Die „Novartis-Lotterie“
Einige kritische Reflexionen

Spinale Muskelatrophie Typ 1 (SMA1) ist eine seltene, aber schwere genetische Erkrankung. Erst durch den vor kurzem entwickelten Wirkstoff Onasemnogene abeparvovec, der unter dem Handelsnamen Zolgensma® vermarktet wird, steht hier eine erfolgversprechende medikamentöse Therapie zur Verfügung. Eine erhebliche Diskussion in diesem Zusammenhang löste die sog. „Novartis-Lotterie“ aus: Da die FDA-Zulassung im Jahr 2019 erteilt wurde, aber andere Gesundheitsbehörden Zolgensma nicht so schnell genehmigten wie die FDA, hat Novartis eine Lotterie für Länder außerhalb der USA durchgeführt und seitdem jährlich 100 Dosen des 2,1 Millionen Dollar teuren Medikaments verlost. Wir wollen mit dem Beitrag an einen Beitrag von Hartmut Kliemt (2020) anknüpfen und nochmals die Frage der Beurteilung dieser Lotterie aufwerfen.

1. Pharmakologischer und pharmakoökonomischer Hintergrund

SMA1 ist die schwerste Krankheitsform der spinalen Muskelatrophie und gekennzeichnet durch entweder zwei fehlende oder zwei nicht funktionierende Allele des Überlebensmotorneuron-1-Gens (SMN1), das für die Produktion des SMN-Proteins verantwortlich ist (Pérez-García et al., 2017). Die Inzidenz von SMA1 wird auf 3,5-7,1 pro 100.000 Lebendgeburten pro Jahr geschätzt (Jones et al., 2015). Das bei SMA-Patienten beobachtete klinische Bild resultiert aus einer Degeneration der unteren Motoneuronen, die zu einer fortschreitenden Muskelatrophie und einer damit einhergehenden muskulären Schwäche führt. Unbehandelt sterben Kinder im Alter von zwei Jahren an Atemversagen oder Aspirationspneumonie (Mercuri et al., 2018). Genetische Erkrankungen wie Mukoviszidose und SMA galten bis zur Entwicklung der entsprechenden Gentherapie als progressive, nicht behandelbare und unheilbare Erkrankungen.

Bei der einschlägigen Gentherapie, die nur einmal intravenös verabreicht werden muss, wird die funktionelle Kopie von SMN1 über ein biotechnologisch hergestelltes, harmloses Virus in menschliche Motoneuronen transportiert, wo es den SMN-Proteinspiegel erhöht. Eine vor der Gentherapie erworbene Behinderung kann nicht rückgängig gemacht werden. Die klinischen Studien haben jedoch gezeigt, dass die Therapie u.a. den Beatmungsbedarf bei Kindern reduzieren und auch sonst bei der Entwicklung von Kindern zu erheblichen Verbesserungen führen kann (Dhananjoy et al., 2021).

Zolgensma wurde im Jahr 2015 in das Orphan-Drug-Designation-Programm der Europäischen Arzneimittel-Agentur aufgenommen. Damit verbunden sind öffentliche Anreize zur Entwicklung und die Garantie einer 10-jährigen exklusiven Marktzulassung (EMA, 2020). In Europa wurde Zolgensma schließlich im Mai 2020 die Marktzulassung erteilt (Department of Health, 2021).

Vor der Zulassung von Zolgensma war Spinraza® die Therapie der Wahl bei SMA. Dieses Präparat wies ebenfalls hohe Kosten auf und war zudem schwierig zu verabreichen. Novartis hält den Preis für angemessen, da er mit 2,1 Millionen US-Dollar in den USA pro Behandlung günstiger sei als eine fünfjährige Behandlung mit Spinraza des Konkurrenten Biogen (Roland, 2019; Sismondo, 2020).

