Die Digitalisierung der Wirtschaft und ihrer Geschäftsmodelle schreitet mit grossen Schritten voran. „Industrie 4.0“ ist zumindest im deutschsprachigen Europa in aller Munde, mancherorts fast schon inflationär in Gebrauch. Unabhängig von Letzterem und der Tatsache, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, und nicht alles „4.0“ ist, wo „4.0“ postuliert wird: Völlig zweifelsfrei steckt in der im Kern informationstechnologisch-getriebenen Entwicklung gerade für hochentwickelte Volkswirtschaften mit tendenziell hochwertiger Wertschöpfung enormes Potenzial. Die Möglichkeiten der Vernetzung – mitunter in Echtzeit und bei Weitem nicht nur in der Fertigung – sowie die zunehmende Verschmelzung von realer und virtueller Welt über cyber-physische Systeme sorgen für völlig neue Individualisierungs- und Wertschöpfungspotenziale, insbesondere auf dem Gebiet der Spitzen- und Hochtechnologien. Auch ausserhalb des Industriesektors verändern sich die Dinge teilweise disruptiv. Und genau diese neuen Möglichkeiten und Kräfte generieren neben Chancen gleichzeitig Anpassungsbedarfe, um Potenziale tatsächlich in Erfolg ummünzen zu können – auf volkswirtschaftlicher als auch betriebswirtschaftlicher sowie mitunter individueller Ebene. Auch das ist unbestritten.
Ich werde es unterlassen, mich zum Wahrsager aufzuschwingen. Die Zukunft kann nicht gewusst werden, sie lässt sich nicht hintergehen. Aber sie muss auch nicht ertragen werden, sondern lässt sich gestalten. Und man kann sie sehr wohl verschlafen und schon gar nicht gewinnen, wenn man denjenigen Glauben schenkt und das Feld überlässt, die allzu rosige oder allzu dunkle Bilder von ihr zeichnen. Und vor genau diesem Hintergrund sorgen mich an der aktuellen Befassung mit dem Thema „Industrie 4.0“ wenigstens zwei Dinge: Erstens auf volkswirtschaftlicher Ebene die zum Teil völlig überzogenen und haltlosen Spekulationen bzw. gar Behauptungen hinsichtlich der zu erwartenden Beschäftigungseffekte. Zweitens auf unternehmerischer Ebene das teilweise starre Festhalten an tradierten Führungs- und Managementansätzen, die in einer zunehmend komplexen und digitalisierten Welt immer weniger tauglich sind.
Zum ersten Punkt: Es ist absolut nicht so, dass man keine Vorstellungen entwickeln sollte von möglichen Zukünften, und es braucht auf dem unsicheren Gang in die eine Zukunft, die es dann sein wird, auch einen Plan, an dem man sein Handeln ausrichten kann. Insofern ist es wunderbar, dass es Visionen und Bilder auch für die „Industrie 4.0“-Zukunft gibt (siehe zum Beispiel: Zukunftsbild „Industrie 4.0“, Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2014). Sinnvoll weiterhin praxisorientierte Hilfestellungen, die gerade kleinere und mittlere Unternehmen ansprechen und ihnen Orientierung bieten (zum Beispiel: Leitfaden Industrie 4.0 – Orientierungshilfe zur Einführung in den Mittelstand, VDMA et al., 2015 – leider exklusiv für VDMA-Mitglieder. Eine frei zugängliche Kurzvorstellung hier). Richtig interpretiert – nämlich als möglich erachtete Potenziale, um die jedoch gerungen werden muss – sind auch Abschätzungen zu Effekten auf Produktivität und Wachstum durchaus zulässig und stiften Orientierungsnutzen (siehe zum Beispiel: Industrie 4.0 – Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland, BITKOM/Fraunhofer IAO, 2014). Aber wie gesagt: niemand kann sagen, was sein wird. Gleichzeitig ist jedoch offenkundig: Potenziale für eine gute Zukunft sind in Deutschland vorhanden. Die starke industrielle Basis stellt einen idealen Nährboden für eine evolutionäre Weiterentwicklung der Wertschöpfung in Richtung „Industrie 4.0“ dar.
