Der sog. „Bilanzskandal“ um die Wirecard AG erregt fortwährend die Gemüter. Bereits die in der öffentlichen Diskussion verwendete Begrifflichkeit ist irreführend, denn natürlich ist nicht das stichtagsbezogene Rechenwerk „Bilanz“ für den Skandal verantwortlich. Aus ökonomischer Perspektive kann es sich nur um die Verantwortlichkeit einzelner Individuen handeln, für die der Nutzen einer kriminellen Handlung die Kosten – Entdeckungswahrscheinlichkeit multipliziert mit Strafe – überstiegen. Natürlich soll die externe Unternehmensrechnung – sofern diese das Vollständigkeitsgebot gem. § 246 Abs. 1 S. 1 HGB beachtet – die Geschäftsaktivitäten für außenstehende Adressaten sichtbar machen. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, die kriminellen Handlungen einzelner Akteure innerhalb einer Unternehmung zu entdecken, zeichnet dann der Prüfer des Jahresabschlusses verantwortlich, sodass es keine Überraschung ist, dass im Rahmen der öffentlichen Diskussion auch die Rolle der Abschlussprüfer diskutiert wird.
Maßnahmenpaket
Unlängst legten das Bundesfinanz- und Bundesjustizministerium den Referentenentwurf des Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetzes (FISG) vor, der als politische Antwort auf den weitreichenden Betrugsfall des früheren DAX-Konzerns zu verstehen ist. Noch bevor seitens der Judikative abschließend entschieden wurde, welche Instanzen verantwortlich zu zeichnen haben, scheinen sich das Bundesfinanz- und Bundesjustizministerium jedoch dahingehend einig zu sein, dass auch der verantwortliche Abschlussprüfer EY eine (Teil-)Schuld zu tragen scheint. Im Referentenentwurf heißt es zur A. Problem und Ziel: „Jüngste Vorkommnisse haben gezeigt, dass insbesondere die Bilanzkontrolle gestärkt und die Abschlussprüfung weiter reguliert werden müssen, um die Richtigkeit der Rechnungslegungsunterlagen von Unternehmen sicherzustellen.“ Mit dem FISG stellten die beiden Ministerien nun einen Maßnahmenkatalog vor, der umfangreiche Regulierungsvorhaben vorsieht – sich jedoch inhaltlich wenig mit den bekanntgewordenen Eckpunkten des Bilanzskandals deckt. Insofern ist zumindest der Schluss, dass die Ereignisse eine weitere Regulierung bedingen, alles andere als zwingend. Handelt es sich nicht vielmehr um politischen Aktionismus, verbunden mit dem eigentlichen Wunsch eine Branche noch stärker zu regulieren, die ohnehin bereits stark reguliert ist, um so der eigenen Wählerschaft Handlungsstärke zu signalisieren?
Dass zuständige politische Akteure als Reaktion auf vorherige Krisen diesem Berufsstand reflexartig strengere Regulierungen auferlegen wollen, ist nicht neu. Nach dem spektakulären Fall um das US-amerikanische Unternehmen Enron wurde in den Vereinigten Staaten der sog. Sarbanes-Oxley-Act (2002) als wohl umfangreichste Regulierungsmaßnahme im dortigen Rechtsraum eingeführt. Hierzulande diskutierten die Instanzen der Europäischen Union im Nachgang zur letzten internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise ebenfalls intensiv die Rolle des Abschlussprüfers und verabschiedeten im Jahr 2014 ein Reformpaket, welches ohnehin erst seit kurzem innerhalb der EU Anwendung findet. Dieses Reformpaket (Verordnung (EU) Nr. 537/2014 und Richtlinie 2014/56/EU) stellen seit dem einen Mindestrahmen auf Ebene der EU für verschiedene – bereits seit Dekaden kontrovers diskutierte – Maßnahmen dar, die darauf abzielen die Qualität der geprüften Abschlüsse sicherzustellen.