2. Die Lotterie im Kontext des Markteintritts

Die Lotterie, die als Verlosung konzipiert ist (es gibt immer einen Gewinner) (Appel und Michels-Gualtieri, 2020), trägt den Namen Novartis Gentherapien Managed Access Program und wurde 2020, kurz nach der FDA-Zulassung in den USA, gestartet. In den meisten Ländern können Pharmaunternehmen Medikamente, die noch nicht von den nationalen Behörden zugelassen sind, im Rahmen des sogenannten Compassionate Use kostenlos vertreiben (Roland, 2019). Compassionate Use umfasst in diesem Zusammenhang den Einsatz eines noch nicht oder neu zugelassenen Medikaments als lebensrettendes Medikament bei schweren Erkrankungen außerhalb einer klinischen Studie (Hyry et al., 2015). Normalerweise würden die Pharmaunternehmen versuchen, Patienten, die das neue Medikament benötigen, in klinische Studien aufzunehmen oder ihr neues Medikament von Fall zu Fall im Rahmen von Compassionate Use zu verabreichen. Novartis nutzte dieses Mal jedoch ein anderes Konzept und führte die Lotterie ein. Gründe dafür waren nach Angaben des Unternehmens begrenzte Produktionskapazitäten und eine weltweit hohe Nachfrage nach diesem potenziell lebensrettenden Medikament (Roland, 2019).

Mit der Zulassung in den USA wurde der US-Markt priorisiert, aber in Ländern ohne offizielle Zulassung sollten jährlich 100 kostenlose Dosen abgegeben werden. Wird Zolgensma in einem bestimmten Land zugelassen, wird die Lotterie dort sofort beendet (Roland, 2019). Ärzte können Patienten registrieren, die die vom Unternehmen festgelegten Kriterien erfüllen, d. h. jünger als zwei Jahre sind und eine bestimmte bi-allelische Mutation im SMN1-Gen aufweisen (Novartis, o. J.).

3. Die Lotterie in der öffentlichen Diskussion

Offensichtlich hat die Lotterie grundlegende ethische Debatten ausgelöst. Novartis selbst argumentierte, dass eine Lotterie der fairste Weg sei, das Medikament zu verteilen und große Hoffnungen und Chancen mit sich bringen würde. Das Unternehmen entschied sich nach Gesprächen mit Experten auf dem Gebiet der Bioethik, die Lotterie durchzuführen. Ein Sprecher räumte jedoch auch ein, dass es keine perfekte ethische Lösung gäbe (Roland, 2019).

Die Meinungen der Patientenvertretungen und der betroffenen Familien reichten von der Ansicht, eine Lotterie sei besser als nichts, bis zum Vorwurf, die Lotterie sei ein Glücksspiel um das Leben (Roland, 2019), bei dem schwerkranke Babys miteinander konkurrieren würden (Novartis lottery for Zolgensma draws condemnation, 2020). Von verschiedener Seite wurde die Lotterie als unangemessene Art der Rationierung gewürdigt (Birnbacher, 2020). Von Seiten zahlreicher Bioethiker wurde das Fehlen einer Priorisierung bemängelt, bei der die Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern wie etwa die Verfügbarkeit des anderen zugelassenen Medikaments Spinraza oder der Priorisierung von Non-Respondern auf Spinraza (Sieb, 2020).

Weitere Kritikpunkte bestanden darin, dass

  1. ein Gesundheitssystem Ungleichheiten ausgleichen müsse (Gesundheit sei in erster Linie aufgrund genetischer und sozialer Faktoren ungleich verteilt) und die Lotterie diese Ungleichheiten verschärfen würde (Sieb, 2020),
  2. es intransparent sei, insbesondere im Hinblick auf die Produktionskapazitäten, warum die Lotterie das Mittel der Wahl sei (Sieb, 2020),
  3. mit der Verabreichung des Medikaments vor Zulassung erhebliche Gesundheitsrisiken eingegangen würden (Beneker, 2019; Regeniter, 2020) und
  4. Novartis die Lotterie als Marketing-Instrument einsetze (Appel und Michels-Gualtieri, 2020).

