In den vergangenen Jahrzehnten waren Arbeitsmärkte weltweit von gravierenden Veränderungen geprägt. Besonders hervorzuheben sind dabei zwei Entwicklungen. Erstens die Polarisierung des Arbeitsmarktes: Der Anteil mittlerer Lohngruppen an den Beschäftigten schrumpft, während die Beschäftigungsanteile am unteren und oberen Ende der Lohnverteilung wachsen. Zweitens lässt sich in vielen Industrienationen ein Rückgang des Anteils der Gewerkschaftsmitglieder an der Zahl der Beschäftigten beobachten. Beide Phänomene haben Auswirkungen auf die Lohnentwicklung. In einer aktuellen Studie argumentieren Föll und Hartmann (2019) nun, dass die beiden Phänomene nicht unabhängig voneinander betrachtet werden sollten. Sie zeigen für den Arbeitsmarkt in den USA, dass die Polarisierung des Arbeitsmarktes und der Bedeutungsverlust von Gewerkschaften eine gemeinsame Ursache im technologischen Wandel haben. In Deutschland ist der Anteil der Mittelschicht traditionell besonders hoch[1], weshalb es sich lohnt zu prüfen, ob ähnliche Mechanismen wirken, die die Mittelschicht schwächen könnten.
Polarisierung als Folge technologischen Wandels
Bezüglich des Auslösers der Polarisierung der Arbeitsmärkte herrscht weitgehende Einigkeit im wissenschaftlichen Diskurs: Sie wird maßgeblich auf den technologischen Wandel und die damit einhergehende Automatisierung von Produktionsprozessen zurückgeführt. Computer werden immer günstiger und leistungsfähiger und eignen sich somit zunehmend dazu, Arbeitskräfte zu ersetzen. Allerdings sind Arbeitskräfte unterschiedlich gut durch Maschinen substituierbar. Die auf Autor, Levy und Murnane (2003) zurückgehende Theorie des „routine-biased technological change“ baut auf der Beobachtung auf, dass der technologische Fortschritt in den letzten Jahrzehnten insbesondere dafür gesorgt hat, dass Computer einfache Routineaufgaben übernehmen können. Im Unterschied dazu können zum Beispiel Tätigkeiten, die zwischenmenschliche Interaktion oder Kreativität erfordern, weniger leicht von Computern übernommen werden. Computer konkurrieren also vor allem mit Menschen, die Berufe mit einem hohen Anteil routineintensiver Tätigkeiten ausüben, wie sie zum Beispiel in der Buchhaltung oder der Güterproduktion häufig zu finden sind. Solche Berufe werden überwiegend von Beschäftigten mit mittleren Qualifikationen ausgeübt und befinden sich meist im mittleren Lohnsegment. Berufe am unteren Ende der Lohnverteilung, wozu insbesondere viele Dienstleistungsberufe zählen, und Berufe am oberen Ende der Lohnverteilung, zum Beispiel der einer Managerin bzw. eines Managers, können hingegen meist (noch) nicht von Computern übernommen werden. Für Berufe am oberen Ende der Lohnverteilung wirken Computer sogar oft komplementär und erhöhen somit die Produktivität von und damit die Nachfrage nach Beschäftigten in diesem Bereich. Die sinkende relative Nachfrage nach Arbeitskräften, die routineintensive Tätigkeiten ausüben, hat Auswirkungen auf die Lohnentwicklung. Zu erwarten ist, dass die Löhne der zunehmend substituierbaren Arbeitskräfte im mittleren Lohnbereich relativ sinken. Analog wirkt sich die höhere Nachfrage nach Arbeitskräften, die Nicht-Routine-Tätigkeiten ausüben, grundsätzlich positiv auf deren Lohnentwicklung aus.
Gleichzeitig muss jedoch die Angebotsseite beachtet werden: Arbeitskräfte, die Berufe im mittleren Lohnbereich ausgeübt haben und von Computern ersetzt wurden, suchen vermehrt in den weniger routineintensiven Berufen Beschäftigung und erweitern dort das verfügbare Arbeitsangebot.[2] Das wirkt der positiven Lohnentwicklung in diesen Berufen entgegen. Wie sich die Löhne entwickeln, hängt letztlich davon ab, ob der Arbeitsnachfrage- oder der Arbeitsangebotseffekt überwiegt.
