Einige Überlegungen zu möglichen Verhaltenseffekten der Corona-Krise

Bleibende ökonomische Auswirkungen der Corona-Pandemie werden an der Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktionsfaktoren – dem Arbeitseinsatz, Sach- und Humankapital sowie dem Bestand an technischem Wissen – sichtbar werden. Verhaltensänderungen, wie etwa eine höhere Technikakzeptanz, können das Produktionspotenzial dauerhaft stärken. Dem stehen die negativen Effekte von verstärkten protektionistischen Haltungen oder langfristig wirksame Verunsicherungen gegenüber.

Die Corona-Pandemie hat sich im Jahresverlauf 2020 zu einer immensen gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderung entwickelt. Die gesundheitspolitischen Maßnahmen und die vielfältigen wirtschaftlichen Auswirkungen in den rund um den Globus betroffenen Volkswirtschaften haben das Wirtschaftsleben so stark beeinträchtigt wie kein Ereignis in den letzten sieben Dekaden.

Neben diesem historischen Konjunktureinbruch infolge der Pandemie stellt sich auch die Frage, welche bleibenden Effekte möglich erscheinen. Dabei stehen – neben den Effekten auf die Staatsverschuldung oder die Verteilungssituation – vorwiegend die Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial im Vordergrund. Das Produktionspotenzial kann anhand der Ausstattung einer Volkswirtschaft mit Arbeitskräften, Sachkapital (einschließlich Infrastrukturen und immateriellem Produktionskapital), Humankapital, Naturkapital und dem vielfältigen Bestand an technischem Wissen beschrieben werden. Diese Faktorausstattung determiniert das gesamtwirtschaftliche Produktivitätsniveau, das in hohem Maß wiederum über den (materiellen) Lebensstandard in einem Land entscheidet.

Diese Faktorbestände sind das Ergebnis von Investitionen und die Neigung, in all diese Faktorbestände zu investieren, wird letztlich von den institutionellen und geopolitischen Rahmenbedingungen bestimmt (Grömling, 2020). Die Corona-Pandemie kann nicht nur das angestrebte Verhältnis von Markt und Staat – in der Bewertung der Gesellschaft, Politik und auch der Ökonomen – in einer Marktwirtschaft auf den Prüfstand stellen. Dies kann dann entsprechende Auswirkungen auf die Investitionsneigung und das Produktionspotenzial haben. Auch der Strukturwandel wird möglicherweise durch eine Restrukturierung der Produktionsprozesse – Stichwort Internationale Wertschöpfungsketten oder Technologiesouveränität – beeinflusst. In diesem Kontext ist auch ein Pandemie-bedingter Schub beim technischen Fortschritt denkbar. Hinter all diesen Wirkungsmechanismen einer solchen Krise auf das Produktionspotenzial stehen auch Verhaltensänderungen, die im Folgenden kurz – und nicht allumfassend – aufgezeigt werden (Grömling, 2020).

Die Corona-Pandemie hat die Volkswirtschaften schneller, stärker und vor allem viel breiter erfasst als frühere Krisen. Mit der abrupten, in Teilen sogar vollständigen Aussetzung der normalen Betriebsabläufe im zweiten Quartal 2020 wurden jedoch auch in hohem Tempo neue technische Ausweichmöglichkeiten – wie etwa das Arbeiten oder Studieren von Zuhause – praktiziert. Frühere technologische Widerstände wurden offensichtlich überwunden und als bleibender Effekt kann sich in einer optimistischen Wendung eine höhere Offenheit für Innovationen im Betriebs- und Gesellschaftsleben einstellen. Gesamtwirtschaftlich können diese Verhaltensänderungen sowohl das Humankapital als auch den Bestand an technologischem Wissen dauerhaft erhöhen und möglicherweise auch künftig stärkere Zuwächse bewirken. Nicht zuletzt kann dies auch dadurch verstärkt werden, wenn die Ausbildungsentscheidungen und das Risikobewusstsein junger Menschen in einer positiven Weise beeinflusst werden. Zu denken wäre etwa an eine höhere Affinität für technische oder naturwissenschaftliche Berufswege.

Dagegen können aber auch Verhaltensänderungen eintreten, welche die Fortschritte bei der Faktorausstattung eines Landes langfristig dämpfen. Eine infolge der Pandemie entstehende Frustration junger Menschen über eingeschränkte Lern-, Studien- und Arbeitsmöglichkeiten kann langwierige Potenzialschäden – über die Arbeitsmarktintegration und die Anreize zur Humankapitalbildung – mit sich bringen. Gemäß dem sogenannten „scaring effect“ werden die Lebensläufe und die damit einhergehenden Lebensverdienste von Jugendlichen, die infolge einer Rezession arbeitslos werden oder einen schwierigeren Berufseinstieg haben, langfristig beeinträchtigt.