Auf der anderen Seite wird betont, dass

  1. die Lotterie Entscheidungsträger im öffentlichen Gesundheitssystem unter erheblichen Druck setze, die Medikamente schnell zu genehmigen und die Kosten zu übernehmen (Sieb, 2020; Kliemt 2020) und
  2. im Falle einer positiven Entscheidung freilich auch erhebliche Ressourcen für die Behandlung mit Zolgensma aufgewendet würden, die an anderer Stelle fehlen würden (Kliemt, 2020).

4. Würdigung der Lotterie

Die Beurteilung der Lotterie hängt maßgeblich von den zugrunde liegenden Gerechtigkeitsvorstellungen ab.

So würde ein strikt egalitäres Verständnis, wonach jede Person die gleichen Ansprüche auf gleiche medizinische Versorgungsleistungen hat (Knoepffler & Daumann, 2018; Daumann & Knoepffler, 2020), durch die Lotterie nicht bedient. Hier wäre wohl die Konsequenz eher, das Präparat – solange keine ausreichenden Produktionskapazitäten vorhanden sind oder die Erstattung durch die Krankenversicherung nicht gewährleistet ist – allen vorzuenthalten.

Dem Fairnessprinzip verbundene Gerechtigkeitsvorstellungen – leistungsfähigere Mitglieder sollten die leistungsschwächeren unterstützen; also im Wesentlichen eine Verknüpfung von Subsidiaritätsprinzip und Solidaritätsprinzip (Knoepffler & Daumann, 2018) – konfligieren ebenfalls mit einer Lotterie, die die Einkommensverhältnisse der betroffenen Eltern nicht berücksichtigt. Konsequent angewendet würde diese Gerechtigkeitsvorstellung erfordern, dass Elternhäuser mit einem soliden finanziellen Hintergrund die Kosten für das Präparat selbst übernehmen müssten und die finanziell schwächeren entsprechend subventioniert werden.

Da bei der Lotterie die Prognose ebenfalls nicht berücksichtigt wird, entspricht die Lotterie auch nicht komplett dem utilitaristischen Prinzip, bei dem die Maximierung des gesellschaftlichen Nutzens im Vordergrund steht. Nach dem utilitaristischen Prinzip hätte das knappe Medikament an diejenigen Kinder verteilt werden müssen, die der Gesellschaft den höchsten Nutzen erwirtschaften. Dies im Vorfeld valide einschätzen zu können, dürfte sich als vergleichsweise schwer erweisen.

Tatsächlich ist es so, dass die Lotterie

  • manchen Kindern (den Gewinnern) eine Chance eröffnet, die sie vorher nicht hatten,
  • die Kinder, die nicht ausgewählt wurden, im Vergleich zu vorher nicht schlechter stellt,
  • kaum anfällig gegen Manipulationen ist (wie das beispielsweise bei der Umsetzung des Fairnessprinzips der Fall sein kann).

Freilich wäre es wünschenswert, wenn jedem Kind, dass die Krankheit hat, eine entsprechende Behandlung zukommen könnte, aber die Lösung mit der Lotterie (unabhängig davon, ob Novartis damit Marketingziele verbindet) scheint doch unter ökonomischen Gesichtspunkten sinnvoll zu sein (offenbar wird das Pareto-Kriterium erfüllt). Es ist doch immer noch besser, wenn manchen Patienten geholfen wird als gar keinen.

Zudem schützt sie ein anderenfalls einzusetzendes Auswahlgremium davor, sich mit den Vorwürfen der Eltern auseinanderzusetzen, deren Kindern die Leistungen vorenthalten werden. Und für die Eltern wirkt die Lotterie in gewisser Weise auch entlastend, da sie sich selbst dem Vorwurf nicht machen müssen, zu wenig getan zu haben.

Literatur

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Anne S. Hartmann und Frank Daumann
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