Die deutsche Wirtschaft wurde von der internationalen Finanzmarktkrise über den stark nachlassenden globalen Investitionszyklus und den einbrechenden Welthandel stark getroffen. Die Wende hin zur Erholung wurde bereits im vergangenen Jahr wieder vollzogen. In trockenen Tüchern ist die konjunkturelle Entwicklung bei weitem aber noch nicht. Vor dem Hintergrund der derzeit fragilen wirtschaftlichen Entwicklung ist jedenfalls jede hausgemachte Beeinträchtigung der Erholung zu vermeiden. Dabei kommen auch der Kostenentwicklung und der damit einhergehenden Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmen eine große Bedeutung zu. Der letzte Aufschwung hat deutlich gezeigt, dass eine angemessene Lohnpolitik die Produktion und Beschäftigung hierzulande mit in Schwung bringen kann.
Den weltmarktorientierten Unternehmen und ihren Mitarbeitern ist der Ernst der Lage in vergleichsweise großem Ausmaß bewusst. Die Krise und die damit einhergehenden Notwendigkeiten haben allerdings im weitgehend von der Krise geschützten öffentlichen Sektor nicht alle erreicht. Obwohl in vielen Branchen großes Einvernehmen zu beobachten ist, dass bei der heimischen Lohnentwicklung in diesem Jahr viel Augenmaß notwendig sein wird, werden für den öffentlichen Bereich hohe Lohnforderungen formuliert. Begründet wird dies auch mit dem Kaufkraftargument.
Demnach sollen kräftige Lohnerhöhungen bei den einzelnen Arbeitnehmern dazu führen, dass die Lohnsumme in der gesamten Volkswirtschaft steigt. Das rege wiederum den Konsum an, und damit stiegen Beschäftigung und Investitionen in der Konsumgüterindustrie. Infolge der höheren Investitionstätigkeit würden auch die Produktion und die Beschäftigung in den Investitionsgüterindustrien zunehmen. Damit komme es zu weiteren Erhöhungen der gesamtwirtschaftlichen Lohnsumme, und der Konsum stiege weiter an.
Das Kaufkraftargument setzt also auf ein Perpetuum mobile, das einen Anstoß in Form einer kräftigen Lohnerhöhung braucht. Doch so einfach ist es nicht. Ökonomen weisen beständig auf die Schwächen dieses scheinbaren Allheilmittels hin:
1. Eine Lohnerhöhung bei den einzelnen Arbeitnehmern muss nicht die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme erhöhen: Überdimensionierte Lohnerhöhungen treiben die Kosten von Unternehmen in die Höhe. Erfolgen deshalb Rationalisierungen und Produktionsverlagerungen an kostengünstigere Standorte, dann gehen hierzulande Arbeitsplätze verloren. Obwohl die verbleibenden Arbeitnehmer mehr in der Tasche haben, können die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme durch den kostenbedingten Arbeitsplatzabbau und damit auch der Konsum zurückgehen. Das gilt trotz vieler Schutzzonen auch für den öffentlichen Sektor. Dort wird eine übertriebene Lohnpolitik ebenfalls Arbeitsplätze kosten.
2. Nicht nur das aktuelle, sondern auch das in Zukunft erwartete Einkommen bestimmt die Konsumbereitschaft: Die Verbraucher orientieren sich – insbesondere bei größeren Anschaffungen – nicht nur am kurzfristigen Einkommen, sondern sie berücksichtigen auch ihre Einkommenserwartungen für die nächste Zeit. Rechnen die Arbeitnehmer und Konsumenten mit einer Verschärfung der Arbeitsmarktlage aufgrund der höheren Löhne, dann verschlechtern sich auch die individuellen Einkommensperspektiven und damit die Konsumbereitschaft. Die Haushalte legen lieber mehr auf die hohe Kante für eventuell schlechte Zeiten.
3. Lohnerhöhungen führen zu Preiserhöhungen: Können die Unternehmen die höheren Kosten in den Preisen an die Kunden weitergeben, dann bleibt dies nicht ohne Auswirkungen auf den gesamtwirtschaftlichen Preisanstieg. Real gesehen – also unter Berücksichtigung der Preisveränderungen – ist dann die Kaufkraft der ursprünglichen Lohnerhöhung niedriger als anfangs erwartet. Auch im öffentlichen Sektor müssen in Zeiten wachsender staatlicher Defizite die höheren Lohnkosten irgendwo aufgefangen werden. Sei es über steigende Preise und Gebühren für öffentliche Leistungen oder über rückläufige Ausgaben an anderer Stelle – vor allem bei den öffentlichen Investitionen.