Absolut fehl am Platz sind allerdings methodisch zweifelhafte Studien wie etwa die des World Economic Forum (siehe: The Future of Jobs. Global Challenge Insight Report, World Economic Forum, 2016), wonach „Industrie 4.0“ netto Jobs in Millionenhöhe vernichten wird. Nicht dass man diesbezüglich unschöne Prognosen ignorieren oder erst gar nicht stellen sollte. Allerdings kommt es immer noch auf die Qualität und Seriosität an. Und es ist schon erstaunlich – um bei dem Beispiel der Studie des WEF zu bleiben – mit welch beachtlicher Medienresonanz damit insbesondere diejenigen munter gemacht werden, die schon wieder das Gespenst des personalsparenden technischen Fortschritts in menschenleeren Fabrikhallen herumspuken sehen. Entschuldigung: ein „running gag“ mittlerweile. Was hat man nicht alles für Schwarzmalerei betrieben, als die Industrieroboter quasi als Paradebeispiel von Job-Vernichtern Einzug in die Montagehallen fanden. Immer wenn neue Technologien vor der Haustür stehen, sieht man das Gespenst, die Angst geht um. Und kaum Beachtung finden in dieser Situation Untersuchungen, die weniger gruselige Geschichten zu erzählen haben und auf sachliche Differenzierung setzen. So gehen etwa das IAB und auch das iw Köln nicht davon aus, dass „Industrie 4.0“ ein Beschäftigungskiller sein, sondern allenfalls den bereits seit langem stattfindenden strukturellen Wandel der Arbeitswelten – insbesondere die Entwertung von Routinen – beschleunigen wird (siehe: Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt, IAB-Forschungsbericht 11/2015 sowie Beschäftigungseffekte der Digitalisierung, IW-Trends 3/2015). Unter dem Strich kann die Digitalisierung diesen Erhebungen nach klar als Chance für Erhalt von Wohlstand und Beschäftigung gesehen werden. In diese Richtung weist – als weiteres Beispiel – eine Untersuchung der Boston Consulting Group, die Deutschland als Profiteur von „Industrie 4.0 hinsichtlich Beschäftigungseffekten ansieht (siehe: Industry 4.0 – The Future of Productivity and Growth in Manufacturing Industries, The Boston Consulting Group, 2015). Ebenso stimmt eine von Roland Berger an der Hannover Messe präsentierte Studie (siehe: The Industrie 4.0 transition quantified, Roland Berger GmbH, 2016) optimistisch, welche unter dem Strich keine Arbeitsplatzverluste sieht. Diese Studien fanden natürlich deutlich weniger öffentliche Aufmerksamkeit als die rund um das Davoser Weltwirtschaftsforum platzierte Studie des WEF. Logisch: Mit Hiobsbotschaften gewinnt man Aufmerksamkeit.
Natürlich gibt es die berühmte Glaskugel nicht, die vorliegenden Abschätzungen schwanken denn auch zwischen „minus mehrere Millionen Arbeitsplätze“ und „beachtlich positiven Netto-Effekten“. Wie dem auch sei: Nicht dass es keine potenziell beschäftigungsgefährdenden Effekte von „Industrie 4.0“ gibt. Klar werden traditionelle Jobs in der Industrie verloren gehen, durch andere neue Arbeitsplätze aber mehr als ersetzt. Es gibt meiner Überzeugung somit definitiv keinen Grund für Schreckensszenarien. Auch der Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass technologische Entwicklungen immer schon Anlass zu negativen Spekulationen boten, das oben erwähnte Fortschrittsgespenst wurde schon in Zeiten der Frühindustrialisierung angekündigt. Es kam aber noch nie.
Was zudem sicher ist: Bewusstes Abseitsstehen, in der Hoffnung, Arbeitsplätze dadurch zu sichern, führt garantiert nicht zum Ziel. Es sind bekanntlich nicht die hochentwickelten Industrienationen, in denen Armut, Chaos und Perspektivlosigkeit herrscht, sondern diejenigen Länder, in denen die dortigen politischen Drahtzieher aus vielfältigen Beweggründen Fortschritt torpedieren. Allerdings birgt das immer häufiger zu beobachtende Zeichnen düsterer Zukunftsbilder mehr denn je die grosse Gefahr, dass auch in unseren bislang erfolgreichen Gesellschaften Angst und Technikfeindlichkeit gefördert werden, und dadurch am Ende womöglich tatsächlich Potenzial für Wohlstand und Beschäftigung vergeudet wird. Denn bei aller Unsicherheit dürfte eines gewiss sein: Wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen oder gar technologischen und strukturellen Wandel abzulehnen, sorgt dafür – so sind die ökonomischen Gesetzmässigkeiten nun einmal –, dass den möglichen Entwertungen an der einen dann in der Tat kein Mehrwert an anderer Stelle gegenzurechnen ist. Der Erfolg liegt in einer technologieoffenen, auf Innovation und Flexibilität setzenden Herangehensweise – auf volkswirtschaftlicher, betriebswirtschaftlicher und individueller Ebene.