Der Zusammenhang zwischen Polarisierung und Tarifbindung im Ländervergleich
Empirisch lässt sich ein eindeutiger Zusammen- hang zwischen der Polarisierung eines Arbeitsmarkts und der Abdeckung durch Tarifverträge aufzeigen. In Grafik 1 sind der von Duclos, Esteban und Ray (2004) entwickelte Polarisierungsindikator und der Anteil der von Tarifverträgen abgedeckten Arbeitsverträge für 25 OECD-Staaten abgebildet. Der Polarisierungsindikator misst den Grad der Polarisierung in einem Land, wobei eine größere Distanz und eine stärkere Abgrenzung einzelner Einkommensgruppen mit einem höheren Wert einhergehen. Zwischen dem Grad der Polarisierung in einem Land und dem Anteil der Tarifbindung besteht ein statistisch signifikanter, negativer Zusammenhang: Länder mit einem relativ hohen Grad an Polarisierung weisen einen relativ geringen Anteil von durch Tarifverträge abgedeckte Arbeitsverträge auf. Die Auswirkungen des technologischen Wandels auf gewerkschaftliche Organisation hängen von marktlichen und institutionellen Faktoren ab, die sich zwischen verschiedenen Ländern zum Teil deutlich unterscheiden. Die USA und Deutschland werden deshalb im Folgenden getrennt voneinander näher betrachtet.
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Die Rolle der Gewerkschaften in den USA
Gewerkschaften spielen in den USA traditionell eine geringere Rolle als in vielen anderen Ländern. In vielen Branchen sind sie jedoch maßgeblich an der Aushandlung der Löhne beteiligt. In der Regel führt eine gewerkschaftliche Lohnpolitik innerhalb von Branchengewerkschaften zu einer Angleichung der Löhne von Geringverdienenden und Höherverdienenden im Vergleich zur Marktlohnverteilung, die sich ohne gewerkschaftliche Beteiligung ergeben würde. Man kann also von einer Lohnkompression sprechen. Vor allem Beschäftigte im unteren Lohnsegment haben dann einen Anreiz, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren.
Die Verhandlungsposition von Branchengewerkschaften, deren Anspruch es ist, Beschäftigte eines ganzen Industriezweigs zu vertreten, wird durch den technologischen Wandel einerseits gestärkt und andererseits geschwächt: Die relativ höhere Nachfrage nach Arbeitskräften im unteren Lohnsegment erhöht ihre Verhandlungsmacht, die relativ geringere Nachfrage nach Arbeitskräften im mittleren Lohnsegment verringert ihre Verhandlungsmacht. Technologischer Wandel bremst also innerhalb von Branchengewerkschaften das Lohnwachstum von Beschäftigten im unteren Lohnsegment, sofern Gewerkschaften ihre Lohnpolitik nicht an die veränderte Nachfragestruktur anpassen. Zwar wäre zu erwarten, dass Branchengewerkschaften versuchen, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, indem sie sich stärker für Beschäftigte im unteren Lohnsegment einsetzen, jedoch zeigen Studien von Checci, Visser und van de Werfhorst (2010) und Bryson, Dale-Olson und Nergard (2016), dass Gewerkschaften nur langsam auf aktuelle Veränderungen am Arbeitsmarkt reagieren. Dies wird unter anderem durch rigide Gewerkschaftsstrukturen und Sorge um den Verlust von hochqualifizierten Gewerkschaftsmitgliedern erklärt. Entsprechend profitieren Beschäftigte im unteren Lohnsegment innerhalb einer Branchengewerkschaft kaum von ihrer über die letzten Jahrzehnte immer besser gewordenen Verhandlungsposition, was gewerkschaftliche Organisation für diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unattraktiver macht.
