Die Freiburger Denkschrift wird 2017 75 Jahre alt. Sie wurde vom 17. – 19. November 1942 im Auftrag Dietrich Bonhoeffers in Vorbereitung einer Nachkriegswirtschaftsordnung (!) von einem kleinen Kreis Freiburger Professoren verfasst. Die Anlage 4 zur Wirtschafts- und Sozialordnung sollte die Blaupause für das werden, was als Soziale Marktwirtschaft eine Erfolgsgeschichte wurde.[1],[2]
Privateigentum, Wettbewerb, freie Preisbildung, stabiles Geld, das Verantwortungsprinzip und ein starker Staat, der die Spielregeln aufstellt und deren Einhaltung überprüft, gehören dabei zu den Ecksteinen[3],[4], ebenso wie eine solide Finanzpolitik und der Kampf gegen Kartelle und Monopole, die dem „Leistungswettbewerb“ entgegenstehen. Ecksteine, an denen sich die (Wirtschafts-)Politik auch heute noch prüfen lässt.
Aus diesen Ecksteinen lassen sich, übertragen auf die heutigen Anforderungen, fünf Handlungsfeldern ableiten: „Subsidiarität stärken“, „Globalisierung fördern“, „Teilhabe sichern“ und „Fairnet gestalten“, Geldwertstabilität“.
#Subsidiarität stärken: Während sich die EU zwischen Selbstfindung und Donald Trump bewegt, ist es an der Zeit, die Subsidiarität wieder zu entdecken. Der Grundgedanke des aus der katholischen Soziallehre stammenden Begriffs der „Subsidiarität“ ist, dass Aufgaben auf der Ebene gelöst werden, die sie auch am besten lösen kann, wo also das meiste Wissen und die stärksten Anreize zur Lösung vorliegen. Auf der jeweils nächst höheren politischen Ebene werden dann jene Aufgaben gelöst, die auf den unteren Ebenen nicht gelöst werden können. Sind z.B. Wirtschafts- und Sozialpolitik eine EU-weite oder eine nationale Aufgabe? Wie können z.B. die besten Entscheidungen für öffentliche Investitionen und Strukturförderung getroffen werden? Wer hat die Informationen und die Anreize zur Kontrolle der Maßnahmen? Ist die Verteidigung national oder EU-weit sinnvoller? Wie können die militärischen Kräfte am besten gebündelt werden? Das wären Fragestellungen zur Subsidiarität.
#Globalisierung fördern: Wettbewerb ist nicht nur „das genialste Entmachtungsinstrument“ (Franz Böhm), das die niedrigsten Preise und den effizientesten Umgang mit knappen Ressourcen sichert, sondern auch ein Entdeckungsverfahren[5] für Innovationen. Kurzum: Wettbewerb ist der Treiber des Wohlstands.[6] Globalisierung benötigt aber einen Ordnungsrahmen, der die Fairness des Wettbewerbs sichert und für den sozialen Ausgleich zwischen Gewinnern und Verlierern auf der individuellen Ebene sorgt. Es geht um gerechte Teilhabe an den Früchten des Erfolgs.