Was somit bedeutet: Wir müssen uns darauf einlassen, dass Routinen wohl weiter entwertet, neue Fähigkeiten erworben werden müssen sowie selbst höhere Qualifikationen nicht automatisch vor negativer Betroffenheit schützen. Strukturelle Veränderungen in den Arbeitswelten sind aktiv mit zu gestalten und lassen sich auf Dauer nicht aufhalten. Daher ist es auch enorm wichtig, inwiefern die rechtlich-institutionellen Gegebenheiten auf den Arbeitsmärkten den strukturellen Wandel eher begünstigen oder eher behindern. Hier kommt dann der Staat ins Spiel, der auf vielfältige Art und Weise gefordert ist, die richtigen Rahmenbedingungen für eine sich ständig erneuernde und anpassende Wirtschaft zu setzen. Um im Kontext „Industrie 4.0“ positive Impulse zu setzen, sind zudem spezifischere staatliche Massnahmen sinnvoll – etwa der dringend gebotene Breitbandausbau, die Klärung offener Rechtsfragen zur Datensicherheit oder eine steuerliche Forschungsförderung. Die Rolle des Staates möchte ich allerdings in meinem Beitrag nicht näher betrachten (dazu Interessantes siehe beispielsweise hier). Ich möchte in meiner Rolle lieber der Betrachtung der unternehmerischen Dimension noch etwas Raum geben, und ich komme damit zu dem zweiten Schwerpunkt meiner Sorge:
Organisationen und damit auch Führung und Arbeit werden sich durch Digitalisierung radikal verändern! Überall – auf staatlicher, verbandspolitischer und betrieblicher Ebene – wird aktuell fleissig diskutiert (und durchaus auch daran gearbeitet!) über Fragen der Geschäftsmodellinnovation, der Fertigungstechnologien und -prozesse, der rechtlich-institutionellen Gegebenheiten, der Datensicherheit, der Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter (Stichworte: „Internet of things“, „Big Data“, „neue Arbeitswelten“, „Mensch-Maschine-Schnittstellen“, „Digitalkompetenz“) und so weiter. Doch deutlich zu kurz in der Debatte kommt meines Erachtens nach wie vor der Themenkomplex rund um die Fragestellung „Welche neuen Herausforderungen ergeben sich für das Management, das Führen auf Top-Level wie Leadership generell in einem solchen Umfeld?“
Nun ist es gewiss nicht so, dass wir schlagartig eine völlig neue und andere Form von Führung bräuchten. Unternehmen und Arbeit werden sich nicht sofort neu konfigurieren, sie verändern sich Schritt für Schritt, dieser Veränderungsprozess ist bereits in vollem Gange. Wir können bereits heute feststellen, dass die klassische Führung über hierarchische strukturelle und prozessuale Mechanismen deshalb schon seit längerem immer weniger funktioniert. „Mehr und mehr müssen Führungskräfte ausserhalb ihres durch die Aufbauorganisation zugewiesenen Verantwortungsbereichs für Ziele und Orientierung sorgen. Das ist eine schon lange andauernde Entwicklung, die durch „Industrie 4.0“ allerdings eine zusätzliche Dynamik erfährt. Vernetzung, Geschwindigkeit, die Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung von Ereignissen, Digitalisierung, das Verheiraten unterschiedlicher Technologien und Disziplinen, unternehmensübergreifende Kooperationen – das sind nur einige Begriffe, die jedoch zeigen, dass die Anforderungen an Führung steigen. Meinetwegen nennen wir es plakativ Führung 4.0“ – Sätze des sehr erfolgreichen Unternehmers und „Industrie 4.0“-Pioniers Manfred Wittenstein dazu (siehe hier).
