe Schulden also stehen an der Quelle der großen Krise. Finanzielle Schulden aber kommen allein schon sprachlich sehr schnell in die Nähe zur moralischen Schuld. Vom „Pumpkapitalismus“ sprach der Soziologe Ralf Dahrendorf.

Dabei ist die Sache durchaus ambivalent. Kreditnehmer und Gläubiger stehen nicht nur in einem Schuld-, sondern auch in einem Vertrauensverhältnis. Der Schuldner hat die Chance, seine Investitions- oder Konsumträume zu verwirklichen. Der Gläubiger freut sich darüber, sein Geld zu einem guten Preis (den wir in diesem Fall Zins nennen) verkauft zu haben. Beide glauben sie, dass der Ertrag aus dem geliehenen Geld größer sein wird als die Kosten, die dafür anfallen. Der Gläubiger muss an den Schuldner glauben und daran, dass dessen Einkommen steigt. Denn nur so wird dieser seine Schuld zurückzahlen können. Und der Schuldner muss eine Geschäftsidee haben, die ihn davon überzeugt sein lässt, dass sich am Ende die Verschuldung lohnt. Kein Wunder, dass, wo hier soviel von Glauben die Rede ist, das lateinische Wort Kredit von credere, glauben, stammt.

Ein Kredit hat etwas Verführerisches, eben weil das Versprechen sofortigen Genusses lockt und sich die Frage der Rückzahlung verdrängen lässt. Dass weiß auch der Kreditgeber, weshalb er sich in der Regel mit dem Zins allein nicht zufrieden gibt, der nur den Preis für den gekauften zeitlichen Aufschub und seinen eigenen Konsum- und Triebverzicht darstellt, aber nichts damit zu tun hat, ob der Schuldner seine Schuld auch tilgen kann. Weil das trotz allen Vertrauens riskant ist, verlangt der Schuldner nach Sicherheiten als Pfand. Er kann sich auch einen Bürgen suchen, der im Falle eines Falles geradestehen und haften muss. Weist der Kredit einerseits auf das nötig interpersonale Vertrauen der Vertragspartner, so weist er, aus Sicht des Kreditnehmers, als „Schuld“ („Schulden“), auch auf die rechtliche und moralische Verpflichtung, den Vertrag zu erfüllen.

Das Verführerische ist, wie immer, auch das Gefährliche. Schulden können süchtig machen. Kein Wunder, dass in der Literatur der Kredit gerne als „Pakt mit dem Teufel“ diabolisiert wurde. Der Kreditgeber in Gestalt des Teufels verspricht alle Annehmlichkeiten dieser Welt, und zwar sofort, lässt den Schuldner dafür aber bis in alle Ewigkeit zahlen und fordert zudem als Pfand seine Seele. Doktor Faustus hat seine Erfahrungen mit dieser tückischen Vertragsbeziehung gemacht. Theologisch haftet den Kreditpartnern immer schon etwas Sündhaftes an: „Kein Borger sei und auch kein Verleiher nicht“, warnt Polonius in Shakespeares Hamlet seinen Sohn Laertes. Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood, die ein schönes Buch über „Schulden und die Schattenseiten des Wohlstands“ geschrieben hat, erinnert daran, dass es im englischen Vaterunser nicht nur „Forgive us our trespasses“, unsere Übertretungen, sondern auch „Forgive us our debt“, unsere Schuld, heißen kann und im Aramäischen ein einziges Wort „Schuld“ und „Sünde“ gemeinsam bezeichnet. Im Deutschen wurde im biblischen Vaterunser immer schon „Vergib uns unsere Schuld“ übersetzt.