#Teilhabe sichern: Wer gerechte Teilhabe will, muss die Beteiligung an den Chancen wie an den Risiken wollen. Bloße Umverteilung unterdrückt Leistungsanreize, während die Risikoprämie nur jene erwarten können, die auch bereit sind, Risiken einzugehen. Dabei ist gerade die Risikoprämie ein wichtiger Erklärungsfaktor von Ungleichheit. Ein Aspekt, der z.B. bei der Debatte um das Buch von Thomas Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ übersehen wird. Wer also weniger Ungleichheit will, muss die Beteiligung an der Risikoprämie in der Breite fördern.[7] Es geht aber nicht nur um die Verteilung der Vermögen, sondern auch um das Verhältnis von Arbeits- zu Kapitaleinkommen. Gerade für „Das zweite Maschinenzeitalter“[8] scheint „Teilhabe durch Kapitalbeteiligung“ das Gebot der Stunde. Sollten die Maschinen tatsächlich die Arbeitsplätze übernehmen[9], würden die Roboter für die Kapitaleigener arbeiten. Arbeitseinkommen würde durch Kapitaleinkommen ersetzt.[10]
Teilhabe muss aber auch vor dem Hintergrund der Netzökonomie diskutiert werden. Es geht um ein „Fairnet“ – ein faires Internet:
#Fairnet gestalten: Die Netzökonomie ist gekennzeichnet von Informationen, die unendliche Skalenerträgen ermöglichen und damit ein natürliches Monopolgut sind. Information kann grenzenlos und ohne zusätzliche Kosten von unbegrenzt vielen Menschen und Institutionen genutzt werden. Monopolgüter aber führen zu Monopolisten und Monopolisten nutzen ihre Marktmacht um den Wettbewerb zu verzerren. Deshalb bedarf es eines „starken Staates“ (Walter Eucken), der diesem „Laissez-Faire-Informationskapitalismus“ wie Eucken ihn wohl nennen würde, Spielregeln vorgibt und einen funktionierenden Wettbewerb sicherstellt bzw. wiederherstellt. Wichtigster Grundsatz, auf dem die Spielregeln für ein Fairnet im Sinne der Nutzer beruhen, muss der Grundsatz der Datenhoheit sein. Die Daten gehören den Nutzern, nicht den Plattformen. Entsprechend bestimmen die Nutzer, wie und ob diese Daten erhoben, gespeichert, ausgewertet oder mit anderen Datensätzen verbunden werden. Das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, wie es vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben wurde, bietet die Grundlage dafür. Dieses spricht dem Einzelnen zu, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen.[11] Zur Datenhoheit tritt die Transparenz. Die Digitalisierung fördert zwar die Informationsverbreitung, erlaubt durch die unterschiedlichen Anwendungen jedoch, dass es z.B. zu Preisdiskriminierung kommt. Nicht jeder zahlt für das gleiche Produkt, das er im Internet bestellt, zwangsläufig auch den gleichen Preis. Benartzi und Lerner zeigen z.B. dass die Applikation, mittels derer etwas bestellt wird, zu unterschiedlichen Preisen führen kann. Dabei wird ein menschliches Verhaltensmuster genutzt: Je kleiner der Bildschirm (Smartphone), desto weniger werden Alternativen gesucht und Preise verglichen, desto schneller neigen Nutzer zum Kauf. Anders bei großen Bildschirmen. Wer vor dem PC sitzt, analysiert die Angebote gründlicher und rationaler. Da Verkäufer aber erkennen, woher eine Anfrage kommt, kann dies zu der Faustregel führen: Je kleiner der Bildschirm, desto höher der Preis.[12] Fairness und Wettbewerb sehen anderes aus. Fairness nützt Informationsasymmetrien nicht aus. Wettbewerb schließt Preisdiskriminierung aus. Gerade um das geht es z.B. aber bei Hal Varian, dem Chefökonomen von Google: Die für den Anbieter günstigste Preissetzung im Informationszeitalter.[13]
#Geldwertstabilität: Was aber wären Privateigentum und Wettbewerb ohne stabiles Geld? Bei der aktuellen Preisentwicklung in der Eurozone und den großen Industriestaaten mag dies kaum ein Thema sein, es muss aber im Kontext der Geldpolitik gesehen werden, die weiterhin im Krisenmodus verharrt. Negativzinsen und Anleihekaufprogramme verzerren den Preis des Geldes und fördern die Fehlallokation von Kapital. Wer Fehlinvestitionen und negative Verteilungswirkungen vermeiden will, muss sich dafür einsetzen, dass sich die Geldpolitik wieder auf ihr Primärziel, die Geldwertstabilität konzentriert, gerade damit die Zentralbank unabhängig bleibt. Die Folgen der Euro-Schuldenkrise, ausstehende realökonomische Anpassungen und Staatsschulden, die fern der Grenzen von Maastricht sind, müssen von der Politik, nicht von den Zentralbanken gelöst werden.[14],[15] Was in der Geldpolitik unserer Tage (als Beispiel dafür kann auch die US-Fed gelten, die sowohl Geldwertstabilität als auch Vollbeschäftigung garantieren soll) übersehen wird, ist die Unmöglichkeit diese Zielkonflikte aufzulösen. Mehrere Ziele können nicht mit einem Instrument gelöst werden. Darauf hat vor allem Tinbergen hingewiesen.