Und es ist tatsächlich so, die Komplexität von Führung wird eine andere. Die Wertschöpfung – beginnend mit den ersten Ideen und Diskussionen – findet verstärkt interdisziplinär, über Abteilungen und Unternehmen hinweg, zunehmend international und interkulturell, vielfach auch in firmenübergreifenden Communities statt. Es entstehen neue Formen der Arbeitsorganisation, auch neue Formen der Kundeneinbindung. Die Zeiten zentralistischer, tayloristisch organisierter Wertschöpfungsketten sind vorbei, Hierarchien haben vielerorts ihre Kraft verloren. Mehrwert entsteht in intelligenten Wertschöpfungsnetzwerken, die sich je nach Aufgabenstellung neu konfigurieren müssen. Das Ausrichten von dezentraler Intelligenz und Autonomie auf eine übergeordnete Zielsetzung, noch dazu bei einem grösser werdenden Beeinflussungsbereich – das ist die schwierige Aufgabe, die es zu meistern gilt. Und selbst Unternehmer, die ganz vorne mit dabei sind auf dem Weg in diese neuen Welten, geben es zu: man tut sich hier schwer! Daher noch einmal die Frage: Wie führt man eigentlich in zunehmend digitalisierten Welten, die sich, wie bereits erwähnt, besonders dadurch auszeichnen, dass ein immer grösser werdender Anteil der zu führenden Personen(gruppen) ausserhalb des direkten Verantwortungsbereichs und ausserhalb der eigenen bzw. unternehmensspezifischen Know-how-Felder liegt? Â Personengruppen und Einheiten überdies, die sich immer weniger nach herkömmlichen Mustern führen lassen?
Wer hier die besten Antworten findet, wird das Rennen gewinnen, wer hier keine zukunftstauglichen Antworten findet, wird unter die Räder geraten – auf betrieblicher, aggregiert auch auf volkswirtschaftlicher Ebene. Der Unternehmer führt zum Erfolg oder Misserfolg, seine Fähigkeiten und Möglichkeiten sind die bestimmenden Grössen. Primär ist es naturgemäss die Aufgabe der Unternehmen bzw. deren Führungskräfte, sich dieser Herausforderung zu stellen. Dabei kann es optimale Führung nie geben, dafür sorgen bereits die sich laufend ändernden äusseren Umstände. Aber eben diese Tatsache weist auch den Weg, auf dem man sich dem Ideal der optimalen Führung stetig zu nähern versuchen muss: nicht statisch und zentralistisch, sondern anpassungsfähig und in Netzwerken, nicht entlang von Berichtslinien, sondern über Begeisterung und Orientierung, nicht arrogant und selbstsicher, sondern kritisch-rationalistisch, achtsam und bescheiden im Popper’schen Sinne („Mutmassung statt Anmassung“). Dabei muss man jeden Tag aufs Neue versuchen, seine Fähigkeiten diesbezüglich zu verbessern, wissend dass man nie das perfekte Resultat erzielen kann. Und man muss in diesem Tun „infektiös“ sein, denn mehr und mehr braucht es Multiplikatoren und „Satelliten“ im beschriebenen Hochleistungsnetzwerk; alleine kann niemand führen. Das ist umso bedeutsamer vor dem Hintergrund der Chancen und Risiken neuer Geschäftsmodelle, die sich durch die neuen (skizzierten digitalen und vernetzten) Möglichkeiten auftun. Denn die Erfolgsfaktoren bisheriger Geschäftsmodelle werden auf den Prüfstand gestellt, Wertschöpfungs-, Leistungs- und Erlösmodelle sortieren sich gegebenenfalls völlig neu, verschwimmen mitunter, die entscheidenden Grössen liegen plötzlich ausserhalb des eigenen Unternehmens und direkten Einflussbereichs. Neue Player sind auf einmal höchst relevant oder gar systemdominierend; nicht die bisherigen Wettbewerber sind die grosse Gefahr, sondern bisherige Kunden, Lieferanten oder gar Branchenfremde. Das Management bzw. Führung bisheriger und neuer Wertschöpfung wird damit hochkomplex, und das Verstehen sowie – falls geboten – die Fähigkeiten zu radikalem Neukonfigurieren von Geschäftsmodellen gehören in jeden Ausbildungsrucksack.
Die höchst herausfordernde Frage „Wie geht zukunftsgewinnende Führung“ wird damit noch bedeutsamer, und es ist nach meiner Überzeugung eben deshalb höchst gefährlich, dass dem Thema nicht der erforderliche Raum für eine intensive Befassung gegeben wird. Selbst innerhalb der Unternehmen und dort auf Top-Level – so meine persönliche vielfältige Erfahrung. Wo liegt denn aktuell das grösste Hindernis auf dem Weg zu einer neuen erfolgreichen Form der Führung?