Der hiesige Umsetzungsakt der EU-Reformen durch das APAReG (2016) und AReG (2016) fiel zunächst vergleichsweise moderat aus. Bestimmte Wahlrechte wurden so ausgeübt, dass sie lediglich den seitens der Gesetzgeber aus Brüssel intendierten Mindestrahmen abdeckten. Mit dem FISG scheint sich das Blatt jedoch zu wenden:
Die eingereichten Vorschläge beinhalten dabei:
- Eine Ausweitung der Pflicht zur Trennung von Prüfung und Beratung,
- eine weitere Verkürzung der gesetzlichen Höchstlaufzeit einer Auftragsbeziehung zwischen dem Abschlussprüfer und seinem Mandanten („Externe Rotationspflicht“) und
- einer Ausweitung der Haftungsvorschriften.
Das ökonomische Kalkül hinter den Maßnahmen erscheint prima facie als plausibel. 1. und 2. sollen darauf abzielen, eine mögliche Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu mindern bzw. nicht aufkommen zu lassen. 3. soll die abschreckende Wirkung verstärken, da hierdurch c.p. die erwarteten Kosten des prüferischen Fehlverhaltens steigen. Während die abschreckende Wirkung einer Haftungsausweitung einleuchtet, sind jedoch die erstgenannten Maßnahmen – insbesondere im Hinblick auf den Fall „Wirecard“ einer kritischen Würdigung zu unterziehen
Theoretische Modelle legen nahe, dass aus einer parallelen Beratungstätigkeit des Abschlussprüfers eine Gefährdung seiner Unabhängigkeit und damit eine möglicherweise schlechtere Prüfungsqualität resultieren könnte (etwa DeAngelo 1983; Antle 1984). Hierbei wird argumentiert, dass ein paralleler Einkommensstrom aus der Beratungstätigkeit zu einer weniger strengen Prüfung führen könnte, da der Abschlussprüfer ansonsten Sorge tragen müsste, mit dem Entzug des Mandats zu rechen. Die empirische Evidenz kommt diesbezüglich jedoch zu uneinheitlichen Ergebnissen (Kraft/Lopatta 2016 zeigen, dass eine parallele Steuerberatung des Mandanten nicht zu einer geringeren Prüfungsqualität führt; Quick/Sattler 2011 schlussfolgern hingegen, dass sonstige Leistungen des Abschlussprüfers zu einer Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit führen könnten). Insofern mag bezweifelt werden, ob die angedachte Maßnahme überhaupt als effektiv zu werten ist. Dem entgegen könnte auch argumentiert werden, dass sich positive Effekte, durch bessere Kenntnis des Geschäftsmodells und der Ablauforganisation (sog. knowledge-spillover), eine stärkere Akzeptanz der Vorschläge und Einwände des Prüfers durch den Vorstand, oder eine durch den Prüfer in Antizipation der Gefährdung seiner Unabhängig selbst auferlegte Distanz, aus der Beratungstätigkeit ergeben.
Als kritischen Grenzwert einer seitens Investoren wahrgenommenen Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers hat sich im Rahmen einer Befragung ein Grenzwert von 27,9% der Beratungshonorare an den Gesamtbezügen herausgestellt (Quick/Warming-Rasmussen 2007). Die Gesellschaft EY vereinnahmte zwar neben ihrer originären Funktion als Abschlussprüfer der Wirecard AG auch Honorare für bestimmte Beratungsleistungen des Mandanten, diese waren jedoch lediglich in den Geschäftsjahren 2015 und 2012 mit 31,9% bzw. 31,0% über dem kritischen Grenzwert einer wahrgenommenen Beeinträchtigung der Unabhängigkeit. In den übrigen Geschäftsjahren (2011 –) schwankte der Beratungsanteil zwischen 6,6% und 21,8%. Im Vergleich zu übrigen börsennotierten Unternehmen wies der Abschlussprüfer EY ebenfalls keine auffällig hohen Beratungsanteile an den Gesamtbezügen auf. Schließlich vereinnahmten im gesamten Prüfungszeitraum von EY als Abschlussprüfer der Wirecard AG die Big-4 Prüfungsgesellschaften durchschnittlich zwischen 20,0 – 26,0 % von ihren Mandanten (Widmann/Wolz 2019).
