Die «stille» Umverteilung der AHV

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Die AHV steht mit der Pensionierung der geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge vor einer immensen finanziellen Herausforderung. Mit der Stabilisierung des grössten Sozialwerks tut sich die Politik allerdings schwer. Dies liegt auch an unterschiedlichen Auffassungen, wie stark die Elemente der Einkommensumverteilung wirken sollen. Dem ehemaligen Bundesrat und «Vater der AHV» Hans-Peter Tschudi wird das Bonmot zugeschrieben: «Die Reichen brauchen die AHV nicht, aber die AHV braucht die Reichen». Die Verquickung von Umverteilung und Alterssicherung führt seit jeher zu einem politischen Spannungsverhältnis.

Interessanterweise wurde die Umverteilung der AHV zwischen Reich und Arm innerhalb einer Generation bisher kaum quantifiziert. Im Fokus steht vielmehr die Umverteilung zwischen den Generationen. Die Schwierigkeit besteht in der analytischen Unterscheidung der beiden Ziele des Sozialwerks: der umlagefinanzierten Alterssicherung einerseits und der Einkommensumverteilung andererseits. 2016 wurde im Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) eine interessante Methode vorgeschlagen: Die Autorin vergleicht dabei die einem Rentner tatsächlich ausbezahlte AHV-Rente mit einer hypothetischen «Prozentualrente», wie sie sich basierend auf den individuell einbezahlten Beiträgen ohne Umverteilung ergeben hätte.

Unsere Analyse baut auf diesem Gedanken auf. Man stelle sich vor, die Renten würden strikt proportional zu den geleisteten Lohnbeiträgen festgelegt. Die Umlagesolidarität zwischen den Generationen wäre davon nicht beeinträchtigt. Die Erwerbstätigen finanzierten weiterhin die Renten der Pensionäre und verdienten sich damit einen Anteil an den Zahlungen der nachfolgenden Generation. Je nach demographischer Entwicklung belastet oder bevorteilt dies die Generationen unterschiedlich. Hingegen hätte das System keine einkommensbezogene Umverteilung innerhalb einer Generation zur Folge, da proportionalen Lohnbeiträgen eine proportionale Rente gegenüberstünde.

Die AHV-Rente, wie sie heute gesetzlich definiert ist, unterscheidet sich wesentlich von einer Proportionalrente. Während Lohnbeiträge auf dem gesamten Gehalt erhoben werden, sind die ausbezahlten Renten gegen oben begrenzt. Ab einer bestimmten Einkommensschwelle sind Beiträge Gutverdienender damit nicht mehr rentenbildend und haben den Charakter einer «Hochlohnsteuer». Abgaben ohne individuelle Gegenleistung sind definitionsgemäss Steuern. Auch wird seit Einführung der AHV eine Mindestrente ausbezahlt – unabhängig von den einbezahlten Beiträgen. Die 40 Franken von 1948 sind bis heute auf monatlich 1’185 Franken angestiegen, faktisch ein Grundeinkommen für Pensionierte. Des Weiteren werden Beitragsleistungen von geringen Einkommen stärker rentenbildend angerechnet als Beiträge höherer Einkommen (der sog. «Rentenknick»). Und schliesslich haben pensionierte Ehepaare mit geringen Einkommen ein Anrecht auf zwei volle Mindestrenten, während Ehepaare mit hohen Einkommen höchstens 1,5 Maximalrenten erhalten. Auch dies verstärkt die einkommensbezogene Umverteilung der AHV.

Wie die Umverteilungswirkung der AHV ermitteln?

Durch den Vergleich der tatsächlichen Renten mit einer kontrafaktischen Proportionalrente lässt sich die Bevölkerung gedanklich einteilen: Solidaritätsempfänger erhalten eine Rente, die höher liegt, als die gemäss eigenen Beiträgen gerechtfertigte Proportionalrente; Solidaritätsspender hingegen erhalten weniger. Wir fokussieren auf die Solidaritätsleistung der aktiven Erwerbstätigen. Die in den jährlichen AHV-Beiträgen implizite Umverteilungswirkung lässt sich mit der Progression der Einkommensteuer vergleichen.

