Ordnungspolitischer Kommentar
Pflege: Das Versicherungsrätsel fordert die Politik
Aber anders als man zunächst denken mag

Zu Beginn einige Fakten zur Pflege: Nach momentaner Studienlage müssen jeder zweite Mann und drei Viertel aller Frauen in Deutschland damit rechnen, irgendwann im Leben pflegebedürftig zu werden (Rothgang et al., 2015, Barmer GEK Pflegereport, S.136 ff.). Gleichzeitig brauchen gegenwärtig etwas mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen professionelle Pflege – also Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst oder Pflege in einem Pflegeheim. Ein Graubereich ist, wie viele Pflegebedürftige durch eine mit im Haushalt lebende Pflegeperson versorgt werden. Durch die gesetzliche Pflegeversicherung wird nur ein Teil der Pflegekosten gedeckt. Rund ein Drittel derjenigen, die in Pflegeheimen leben, beziehen „Hilfe zur Pflege“ – können sich die vollstationäre Pflege also aus eigenen Mitteln nicht leisten. Rund 2,4 Millionen Erwachsene in Deutschland besaßen in 2016 eine Pflegezusatzversicherung, das sind gerade einmal drei Prozent der Bevölkerung. Wie passt das zusammen?

Black Box Pflegevorsorge

Tatsächlich ist nicht klar, wie die Deutschen für den Pflegefall vorsorgen. Dass sich 97 Prozent jedoch gar keine Gedanken machen ist zwar möglich, erscheint aber doch wenig plausibel. Wahrscheinlicher ist hingegen, dass viele eine unspezifische Vorsorgestrategie verfolgen, also beispielsweise allgemein Vermögen bilden (auch in Form einer Immobilie), um es dann ggf. auch für die Pflege einzusetzen. Vielleicht erscheinen Pflegezusatzversicherungen im Vergleich unattraktiver. Manche mögen auch „vorsorgen“, indem sie auf die Hilfe Angehöriger setzen. Vielleicht gibt es auch die Strategie, bewusst auf Vorsorge für den (ggf. teuren) Pflegefall zu verzichten, weil auf die staatliche Unterstützung in Form der Hilfe zur Pflege spekuliert wird. Und schließlich gibt es sicher eine Gruppe, die aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse generell nicht vorsorgen kann.

Daraus, dass nur drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung eine Pflegezusatzversicherung haben, lässt sich also zunächst kein klarer Handlungsbedarf für die Politik ableiten. Erst muss geklärt sein, ob überhaupt ein Problem vorliegt. Aber: Wäre es nicht besser, schon heute noch mehr zu tun, um verschiedenen Fällen vorzubeugen? Was ist, wenn sich Menschen bei der Wahl ihrer Vorsorgestrategie irren? Wenn sie beispielsweise auf Angehörige setzen, diese aber dann, wenn es nötig ist, doch nicht helfen können? Wenn Menschen zu wenig zurückgelegt haben, weil sie sich in der Höhe der im Pflegefall tatsächlich anfallenden Kosten verschätzt haben? Und ist es wirklich zumutbar, dass diejenigen, die während ihres Erwerbslebens keine großen Rücklagen bilden konnten, aber dennoch nie staatliche Unterstützung in Anspruch genommen haben, im Pflegefall von der Sozialhilfe abhängig sind?

Ausweitung der gesetzlichen Pflegeversicherung?

Eine scheinbar einfache Antwort liegt auf der Hand: Warum nicht die gesetzliche Pflegeversicherung in eine Vollversicherung ausbauen? Dann wären solche Fälle gelöst. Da ein Großteil der Bevölkerung in der umlagefinanzierten sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert ist, würden dadurch auch die schon jetzt pflegenahen Jahrgänge und die aktuell bereits Pflegebedürftigen profitieren. Allerdings liegt genau hier auch das Problem: Jede Leistungsausdehnung in einem Umlagesystem generiert sogenannte Einführungsgewinne für die bereits Versicherten. Sie erhalten zusätzliche Leistungen für die sie zuvor keine adäquaten Beiträge entrichtet haben. Je älter, desto mehr. Die entsprechende Mehrbelastung trifft aber alle nachfolgenden Generationen. Dabei profitieren im Fall einer Ausdehnung zur Vollversicherung keinesfalls nur ärmere Bürger, sondern alle bisherigen Versicherten. Umgekehrt zahlen dann nicht nur gut verdienende Versicherte höhere Beiträge, sondern alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Geringverdiener würden sich dabei sogar häufig schlechterstellen als bisher. Denn die Beitragspflicht in der Sozialversicherung setzt schon bei viel geringeren Einkommen ein als die Einkommensteuerpflicht und ist proportional zum Einkommen. Das Argument, die Beitragszahler bekämen im Gegenzug dafür ja später alle im Pflegefall notwendigen Leistungen aus der Pflegeversicherung finanziert, stellt Geringverdiener ohne Vermögen nicht effektiv besser. Denn auch mit der Hilfe zur Pflege werden die Pflegekosten vollständig übernommen – es gibt in der Versorgung de jure keine Unterschiede zwischen Pflegebedürftigen, die diese Sozialhilfeleistung erhalten, und denjenigen, die die Zuzahlungen aus eigenen Mitteln leisten (einzig für den sogenannten Pflegegrad 1 gibt es Ausnahmen). Darüber hinaus ist, entgegen der oftmals geäußerten Vorstellung, nicht alles Vermögen für die Finanzierung der Hilfe zur Pflege einzusetzen: Ausgenommen sind beispielsweise ein angemessener Hausrat, kleinere Barbeträge, ein angemessenes Hausgrundstück, das beispielsweise vom Ehepartner bewohnt wird, Familien- und Erbstücke (§90 SGB XII). Diejenigen also, die in der Erwerbsphase wegen eines geringen Einkommens nur geringe Vermögenswerte schaffen konnten, müssen nicht davon ausgehen, dass beispielsweise ihr Ehepartner das gemeinsame Haus aufgeben muss, weil sie pflegebedürftig werden.