Neben der Ausweitung der Pflicht zur Trennung des Prüfungs- vom Beratungsgeschäft sehen die Maßnahmen des Aktionsplans Wirecard ebenfalls eine weitere Verkürzung der gesetzlichen Höchstlaufzeit von Unternehmen des öffentlichen Interesses auf zukünftig maximal zehn Jahre vor. Bis dato können börsennotierte Unternehmen ihren Abschlussprüfer – unter Ausnutzung bestimmter Verlängerungsoptionen – in maximal 24 aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren bestellen. Die nun seitens der politischen Akteure anvisierte Zeitspanne von zehn Jahren mag vor dem Hintergrund des Sachverhalts rund um die Wirecard AG ebenfalls verwundern. Der verantwortliche Abschlussprüfer EY war im letzten Geschäftsjahr 2019 „erst“ im neunten Jahr seiner Tätigkeit. Die Festlegung der zehn Jahresfrist erscheint insofern mehr als fragwürdig, wenn denn die Zeitspanne der Tätigkeit des Abschlussprüfers sich überhaupt nachteilig auf die Prüfungsqualität auswirken würde. Auch diesbezüglich besteht keine eindeutige empirische Evidenz. Ebenfalls könnte genau gegenteilig argumentiert werden, dass die Tätigkeit als Abschlussprüfer eine umfangreiche Zeit der Einarbeitung im Zeitablauf bedarf und die Prüfungsqualität von einer längeren Amtsdauer gar profitieren könnte.
Neue Politische Ökonomie der Wirtschaftsprüfungsregulierung
Mit Blick auf den Fall Wirecard ist jedoch insbesondere bemerkenswert, dass weder der Punkt „Pure Audit Firms“ noch das Thema „Externe Rotation“ in irgendeinem Zusammenhang mit den Versäumnissen bei der Prüfung des Unternehmens stehen. Insofern ist dem Vorstandssprecher des IDW, Klaus-Peter Naumann (zitiert in FAZ vom 20.10.2020, S. 22), insb. darin zuzustimmen, dass die genannten Vorschläge inhaltlich gar nicht im Zusammenhang mit dem Bilanzskandal um die Wirecard AG stehen.
Aus Sicht des kritischen Beobachters stellt sich unweigerlich die Frage, welche Zielsetzung die politischen Akteure mit ihren dann als Aktionismus einzustufenden Maßnahmen verfolgen. Aus Sicht der Neuen Politischen Ökonomie – welche seit den achtziger Jahren auch als Analyseansatz innerhalb der Betriebswirtschaftslehre im Allgemeinen und der Unternehmensrechnung im Speziellen, Anwendung findet (etwa Tinker 1980; Sutton 1984; Ordelheide 1998; Zülch/Gebhard/Hoffmann 2009; Homfeldt 2013; Quill 2016; Follert 2020a; Follert 2020b, wenngleich bei diesen Arbeiten der Lobbyismus im Vordergrund steht) erscheint es als naheliegend, dass die politischen Akteure mit ihren Vorstößen primär eine Maximierung der Wählerstimmen gemäß der Annahme Downs (1957) verfolgen. Um den Zusammenhang zwischen dem Entscheidungskalkül der politischen Akteure und der Wahrnehmung der Aufgaben eines Wirtschaftsprüfers durch den Bürger nachvollziehen zu können, lohnt sich ein Blick in die Theorie des wirtschaftlichen Prüfungswesens: In der gesamten Diskussion wird deutlich, wie groß die Lücke ist, zwischen dem, was die Öffentlichkeit von einem Jahresabschlussprüfer erwartet, und dem, was dieser tatsächlich leisten soll („Erwartungslücke“, etwa Marten, Quick und Ruhnke; Brösel et al. 2015). Wirkungsvoller wäre es sicherlich, den Steuerzahler über die Möglichkeiten und Grenzen des Abschlussprüfers aufzuklären. Der verzweifelte Versuch, diese Lücke durch immer schärfere Regelungen zu schließen, stärkt Anreize für ein Auseinanderfallen von Entscheidung und Verantwortung. Gleiches gilt im Übrigen für das, was ein Jahresabschluss sowie ein Lagebericht leisten kann. Wenn ein Anleger – wie im Beitrag dritte Spalte angesprochen – in einem Unternehmen investiert und ex post reklamiert „er habe (wie bei Wirecard) das Geschäftsmodell gar nicht verstanden“ (FAZ vom 20.10.20, S. 22), dann ist das weder ein Versäumnis des Berichterstattenden, noch des Prüfers, sondern ein sicheres Indiz dafür, den Anleger die Konsequenzen seines Handelns tragen zu lassen. Aber selbstverständlich sind auch jene Anleger potentielle Wähler, sodass es aus Sicht der politischen Akteure durchaus als rational erscheint, Aktivität zu signalisieren.