Beschäftigte in der Mitte der Lohnverteilung haben weiterhin einen Anreiz, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Im Vergleich zu Beschäftigten am Rande der Lohnverteilung werden diese aber im Zuge der Beschäftigungspolarisierung relativ weniger. Beide Entwicklungen könnten maßgeblich zu dem in den USA besonders starken Rückgang der Gewerkschaftsorganisation beigetragen haben: Gemäß OECD-Daten ist der Anteil der von Tarifverträgen abgedeckten Arbeitsverträge zwischen 1980 und 2005 in den USA um fast 50 % von 25 % auf 13.7 % gefallen.[3]
Situation in Deutschland
In Deutschland sind die durchschnittlichen Reallöhne ähnlich wie in den USA in den letzten Jahren meist leicht gewachsen. Bei näherer Betrachtung unterscheidet sich jedoch die relative Lohnentwicklung der verschiedenen Gruppen deutlich: Im Gegensatz zu der Entwicklung in den USA, wo das Lohnwachstum im mittleren Einkommenssegment zwischen 1980 und 2005 am schwächsten war, sind in Deutschland die Löhne am unteren Ende der Einkommensverteilung seit 1980 deutlich weniger stark gewachsen als im mittleren Lohnsegment. Eine Polarisierung des Lohnwachstums ist also anders als in den USA nicht zu beobachten. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im unteren Lohnsegment haben, aufgrund des im Vergleich zu Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im mittleren Lohnsegment relativ geringeren Anstiegs ihrer potentiellen Marktlöhne, weiterhin einen Anreiz, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Nichtsdestoweniger ist auch in Deutschland ein Rückgang der tariflichen Abdeckung von Arbeitsverträgen zu verzeichnen. Dies könnte ebenfalls auf die Beschäftigungspolarisierung zurückzuführen sein. Empirische Studien zeigen, dass sich der Grad der tariflichen Abdeckung nach Qualifikationsniveau unterscheidet: im mittleren Qualifikationsbereich ist die Abdeckung am höchsten, bei Niedrigqualifizierten und Hochqualifizierten niedriger. Die geringere Abdeckung bei Niedrigqualifizierten könnte dadurch zu erklären sein, dass diese Beschäftigten eher eine Anstellung in Betrieben ohne Tarifbindung finden.[4] Bei Hochqualifizierten ist die Abdeckung niedriger, weil diese oft außertariflich höher bezahlt werden. Durch den technologischen Wandel schwindet nun der Anteil des mittleren Qualifikationsbereichs und solche mit einer traditionell niedrigeren tariflichen Abdeckung werden bedeutsamer.
Dies könnte zum einen den zu beobachtenden Rückgang der gewerkschaftlichen Organisation in Deutschland erklären, und zum anderen, dass dieser deutlich weniger dramatisch ausfällt als in den USA: zwischen 1980 und 2005 ist der Anteil der von Tarifverträgen abgedeckten Arbeitsverträge in Deutschland von 85 % auf 65 % gefallen.
Die in Föll und Hartmann (2019) als Erklärung für den Rückgang der Bedeutung von Gewerkschaften angebotene Theorie impliziert, dass der technologische Wandel es vor allem Branchengewerkschaften erschwert, sich für die Interessen ihrer Mitglieder einzusetzen. Bisher konnten sich Gewerkschaften vor allem auf die Wünsche der mittelqualifizierten Beschäftigten konzentrieren, da diese einen überwiegenden Teil der Mitgliedschaft ausmachten. Dies ändert sich durch den Bedeutungszuwachs der Niedrigqualifizierten. Berufsgewerkschaften, deren Mitglieder homogener sind, sollten von dieser Entwicklung nicht oder deutlich weniger stark betroffen sein. Diese Argumentation stützend lässt sich für Deutschland beobachten, dass die Mitgliedszahlen der meisten Branchengewerkschaften fallen, während Berufsgewerkschaften stabile oder sogar wachsende Mitgliedszahlen vorweisen können.[5]
Zu beachten ist auch, dass sich die institutionellen Rahmenbedingungen der gewerkschaftlichen Organisation zwischen den USA und Deutschland stark unterscheiden. So können in Deutschland beispielsweise Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden. Sie gelten dann nicht nur für die an der Aushandlung beteiligten Tarifparteien, sondern flächendeckend für alle Beschäftigten eines Tarifbereichs, während in den USA fast alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die tariflich entlohnt werden, Gewerkschaftsmitglieder sind. Auch dieser Unterschied kann einem stärkeren Bedeutungsverlust von Gewerkschaften auf Grund der Polarisierung entgegenwirken.
Weitere relevante Beschäftigungstrends
Der technologische Wandel führt nicht nur dazu, dass bestimmte Berufe wichtiger und andere unwichtiger werden, sondern er bringt auch die Entstehung neuer Beschäftigungsformen mit sich. Ein vielbeachtetes neues Beschäftigungsphänomen ist das so genannte Crowdworking, bei dem Unternehmen oder Privatpersonen Arbeitsleistungen über digitale Plattformen nachfragen. Unternehmen kaufen beispielsweise einfache Datenkategorisierungen über solche Plattformen ein. Oft handelt es sich dabei um niedrigentlohnte Tätigkeiten. Momentan ist die Verbreitung von Crowdworking in Deutschland noch recht gering, aber die bisherige Entwicklung deutet darauf hin, dass die Bedeutung deutlich zunehmen könnte. Die meisten Crowdworker sind rechtlich als Selbstständige anzusehen.[6] Eine klassische gewerkschaftliche Organisation kommt für solche Crowdworker naturgemäß nicht in Frage. Der technologische Wandel könnte also auch über die Entstehung neuer selbstständiger Beschäftigungsformen zu einer Schwächung der gewerkschaftlichen Strukturen führen.