Ist es das bequeme Verharren in hierarchisch geprägter Denke, in einem Verständnis von Wertschöpfung in den Mustern gegebener Aufbauorganisation? Ist es die Angst, in der Vergangenheit scheinbar erfolgreiche Denkmuster und Strukturen gegen Ungewissheit tauschen zu müssen? Ich fürchte, dass Schulterklappen genauso wie ausufernde Reporting-Systeme und Corporate Governance Regelungen für eine Klarheit sorgen wollen, die es längst nicht mehr gibt!
Moderne Führung muss lernen, vermeintliche Gewissheiten gegen Freiheit, Unternehmertum und Möglichkeiten einzutauschen. Moderne Führung hat vor allem für Sinn, langfristige Orientierung, Vertrauen und Selbstvertrauen zu sorgen. Ihr genügen Leitplanken, einige wenige übergeordnete Regeln und vorgelebte Werte. Sie sucht nicht nach einfachen Patentlösungen, Quick Fixes oder Rezepten, lässt sich nicht von Modewellen beirren, sie akzeptiert Komplexität, Ungewissheit, weiss um Nebenwirkungen, gibt sich Zeit, Dinge entwickeln zu lassen, vorhandene Opportunitäten erst dann zu packen, wenn sie „fällig“ sind.
Eine derartiges Führungsverständnis zu entwickeln ist – sowohl aus wissenschaftlicher als auch praktischer, unternehmerischer Perspektive – weder trivial zu erreichen noch universell zu schaffen. Letztlich sind für jedes Unternehmen basierend auf dessen Ressourcenausstattung, Wertschöpfungsarchitektur sowie Werte- und Zielesystem zahlreiche Fragen zu entwickeln und kritisch zu beantworten, die unter anderem lauten:
- Wo liegen die Grenzen zentralistischer, tayloristisch-hierarchisch organisierter Wertschöpfungs- und Führungsmuster?
- Wie funktioniert erfolgreiches Führen in intelligenten Netzwerken?
- Wie schafft und erhält man anschlussfähige und attraktive Hochleistungsnetzwerke mit der Fähigkeit zur Selbststeuerung und Neukonfiguration in Raum und Zeit?
- Wie lassen sich die erforderliche Achtsamkeit sowie die Fähigkeit zur Innovation von Geschäftsmodellen in der Organisation etablieren?
- Wie lassen sich dezentrale Intelligenz und Autonomie auf übergeordnete Zielsetzungen hin ausrichten, ohne dass auf hierarchische Mechanismen zurückgegriffen werden kann?
- Wie erreicht man Anschlussfähigkeit, Orientierung und Konsequenz über Vision, Sinnhaftigkeit und Werte?
- Wie funktioniert Führung durch Multiplikation und „Satelliten“?
Da Digitalisierung Organisationen wie gezeigt tendenziell auflöst, sind diese und weitere Fragen künftig essentiell für den Erfolg von Unternehmen und damit für Wohlstand und Beschäftigung eines Landes. Gerade, wenn der Erfolg auf Innovation und Technologieführerschaft beruht, bedeuten die damit verbundenen guten Voraussetzungen und Chancen nämlich gleichzeitig auch das Plateau für einen möglichen tiefen Fall. Deshalb haben sich Führungskräfte und Unternehmer mit solchen Fragen künftig intensiver auseinanderzusetzen und sich regelmässig zu reflektieren, entweder im eigenen Kreis oder mit Partnern, nur über Herausforderungen zu klagen, nützt nichts.
Tröstlich daher, dass Führung für heutige Zeiten aber beileibe nicht neu erfunden werden muss, Wissen vorhanden ist, um für sich auf Unternehmensebene nach geeigneten Anpassungen und Lösungen zu suchen. Es gibt in der Literatur bereits längst abgesichertes Wissen über Führung von Institutionen in hochkomplexen, dynamischen und offenen Situationen, und auch passende Managementsysteme sind schon länger vorhanden. Geeignete Herangehensweisen und Denkhaltungen zu dieser Art von Führung finden sich in ganzheitlichen integrierten Managementansätzen wie sie z.B. in St. Gallen seit langem gelehrt werden. Dort findet sich mit dem ganzheitlichen, dynamischen St. Galler Managementansatz (siehe dazu beispielsweise hier) eine geeignete Referenzarchitektur, ein adäquates Denkgerüst.