Ein Ereignis wie die Corona-Pandemie, das bislang mit nur einer sehr geringen Eintrittswahrscheinlichkeit versehen war (tail risk), kann das langfristige Verhalten der Investoren verändern, was sich dann negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt. Solche „tail events“ führen zu den bereits angesprochenen „scarring effects“. Das Auftreten der Corona-Pandemie – selbst wenn sie infolge eine Impfstoffs bekämpft sein wird – wird demnach künftig von Unternehmen bei ihren Investitionsentscheidungen berücksichtigt. Führt die Pandemie kurzfristig zu einer niedrigeren Kapitalrendite wegen der unterausgelasteten Kapazitäten, dann werden auch künftige Kapitalrenditen vor dem Hintergrund dieses tail events prognostiziert. Dieses „scarring of beliefs“ würde dann die Investitionsneigung langfristig dämpfen und damit die Entwicklung des Produktionspotenzials.

Eine weitere Denkmöglichkeit bezüglich bleibender Potenzialschäden infolge der Pandemie besteht darin, dass die bereits vor der Krise bestehenden geopolitischen Gefahren und protektionistische Haltungen verstärkt werden. Dies kann die grenzüberschreitende Arbeitsallokation und den internationalen Wissenstransfer – etwa über eingeschränkte Möglichkeiten und geminderte Anreize für Ausbildungen und Berufserfahrungen im Ausland – hemmen. Führen die Pandemie und eine weniger offene Weltwirtschaft langfristig zu einer insgesamt eingeschränkten Fachkräftemigration, dann werden sich demografisch bedingte Produktionslücken und die damit einhergehenden Anpassungslasten hierzulande verstärken.

Nicht zuletzt würde auch eine infolge der Pandemie zunehmende marktkritische Haltung das Wirtschaftsleben und den Strukturwandel beeinträchtigen. Die Corona-Krise hat nicht nur die Notwendigkeit einer schnell wirksamen Konjunkturpolitik aufgeworfen, sondern auch den Ruf nach industriepolitischen Maßnahmen verstärkt. In diesem Kontext hat die Corona-Pandemie auch die Forderungen nach einer nationalen Technologiesouveränität forciert und damit die Frage aufgeworfen, wie unabhängig Länder hinsichtlich sogenannter kritischer Technologien sein müssen. Das Ziel einer umfassenden technologischen Autarkie ignoriert jedenfalls die Vorteile internationaler Arbeitsteilung – vor allem im zentralen Bereich von Forschung und Entwicklung.

Vor allem wenn Staatsunternehmen und Staatsfonds einen zunehmenden Einfluss auf die Wirtschaftstätigkeit in ihren eigenen Ländern und auch in anderen Volkswirtschaften gewinnen, können langfristige Auswirkungen auf die Faktorakkumulation und die säkularen Entwicklungspfade von Volkswirtschaften erfolgen. Die Corona-Krise verschärft die politische und ökonomische Auseinandersetzung der bipolaren Hegemonialmächte USA und China. Beide forcieren industrie- und strukturpolitische Projekte, die letztlich ebenfalls eine Neuorientierung von Markt und Staat mit sich bringen und andere Länder auch institutionell – etwa mit Blick auf Marktzugang oder Unternehmensbeteiligungen – unter Zugzwang setzen. Dies hat am Ende des Tages Auswirkungen auf die Produktionspotenziale, die Produktivitätsentwicklung und schließlich den damit einhergehenden Wohlstand. Jedenfalls geht nicht automatisch mit einer regionalen Reallokation von Produktionsfaktoren oder einer autarkistischen Technologiesouveränität eine höhere Produktivität einher.

Der seit der globalen Finanzmarktkrise aufkommende Protektionismus und die Handelskonflikte in den letzten Jahren haben bereits die marktwirtschaftlichen Koordinationsmechanismen eingeschränkt. Die langfristigen Innovations- und Investitionseffekte dürften insgesamt negativ sein. Jedenfalls wird den vormaligen Binnenmarktprogrammen und Welthandelsrunden zugesprochen, dass sie mit Blick auf die Entwicklung der Produktionsfaktoren und der Produktivität vorteilhaft waren. Demnach dürften die Neigung zu verstärkten Staatseingriffen und der Protektionismus langfristig das Gegenteil bewirken.

Referenzen:

Grömling, Michael, 2020a, Langfristeffekte der Corona-Pandemie – eine Orientierung, IW-Report Nr. 35, Köln

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