Literatur:
Antle, R. (1984). The auditor as an economic agent. Journal of Accounting Research, 20. Jg., S. 503-527.
Brösel, G., Freichel, C., Toll, M., Buchner, R. (2015). Wirtschaftliches Prüfungswesen, 3. Aufl., München: Vahlen.
DeAngelo, L. (1983). Auditor Independence, ‘Low Balling’, and Disclosure Regulation. Journal of Accounting and Economics, 3. Jg., S. 113-127.
Downs, A. (1957). An Economic Theory of Democracy. New York: Harper.
Follert, F. (2020a). Zur Unternehmensbewertung im Spruchverfahren aus interessentheoretischer Sicht. Der aktienrechtliche Minderheitenausschluss im Lichte der Neuen Politischen Ökonomie. Wiesbaden: Springer Gabler.
Follert, F. (2020b). Squeeze-Out and Business Valuation in Germany. A Law and Economics Analysis of Judicial Decision-Making. Accounting, Economics, and Law, https://doi.org/10.1515/ael-2020-0118
Homfeldt, N. B. (2013). Interessengeleitete Rechnungslegung. Internationale Angleichung und politische Ökonomie am Beispiel des „fair value“. Wiesbaden: Springer Gabler.
Kraft, A., Lopatta, K. (2016). Auditor fees, discretionary book-tax differences, and tax avoidance. International Journal of Economics and Accounting. 7. Jg., S. 127-155.
Marten, K.-U., Quick, R., Ruhnke, K. (2020). Wirtschaftsprüfung, 6. Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
Ordelheide, D. (1997). Zur Politischen Ökonomie der Rechnungslegung. Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, Sonderheft 40, S. 1-16.
Quick, R., Sattler, M. (2011). Das Erfordernis der Umsatzunabhängigkeit und die Konzentration auf dem Markt für Abschlussprüferleistungen. Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 88. Jg., S. 61-98.
Quick, R., Warming-Rasmussen, B. (2007). Unabhängigkeit des Abschlussprüfers – Zum Einfluss von Beratungsleistungen auf Unabhängigkeitswahrnehmungen von Aktionären. Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 77. Jg., S. 1007-1033.
Quill, T. (2016). Interessengeleitete Unternehmensbewertung. Ein ökonomisch-soziologischer Zugang zu einem neuen Objektivismusstreit. Wiesbaden: Springer Gabler.
Sutton, T. G. (1984). Lobbying of accounting standard-setting bodies in the U.K. and the U.S.A.: A Downsian analysis. Accounting, Organizations and Society, 9. Jg., S. 81-95.
Tinker, A. M. (1980). Towards a political economy of accounting. An empirical illustration of the Cambridge controversies. Accounting, Organizations and Society, 5. Jg., S. 147-160.
Widmann, M., Wolz, M. (2019). Das sog. fee-cap für zulässige Nichtprüfungsleistungen des Abschlussprüfers. Zeitschrift für Corporate Governance, 14. Jg., S. 264-271.
Zülch, H., Gebhardt, R., & Hoffmann, S. (2009). Politische Ökonomie der Rechnungslegung –
Bisherige Forschungsergebnisse und künftige Forschungsperspektiven unter besonderer Berücksichtigung des Lobbyingkonzepts. Journal für Betriebswirtschaft, 59. Jg., 1-29.
Eine Antwort auf „Politischer Aktionismus
Zum Referentenentwurf (Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarktintegrität) aus Sicht der Neuen Politischen Ökonomie “