4. Die Nachfrage nach inländischen Konsumgütern steigt nicht im Ausmaß der Lohnerhöhungen: Hundert Euro mehr Lohn sind nicht gleich hundert Euro mehr Konsum. Würde man bei einem Familienvater mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkommen genau 100 Euro im Monat mehr brutto überweisen, dann bliebe für den Konsum von inländischen Konsumgütern gerade einmal ein Drittel übrig: Zuerst holt der Fiskus gut 40 Prozent für Lohnsteuer (einschließlich Solidaritätszuschlag), Kirchensteuer und Sozialversicherungsbeiträge. Vom verbleibenden Nettoeinkommen in Höhe von 60 Euro sparen die Haushalte einen Teil – im Durchschnitt 6,70 Euro. Ein weiterer Teil des Nettoeinkommens wird für den Kauf ausländischer Konsumgüter verwendet. Alles in allem bleiben von einer Bruttolohnerhöhung von 100 Euro auf direktem Wege nur knapp 34 Euro für den Kauf von inländischen Konsumgütern hängen. Bei einem Single sind es wegen der deutlich höheren Steuerbelastung nur gerade einmal knapp 29 Euro. Dem stehen wegen der zusätzlich zum Bruttoeinkommen anfallenden Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung insgesamt Arbeitskosten bei den Unternehmen von gut 120 Euro gegenüber. Der Keil zwischen der Kostenbelastung der Arbeitgeber und der zusätzlichen Kaufkraft für den inländischen Konsum ist mittlerweile auf 87 Euro angewachsen.
Apologeten des Kaufkraftarguments weisen an dieser Stelle immer wieder darauf hin, dass die höheren Staatseinnahmen infolge der höheren Steuereinnahmen und Sozialbeiträge dem Kreislauf nicht entzogen werden. Dabei gilt es aber, Folgendes zu beachten: Bei höheren Steuereinnahmen des Staates stellt sich die Frage, ob diese dazu verwendet werden, die Ausgaben zu erhöhen oder die Neuverschuldung zu senken:
1. Höhere Staatsausgaben: Hier würde nicht im oben angesprochenen Ausmaß das Steuergeld dem Kreislauf entnommen. Der Staat entzöge zwar den privaten Haushalten Kaufkraft, schließt diese Lücke zum Teil aber wieder, indem er selbst kauft.
– Verwendet der Staat die zusätzlichen Staatseinnahmen für zusätzliche Investitionen, dann bietet er auch den Unternehmen wichtige Produktionsvoraussetzungen und verstärkt die Basis für künftiges Wachstum. Kaufkraft der privaten Haushalte würde also durch Investitionen des Staates ersetzt.
– Der Staat kann die zusätzlichen Einnahmen auch für staatlichen Konsum – beispielsweise Verwaltungsausgaben oder höhere soziale Leistungen (Wohngeld, Sozialhilfe) verwenden. In diesem Fall würde ein weiterer Teil der Kaufkraft der privaten Haushalte umverteilt.
Generell muss hierbei allerdings einiges wieder gegengerechnet werden:
– Offen ist, ob die privaten Haushalte mit dem staatlichen Konsum zufriedener sind, als wenn sie über ihr Einkommen selbst verfügen können. Es ist bekannt, dass die mit den höheren Staatsausgaben verbundene Steuerlast die Leistungsanreize beeinträchtigt. Zusätzliche Staatsausgaben sind für viele kein guter Ersatz für die hohen Steuern und belasten damit auch die Wachstumskräfte eines Landes.
– Zudem muss gefragt werden, wie hoch die Sickerverluste durch Verwaltungsineffizienzen und die zusätzliche Bürokratie sind.
– Außerdem haben sich im Zeitablauf die Staatsausgaben immer mehr von den investiven Ausgaben hin zu den konsumptiven Ausgaben verlagert. In den letzten fünf Jahren belief sich der Anteil der staatlichen Investitionsausgaben an den Staatsausgaben auf nur noch gut 3 Prozent. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre waren es – auch bedingt durch die Wiedervereinigung – noch über 5 Prozent, und auch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre waren es noch knapp 4 Prozent. Gerade jetzt in Zeiten knapper staatlicher Kassen besteht die Gefahr, dass die höheren Personalkosten trotz höherer Einkommensteuereinnahmen insgesamt zulasten der öffentlichen Investitionen gehen.