Das Meisterstück über die Ambivalenz der Verschuldung ist natürlich Shakespeares Kaufmann von Venedig, das Schauspiel zur Finanzkrise, in dem wir erleben, dass Schulden deswegen so gefährlich und verführerisch sind, weil, wenn die Sache schief geht, der Kredit den Schuldner erdrücken, während das Pfand, mit dem er hoffte, den Kredit ablösen zu können, am Ende wertlos ist. Bei Shakespeare hatte der Bankier Shylock, ein Jude, einen Kredit an Antonio, den Kaufmann gegeben, der am Ende sich als Pleitier erweist. Als Pfand für Shylock aber taugen weder dessen Schiffe, die am Meeresgrund zerschollen, noch „ein Pfund von dessen Fleisch“, das Shylock zwar rachelüstig einforderte, aber am Ende nicht bekommt, weil er nichts davon gehabt hätte. In der Finanzkrise aber waren die Häuser am Ende nichts mehr wert, als der Immobilienmarkt zusammenbrach, die doch als Kollateral zur Tilgung der Schuldenlast gedacht waren. Und auch in der Eurokrise wäre ein Zugriff auf die hohen Vermögen etwa der Spanier als Sicherheit für die zinsgünstigen ESM-Kredite politisch mindestens ebenso irreal und hirnrissig wie der Zugriff auf ein Pfund lebendig Fleisch des Kaufmanns von Venedig.

V. Und die Moral von der Geschicht?

Ich breche an dieser Stelle ab, weil Sie ja auch noch feiern wollen, frage am Ende aber, wie versprochen, nach der „Moral von der Geschicht“.

Die Erfahrungen der vergangenen fünf Jahre haben uns geweckt aus dem bequemen Schlaf der „Great Moderation“ und konfrontiert mit einer Welt der Unsicherheit, die kein Ausnahme-, sondern die der Normalzustand ist. Eine Welt der Unsicherheit auszuhalten ist nicht ganz einfach, erfordert mehr psychische, politische und ökonomische Kraft als gedacht. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, nach ein paar Jahren der Krise, kämen wir wieder in eine Welt der Wärme und berechenbarer Sicherheit. Oder präziser: Sollten wir den Eindruck haben, wir lebten wieder in einer Zeit der „Great Moderation“, in der Wachstum der Normalzustand, der Zyklus überwunden und Depressionen von gestern seien, wäre dieser Eindruck höchstes Alarmsignal dafür, dass ein neues Aufbäumen der Krise unmittelbar bevorsteht.

Mehr noch: Der Umgang mit der Krise  den vergangen Jahren hat uns nicht nur gelehrt, dass Schulden gefährlich und die Weltgeschichte krisenhaft sind, sondern darüber hinaus, dass Schulden und Krisen zutiefst ambivalente Erfahrungen sind, nie nur positiv oder nur negativ. Ambivalenzen aushalten zu können, ist zwar einerseits eine Stärke des Menschen, erfordert aber eben auch genau dies: Stärke.

Die Einsichten, über die ich hier gesprochen habe, kamen indessen über Umwege zustande, die in Wirklichkeit gar keine Umwege sind: Über die Beschäftigung mit Ideen- und Wirtschaftsgeschichte und über die Beschäftigung mit Literatur. So kann ich schließen mit einem Rat an Sie, den ich nun auch wieder dem großen John Maynard Keynes verdanke: . Keynes schreibt über seinen Lehrer Alfred Marshall und darüber, was aus seiner Sicht ein Ökonom sein muss: „Er muss einen hohen Standard in mehreren verschiedenen Richtungen erreichen und Talente miteinander kombinieren, die man nicht oft zusammen findet. Er darf, wenn er Ökonom sein will, nicht nur sich mit Ökonomie beschäftigen. Er muss Symbole verstehen und in Worten sprechen. Er muss das besondere im Zusammenhang mit dem Allgemeinen begreifen, und Abstraktes wie Konkretes im selben Gedankengang ertasten. Er muss die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit studieren für die Zwecke der Zukunft. Kein Teil der menschlichen Natur oder seiner Institutionen darf sich völlig außerhalb seines Blickes befinden.“ Ich zitiere das nicht, um Sie zu schrecken. Ich zitiere das, um Sie zu ermuntern, sich in vollen Zügen in die Welt zu stürzen und sich da zu tummeln. Es wird sie von ihrer Profession nicht abbringen, sondern besser zu ihr hinführen. In diesem Sinne gratuliere ich Ihnen allen zu diesem Abschluss.

 


[1] Festrede zur Akademischen Feier der accadis Hochschule in Bad Homburg am 25. Oktober 2013

 

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