In diesem Kontext einer unabhängigen, alleine an der Geldwertstabilität ausgerichteten Zentralbankpolitik ist auch eine Absage an jegliche Ansätze von „Helikoptergeld“ zu sehen, bei der die Zentralbank als „Gelddrucker“ zur Finanzierung der öffentlichen Kassen missbraucht würde – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Inflation.[16]
Ob Verteilungs- oder Globalisierungsdebatte ob EU-Reform, Netzökonomie oder Geldpolitik – die „Freiburger“ haben uns auch 75 Jahre nach Verfassen ihrer Denkschrift heute noch einiges zu sagen, und das über Wahltage hinaus.
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Der Autor vertritt seine eigene Meinung.
[1] Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer; „70 Jahre Denkschrift des Freiburger Bonhoeffer-Kreises“; 2015 (der AEU datiert die Entstehung der Denkschrift auf deren Veröffentlichungsdatum 1945.
[2] Plickert, Philip; „Liberale Ökonomen im Widerstand“; Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik No. 121; Sep. 2009; S.41-50.
[3] Eine gute, knappe Übersicht über die konsitutiven und regulatorischen Prinzipien findet sich u.a. bei Freytag, Andreas; Schnabl, Gunther; „Monetary Policy Crisis Management as a Threat to Economic Order“; CESifo Working Paper No. 6363; Feb. 2017
[4] Auch heute noch lesenswert ist Eucken, Walter; „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“, 1952 (1. Auflage). Eucken war auch einer der Autoren der Anlage 4 der Freiburger Denkschrift.
[5] Hayek, Friedrich August von; „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“. In: Internationales Institut ,,Österreichische Schule der Nationalökonomie“; 1968; englische Fassung hier.
[6] Was der Wettbewerb über die Industrialisierungsgeschichte hinweg bedeutet, zeigt z.B. Deaton, Angus; „The Great Escape“; Princeton University Press; 2015
[7] Vgl. Naumer, Hans-Jörg; “Wer mehr Gleichheit will, muss die Beteiligung an der Risikoprämie fördern“; Ökonomenstimme vom 13. Juni 2016
[8] Vgl. Brynjolfsson, Erik & McAfee, Andrew, „The Second Machine Age“, New York, 2014.
[9] Der vermutlich am meisten diskutiert Beitrag zur Robotisierung menschlicher Arbeit haben findet sich hier: Frey, Carl Benedikt & Osborne, Michael A., „The Future of Employment: How susceptible are Jobs to Computerisation?“, 2013.
[10] Vgl. Naumer, Hans-Jörg; „Teilhabe durch Kapitalbeteiligung: Wohlstand für alle als Antwort auf Negativzinsen und Vermögensungleichheit“; AGP Mitteilungen 2016
[11] Vgl. Naumer, Hans-Jörg; „Google oder: Spielregeln für die Netzwirtschaft“; Ökonomenstimme vom 8. Januar 2015
[12] Vgl. Benartzi, Schlomo; Lehrer, Jonah; „The Smarter Screen: Surprising Ways to Influence and Improve Online Behavior“; Portfolio; 2016
[13] Shapiro, Carl; Varian, Hal R.; “Information Rules: A Strategic Guide to the Network Economy“; Harvard Business Review Press“; 1998
[14] Vgl. Hoffmann, Andreas; Schnabl, Gunther; „Adverse Effects of Ultra-Loose Monetary Policy on Investment, Growth and Income Distribution“; CESifo Working Paper No. 5754; Feb. 2016
[15] Vgl. Tinbergen, Jan; „On the Theory of Economic Policy“; North Holland; Amsterdam; 1952
[16] Vgl. Naumer, Hans-Jörg; „Helikoptergeld: Wie es funktionieren soll“; Ökonomenstimme vom 4. April 2016
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