Wird die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung ausgeweitet, werden also für alle Versicherten höhere Beitragszahlungen fällig – was die Problematik der durch die demografische Lage sowieso schon steigenden Beitragssätze zusätzlich verstärkt. Gerade Geringverdiener haben dann noch deutlich weniger frei zur Verfügung stehende Mittel in der Erwerbsphase – ohne im Pflegefall unbedingt besser abgesichert zu sein als heute.

Wenn überhaupt, dann in zwei Säulen

Wird dem Argument des Freifahrerverhaltens – also der Annahme, dass Menschen auf die Sozialhilfe spekulieren, auch wenn sie eigentlich vorsorgen könnten – besondere Bedeutung beigemessen, dann lautet die Antwort in der Regel in der Tat Versicherungspflicht. Hinzu kommt gegebenenfalls das Argument, dass sich die Bürger vielleicht nicht genügend für den Fall absichern, in dem Pflege in jungen Jahren eintritt und keine ausreichenden Rücklagen gebildet werden konnten. In den Daten zeigt sich tatsächlich, dass insbesondere in der Gruppe der 40- bis 65-jährigen in Pflegeheimen Versorgten ein mit 70 Prozent sehr hoher Anteil Hilfe zur Pflege bezieht. Wenn vor diesem Hintergrund eine Pflegevollversicherung eingeführt werden soll, dann bietet sich jedoch allenfalls die schrittweise Einführung eines Zwei-Säulen-Systems mit einer zusätzlichen kapitalgedeckten Säule an. So umgeht man das Problem, das mit zunehmender Bevölkerungsalterung teurer werdende Umlagesystem auszuweiten. Denn in einem kapitalgedeckten System spart jede Generation für sich, es ist daher nicht anfällig gegenüber unterschiedlich stark besetzen Geburtenjahrgängen. Auch hier bleibt aber das Argument bestehen, dass alle Bürger gezwungen werden, Teile ihres Einkommens verpflichtend in eine Pflegeversicherung einzuzahlen und in deren Umfang auf alternative Vorsorgemöglichkeiten zu verzichten. Dies ist sorgfältig abzuwägen.

Entscheidender 1. Schritt: Verlässlichkeit der Teilleistungsversicherung

Bevor jedoch über solche Schritte nachgedacht wird, ist ein anderer viel dringender: Der Ausbau der gesetzlichen Pflegeversicherung in eine echte Teilleistungsversicherung. Denn die Leistungsbeträge der Pflegversicherung sind ausschließlich nominal festgeschrieben. Da sie in der Vergangenheit nicht entsprechend der Kostensteigerungen in diesem Bereich angepasst wurden, hat sich die Pflegeversicherung de facto entwertet. Ein Beispiel: Wurden 2001 im Bundesdurchschnitt in der höchsten Pflegestufe noch gut 71 Prozent der anfallenden Pflegekosten in der vollstationären Versorgung durch die Pflegekasse gedeckt, waren es in 2015 nur noch 65 Prozent. Durch den in 2017 eingeführten einrichtungseinheitlichen Eigenanteil sieht das Bild zwar temporär etwas anders aus – es profitieren insbesondere die Pflegebedürftigen mit einem hohen Pflegegrad. Gleichzeitig ist in § 30 SGB XI inzwischen vorgeschrieben, dass die Bundesregierung alle drei Jahre eine Leistungsanpassung prüfen wird. Als Orientierungswert gilt die kumulierte Preisentwicklung der letzten drei Kalenderjahre. Allerdings ist zu befürchten, dass auch dies eine künftige Leistungsentwertung nicht verhindert. Erstens heißt prüfen noch nicht, dass die Bundesregierung zwingend anpassen muss. Je nach Kassenlage wird vielleicht auf eine Anhebung verzichtet, um die Beitragssätze nicht erhöhen zu müssen. Zweitens ist selbst bei einer regelmäßigen Anhebung nach den gesetzlichen Vorgaben die Leistungsentwertung keineswegs sicher verhindert. Denn zusätzlich ist festgelegt, dass der Anstieg der Leistungsbeträge nicht höher ausfallen darf als die allgemeine Bruttolohnentwicklung im gleichen Zeitraum. Doch schon jetzt wird über eine Erhöhung der Löhne für Pflegepersonal diskutiert, um dem Fachkräftemangel in diesem Sektor Herr zu werden. Pflegeleistungen sind aber sehr personalintensiv, weshalb sich jegliche Lohnerhöhung in den Pflegekosten niederschlägt.

Werden die nominalen Leistungssätze der Pflegepflichtversicherung nicht entsprechend angepasst, ist ihre reale Entwertung nicht zu verhindern. Dann wird auch die private Vorsorge zum Glückspiel. Denn wenn nicht eindeutig offen gelegt wird, ob und in welcher Höhe heutige reale Leistungserwartungen eingehalten werden, kann keine Vorsorgeart – auch keine private Pflegezusatzversicherung – wirklich treffsicher sein. Eine transparente Dynamisierung der Versicherungsleistungen ist daher der erste, dringliche Schritt auf dem Weg zu einer guten Vorsorge für das Pflegefallrisiko.

Hinweis: „Dieser Text ist auch als Ausgabe Nr. 08/2018 der Reihe Ordnungspolitischer Kommentar des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln und des Otto-Wolff-Instituts für Wirtschaftsordnung erschienen.“

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