Könnte man einfacher vorgehen und die Solidaritätsleistung der AHV an den nicht-rentenbildenden Lohnbeiträgen messen? Nein, denn die Umverteilungswirkung etwa der Minimalrente oder des Rentenknicks würden damit nicht berücksichtigt. Zudem finanziert die öffentliche Hand einen nicht vernachlässigbaren Teil der Rentenleistungen (Bundesbeitrag, Mehrwertsteuer-Demografieprozent, Spielbankenabgabe). Es gibt deshalb Bezüger der Maximalrente, die keine Solidaritätsspender sind, weil ihre Rente teils durch die öffentliche Hand finanziert wird. Die tatsächlichen Solidaritätsspender sind stärker auf die höchsten Einkommen konzentriert.

Datenbasis

Um die AHV-Umverteilung in ihrer historischen Entwicklung zu erfassen, haben wir die Berechnung der Renten seit 1948 recherchiert und digitalisiert. Der jährliche öffentliche Finanzierungsbeitrag lässt sich aus der Sozialversicherungsstatistik ableiten. Auf Basis der Statistik der direkten Bundessteuer können wir die Einkommensverteilung seit 1948 konsistent nachzeichnen. Zur Bestimmung der beitragspflichtigen Lohneinkommen ziehen wir schliesslich AHV-Daten der Zentralen Ausgleichsstelle und des BSV heran.

Solidaritätsleistung der Reichsten 10%

Unsere Resultate zeigen, die AHV-Solidaritätsleistungen verstärken die steuerliche Progression deutlich und reduziert insbesondere den Einkommensanteil der höchsten Einkommen. Dies ist eine Folge der starken Konzentration der Solidaritätsspender an der Spitze der Einkommensverteilung: nur die rund 10 Prozent einkommensstärksten Personen leisten einen Solidaritätsbeitrag. Dieser Gruppe fliessen deutlich geringere Rentenleistungen zu, als dies in einem proportionalen System ohne Umverteilung der Fall wäre. Die restliche Bevölkerung bis in die obere Mittelschicht profitiert. In Anlehnung an das oben erwähnte Bonmot Bundesrat Tschudis lässt sich präzisieren: «die Reichsten 10 Prozent brauchen die AHV nicht, aber die AHV braucht die Reichsten 10 Prozent».

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Die umverteilende Wirkung steigt mit dem Einkommen markant (siehe Grafik 1). Vor Steuern vereinnahmen die Top 1 Prozent rund 11 Prozent allen Einkommens, nach Steuern noch 8,7 Prozent. Durch die AHV reduziert sich dieser Anteil weiter auf 7.9 Prozent. Während die steuerliche Umverteilung den Einkommensanteil der Top 1 Prozent somit um 21 Prozent reduziert, erhöht die Wirkung der AHV die Umverteilungswirkung auf 28 Prozent (siehe Grafik 2).

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Über die Zeit nahm die Umverteilungswirkung der AHV zu. Am stärksten Anfang der 1970er Jahren mit dem Ausbau der AHV-Beiträge sowie der Rentenleistungen in der Amtszeit von Bundesrat Tschudi (Grafik 3). Es resultiert eine zunehmende Korrektur des Verlaufs des Einkommensanteils der Top 1 Prozent nach unten (Grafik 1). Insgesamt – unter Berücksichtigung der Einkommensteuern und der AHV – muss in der Schweiz damit von einer Zunahme der Umverteilungswirkung bei den Einkommen ausgegangen werden.

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Das politische Spannungsverhältnis, das sich aus der Kombination von Altersvorsorge und einkommensbezogener Umverteilung in einem einzigen Sozialwerk ergibt, wird diese Analyse nicht auflösen können. Die Offenlegung dieser «stillen» Umverteilung vermag aber zumindest ein Stück weit Transparenz in die anstehende Diskussion zur finanziellen Stabilisierung der AHV wie auch allfälliger zusätzlicher Elemente der Einkommensumverteilung in der beruflichen Vorsorge bringen.

Christoph A. Schaltegger Christian Frey und Melanie Häner
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