2. Geringere Neuverschuldung: In Zeiten der dringend notwendigen Haushaltskonsolidierungen kann der Staat Mehreinnahmen dafür verwenden, sich im laufenden Jahr weniger hoch zu verschulden. In diesem Fall würde der Staat die Kapitalmärkte weniger stark beanspruchen, was sich wiederum in niedrigeren Zinsen niederschlagen kann. Das kann sich schließlich indirekt positiv auf Konsum und Investitionen auswirken. Hiervon sollte man sich aber nicht allzu viel versprechen. Was bleibt, sind die permanent höheren Personalkosten des Staates. In der gegenwärtigen Situation wird über den Staat kein zusätzliches Geld in den Konsum oder die Investitionen gelangen. Das über Steuern angeeignete Geld wird vielmehr der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage entzogen.
Das Gleiche gilt prinzipiell für höhere Einnahmen der Sozialversicherungen: Nimmt man zunächst an, die Zahl der Beschäftigten würde infolge der Lohnerhöhungen zunächst einmal nicht zurückgehen. Bei einer weitgehend konstanten Zahl von Arbeitnehmern und Arbeitslosen würde dann auch die Zahl der Transferbezieher nicht ansteigen. Die Sozialausgaben würden also trotz höherer Sozialbeitragseinnahmen nicht steigen. Und auch der Konsum würde von daher nicht zulegen. Die Sozialversicherungen bräuchten in diesem Fall einen geringeren Bundeszuschuss, um ihre Defizite zu decken. Der allgemeine Staatshaushalt würde entlastet, kurzfristig hätte dies aber keinen direkten expansiven Effekt auf Konsum und Investitionen.
Anders sieht es aus, wenn die höheren Lohnkosten zu einer höheren Arbeitslosigkeit führen. Dann würden zwar die gesamtwirtschaftlichen Transfereinkommen steigen. Dies wäre ein denkbar schlechter Tausch: Höhere Arbeitslosigkeit und höhere Transfereinkommen auf Kosten von Arbeitsplätzen und den damit verbundenen Arbeitseinkommen.
Insgesamt steht das Kaufkraftargument auf tönernen Füssen. Die erhofften Wirkungen von Lohnerhöhungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage treten nicht ein. Trotz der Einwände gegen das Kaufkraftargument halten einige Unbelehrbare an der auf den ersten Blick verführerischen Automatik fest. Es steht aber viel auf dem Spiel. Denn gerade das Gegenteil von kräftigen Lohnerhöhungen – eine von fast allen Ökonomen geforderte Lohnpolitik mit Augenmaß in allen Sektoren – hat unbestreitbare Vorteile für die Beschäftigung hierzulande:
1. Keine Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit: Moderate Lohnerhöhungen schaffen für die Unternehmen hierzulande keine zusätzlichen Kostennachteile. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit und das harte Auslandsgeschäft werden also nicht weiter belastet. Aber nicht nur von der Exportflanke würden Arbeitsplätze im Inland gesichert: Je weniger bei den Arbeitskosten draufgesattelt wird, umso höher sind die Anreize, hierzulande zu investieren.
2. Keine Verschärfung des Rationalisierungsdrucks: Bei einer mäßigen Tariflohnpolitik entstehen keine Anreize, Arbeitskräfte durch Kapital und den damit verbundenen modernen Technologien zu ersetzen. Das gilt auch für eine Reihe von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor.
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Das Kaufkraftargument steht nicht auf schwachem Fundament, sondern auf gar keinem. Es ist nicht mehr als eine politische Parole, die unter der Maske ökonomischer Legitimation daherkommt. Wäre an dem Kaufkraftargument nur irgendetwas dran, Deutschland hätte längst Vollbeschäftigung und wäre die führende Wirtschaftsnation der Welt (wie vor 1968).
Mit der „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung…“ kam die Legende der Nachfrage als Treiber der Wirtschaft in die Welt. Aber sie war zu schön, um wahr zu sein. Obwohl empirisch gescheitert und theoretisch widerlegt, durfte sie nicht sterben. Auf ein politisches Dogma geschrumpft, diente sie Sozialisten und staatsgläubigen Konservativen zur Rechtfertigung jedweder wohlfahrtsstaatlichen Maßnahme, die immer in irgend einer Form Nachfrage darstellt; sei es der Mindestlohn oder die Abwrackprämie. Und sie öffnete die Schleusen zur Staatsverschuldung.
Was aber dieses politische Dogma so besonders attraktiv macht, ist die Verschleierung ökonomischer Zusammenhänge: so kann die Abhängigkeit der Beschäftigung vom Verhältnis Lohn/Produktivität zum Staatsgeheimnis erklärt werden.