Ausblick
In einer aktuellen Studie zeigen Bryson, Dale-Olson und Nergard (2016), dass der Rückgang der Gewerkschaften mit deren fehlender Fortschrittlichkeit – gemessen anhand der Geschwindigkeit, mit der auf aktuelle Probleme reagiert wird – zusammenhängt. Übereinstimmend mit Waddington (2005) argumentieren sie, dass Gewerkschaften aufgrund von rigiden Strukturen über die letzten Jahrzehnte hinweg immer weniger repräsentativ für die heutige Zusammensetzung der Beschäftigten geworden sind. Das lässt vermuten, dass es vor allem Branchengewerkschaften schwerfällt, alternative Lohnpolitiken zu verfolgen, die es für Personen aus allen Einkommensgruppen wieder attraktiver machen würden, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Daten des Bureau of Labor Statistics zeigen zudem, dass Gewerkschaftsmitgliedszahlen in den USA aufgrund von weniger neuen Mitgliedern, vor allem neuen Mitgliedern unter 34 Jahren, fallen. Die zukünftige Bedeutung von Gewerkschaften und ihr Einfluss auf die Lohnsetzung hängen entsprechend insbesondere auch davon ab, ob es ihnen gelingen wird, unter jungen Beschäftigten neue Mitglieder zu finden, die sich gewerkschaftlich engagieren.
Referenzen
Autor, D.H., Levy, F., Murnane, R.J., 2003. The skill content of recent technological change: an empirical exploration. Quarterly Journal of Economics 118, 1279 – 1333.
Bryson, A., Dale-Olsen, H., Nergard, K., 2016. Gender differences in the union membership wage premium? a comparative case study. IZA Discussion Paper Series No. 10435.
Checchi, D., Visser, J., van de Werfhorst, H.G., 2010. Inequality and union membership: The influence of relative earnings and inequality attitudes. British Journal of Industrial Relations 48, 84 – 108.
Duclos, J.Y., Esteban, J., Ray, D., 2004. Polarization: Concepts, measurement, estimation. Econometrica 72, 1737 – 1772.
Föll, T., Hartmann, A., 2019. A joint theory of polarization and deunionization. Working paper.
Esslinger, D., 2017. Eine halb geheime Macht. Süddeutsche Zeitung, 10.02.2017, S. 6.
Niehues, J., 2018. Arm und Reich ist auch eine Frage des Maßstabs. IW-Kurzbericht Nr. 8.
Henssler, M., Pickenhahn, C., Rehm, R., Roth, S., Wewetzer, J., 2019. Formen von Erwerbstätigkeit und Anpassungsbedarf des Arbeitnehmer- und Betriebsbegriffs unter arbeitsrechtlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten, Gutachten im Auftrag der vom Landtag Nord- rhein-Westfalen eingesetzten Enquete-Kommission „Digitale Transformation der Arbeitswelt in Nordrhein-Westfalen”.
Schneider, H., Vogel, S., 2018. Tarifbindung der Beschäftigten in Deutschland, Eine Auswertung des Sozioökonomischen Panels. IW-Report 15/2018.
Smith, C.L., 2013. The dynamics of labor market polarization. Finance and Economics Discussion Series 2013-57, Board of Governors of the Federal Reserve System (U.S.).
Waddington, J., 2005. Trade union membership in Europe: The extent of the problem and ran- ge of union responses. Host publication.
Visser, ICTWSS Database. version 6.0. Amsterdam: Amsterdam Institute for Advanced Labour Studies (AIAS), University of Amsterdam. June 2019.
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[1] Es gibt keine eindeutige Abgrenzung der Mittelschicht. Unabhängig von den gewählten Grenzen ist ihr Anteil in Deutschland jedoch vergleichsweise hoch. Siehe zum Beispiel Niehues (2018).
[2] Siehe zum Beispiel Smith (2013) für eine detaillierte Analyse der Beschäftigungsströme in den USA.
[3] OECD und J. Visser, ICTWSS Data base, Amsterdam Institute for Advanced Labour Studies (AIAS), University of Amsterdam: http://www.uva-aias.net/en/ictwss/.
[4] Vgl. Schneider und Vogel (2018), S. 9.
[5] Siehe zum Beispiel Süddeutsche Zeitung vom 09.02.2017: Eine halb geheime Macht: https://www.sueddeutsche.de/politik/gewerkschaften-eine-halb-geheime-macht-1.3372144.
[6] Siehe zum Beispiel Henssler et al. (2019).
Blog-Beiträge zum Thema:
Norbert Berthold: Der Klassenkampf ist abgesagt!? Gewerkschaften im Umbruch