Die groteske Situation scheint jedoch die zu sein, dass zwar auf der einen Seite aus objektiver Betrachtung nur ein ganzheitlicher, dynamischer Ansatz eine passende Herangehensweise zur Lösung darstellt, andererseits jedoch heute vermehrt geradezu dreist verkürzte Managementlehren und -tools angeboten und – das ist das fast Unerklärliche – auch nachgefragt werden. Es hat den Anschein, dass die Zunahme von Komplexität und Dynamik den Markt bereitet für völlig ungeeignete Lösungsangebote, infantile Checklisten, Patentrezepte, detaillierteste Prozessbeschreibungen oder monokausale Entscheidungs- und Handlungsregeln. Wer sich darauf einlässt, greift zu einem süssen Gift, es ist eine Schein-Flucht aus der Komplexität heraus in eine Klarheit und Einfachheit, die es nicht geben kann. Modelle und Konzepte stellen immer und völlig bewusst eine Reduktion von Komplexität dar. Jedoch stets mit dem Ziel, eine taugliches Gedankenkonstrukt zu sein, mit der in der Realität vorhandenen Komplexität bestmöglich umgehen zu können. Keinesfalls darf die Vereinfachung so weit gehen, dass sie den Verständnis- und Möglichkeitsraum des Nutzers einschränkt. Doch der Mensch neigt offenbar dazu, gerade in Situationen von Umbrüchen und zunehmender Komplexität auf atavistische Denkmuster zurückzufallen, indem er nicht zu Regulierendes noch weiter zu regulieren versucht.
Und genau vor diesem Hintergrund macht es mir auch keine Sorgen, dass es noch nicht überall Antworten auf die skizzierten (und weitere) Fragen gibt. Die kann es teilweise noch gar nicht geben, denn es ist letztlich auf unternehmensspezifischer Ebene um die besten Führungsansätze zu ringen. Das geht nicht von heute auf morgen. Sorgen bereiten mir allerdings die Fälle, in denen man sich mit derartigen Fragen überhaupt nicht beschäftigt. „Industrie 4.0“ ist eine grosse Chance. Aber Chancen muss man ergreifen!
Dieser Beitrag basiert auf zur Zeit laufenden Forschungs- und Kooperationsprojekten der St. Galler Business School bzw. der Gesellschaft für Integriertes Management (siehe dazu etwa hier  oder auch hier). Auch der kommende 14. St. Galler Management-Kongress am 23./24.09.2016 ist dem Themenkomplex Digitalisierung gewidmet (siehe hier).
- Gastbeitrag
„Industrie 4.0“ in der Praxis
4.0 häufige Denkfallen - 23. August 2017 - Gastbeitrag
Industrie 4.0
Hype, Schreckgespenst und echte Chance - 22. Mai 2016
Ich möchte mich den Ausführungen anschließen.
Das Thema „Industrie 4.0“ ist riesig, mitunter aufgeblasen, Durchblick und Handlungssicherheit sind im Gegensatz dazu klein.
Ab und an umschleicht mich gar der Verdacht, dass in so manchen Unternehmen bzw. Unternehmensbereichen mit großem Aufwand hohe Blindleistungen erzielt werden, obwohl „Industrie 4.0“ bei Licht betrachtet ebendort überhaupt keine Rolle spielt. Wenn der Nebel sich verzogen hat, wird man sehen, wer die kurzen Hosen anhat.
Beste Grüße, Sascha vBerchem
Ich stimme insbesondere der Einschätzung Herrn Abegglens zu, was die Aufgaben und Ausgestaltung eines modernen Führungskonzepts und -verständnisses anbetrifft: „Moderne Führung muss lernen, vermeintliche Gewissheiten gegen Freiheit, Unternehmertum und Möglichkeiten einzutauschen. (…) Ihr genügen Leitplanken, einige wenige übergeordnete Regeln und vorgelebte Werte. Sie sucht nicht nach einfachen Patentlösungen, Quick Fixes oder Rezepten, lässt sich nicht von Modewellen beirren, sie akzeptiert Komplexität, Ungewissheit, weiss um Nebenwirkungen, gibt sich Zeit, Dinge entwickeln zu lassen (…)“. Gerade diese Haltung vermisse ich nach wie vor in vielen Unternehmen im heutigen Zeitalter zunehmender Digitalisierung – ob die Themen-Hypes nun „Big Data“, „DevOps“ oder „Industrie 4.0“ heißen – Scheitern oder Erfolg haben werden sie aus meiner Sicht nicht aufgrund der genutzten Technologien sondern an einem zeitgemäßen Führungsverständnis, dass mir gerade auch in meinen Einsätzen als (Interim-)Projektmanager in Konzern-Umgebungen noch viel zu selten begegnet.