Wie immer um diese Jahreszeit stecken wir mitten in den Festvorbereitungen und manch einer fasst auch wieder gute Vorsätze für das neue Jahr – und wie immer erstellen wir Volkswirte unsere Ausblicke mit Prognosen für die nächsten zwölf oder vierundzwanzig Monate. Dabei gibt es noch immer viele Prognostiker, die Phillip Tetlock in seinem Buch Superforecasting als „Igel“ bezeichnet. Diese halten unbeirrt an ihrer sehr subjektiven Sicht auf die Welt und die Funktionsweise der Wirtschaft fest, blicken niemals zurück auf ihre früheren Fehlprognosen und können daher ihre neuesten Prognosen ohne jedwede Selbstzweifel im Brustton der Überzeugung verkünden. Und sie finden auch ihr Publikum, das diese Prognosen gern und dankbar hört – denn schließlich wird damit unser aller tief verwurzeltes Bedürfnis nach Sicherheit bedient.
Die Entwicklungen in den vergangenen beiden Jahren sollten jedoch selbst die stursten Vertreter der Gattung „Igel“ davon überzeugt haben, dass sich die Zukunft sehr viel schlechter vorhersagen lässt als wir gern glauben möchten. Von „Sicherheit“ haben wir da noch gar nicht gesprochen. Dies gilt sowohl für „bekannte Unbekannte“ (wie Wirbelstürme oder andere Wetterereignisse) als auch für „unbekannte Unbekannte“, also Ereignisse, die auch in Szenarien, die Risiken ernsthaft und nicht nur als prophylaktische Entschuldigung für Fehlprognosen diskutieren, nicht einmal als Extremrisiken oder „schwarze Schwäne“ auftreten. Der Mangel an Sicherheit hat ganz grundlegende Auswirkungen auf das Prognosehandwerk. Es geht hier nicht nur darum, dass man im Nachhinein überrascht feststellt: „Dieses Ereignis haben wir nicht kommen sehen!“ Nein – es geht darum, wie das System selbst funktioniert und wie umfangreich das für volkswirtschaftliche Prognosen relevante System eigentlich ist. Ein reines makroökonomisches Modell reicht nicht mehr aus. Angesichts der Pandemie, des Klimawandels und der Digitalisierung müssen wir ganz offensichtlich das gesamte System – Gesellschaft, Wirtschaft, Technologie – in seiner vollen Komplexität in den Blick nehmen. Manche einschlägigen Wechselwirkungen werden bereits diskutiert: Führt eine Impfpflicht zu stärkeren Spannungen in der Gesellschaft, womöglich sogar zu Unruhen? Wird eine Energiespeichertechnologie entwickelt, die erneuerbare Energien von den Launen der Natur unabhängiger macht? Aus diesen eng miteinander zusammenhängenden Wechselwirkungen ergeben sich Entwicklungen, die sich mithilfe linearer Gleichungen nicht mehr fassen lassen. Vielleicht lassen sie sich auch gar nicht abbilden. Dieses Problem der „Systemkomplexität“ wird unseres Erachtens weder von den Prognostikern noch von den Rezipienten der Prognosen hinreichend gewürdigt.
Die Pandemie hat gezeigt, wie komplex unsere Welt ist
Im Januar 2020 meldeten die chinesischen Behörden, dass in der Stadt Wuhan ein neuartiges Coronavirus aufgetreten sei, das Lungenentzündungen verursache. Dieses zunächst lokale und scheinbar weit entfernte Ereignis hat sich rasch zu einer globalen Pandemie ausgeweitet und unsere Lebensgewohnheiten dauerhaft verändert. Für die Weltwirtschaft ist die COVID-19-Pandemie der größte Schock seit dem Zweiten Weltkrieg. Und sie zeigt eindrucksvoll auf, wie sich Komplexität bemerkbar macht: Unsere globalisierte Welt ist inzwischen als komplexes System aus miteinander in Beziehung tretenden Untersystemen zu verstehen. An der Pandemie lässt sich erkennen, wie eine plötzliche Veränderung der bisherigen Dynamik die Weltwirtschaft erschüttern und sie in einen instabi- len Zustand versetzen kann. Gleichzeitig führt die Entwicklung vor, dass Systemkomplexität als Risikofaktor für ein System immer noch deutlich unterschätzt wird.
Erstes Auftreten und Ausbreitung von SARS-CoV-2
Das durch das neuartige Coronavirus verursachte schwere Atemwegssyndrom (SARS-CoV-2) trat überhaupt nur auf, weil der Wirt, das Virus und verschiedene weitere Faktoren auf der Ebene der Menschen, der Fauna und der Ökologie gleichzeitig zusammentrafen.[1] Weil ihre natürlichen Lebensräume drastisch schwinden, kommen Wildtiere näher an menschliche Siedlungen heran. Dadurch teilen sich viel mehr Arten denselben Raum und es kommt zu einer historisch einmaligen Verdichtung von Menschen, Tieren und auch Pathogenen. Weil der Kontakt zwischen Menschen und Wildtieren intensiver wird, können Viren zunehmend überspringen. So steigt das Risiko von Zoonosen, also der Übertragung von krank machenden Keimen von Tieren auf Menschen. Rund 75% der neuen Infektionskrankheiten sind als Zoonose anzusehen. Insofern wurde die derzeitige Pandemie seit Langem vorhergesagt und ist alles andere als ein „schwarzer Schwan“.[2] Im Gegensatz zu früheren Zoonosen wie SARS, MERS oder Ebola hat SARS-CoV-2 der Weltwirtschaft einen Stock in die Speichen geworfen, weil das Virus ungewöhnlich schwer nachzuverfolgen und unter Kontrolle zu bringen ist: Es verbreitet sich leicht und kann bereits vor dem Auftreten von Symptomen übertragen werden.[3] Der weltweite Reiseverkehr hat die rasche Ausbreitung von SARS-CoV-2 zusätzlich erleichtert.
Soziale und ökonomische Systeme sind komplex
Das Auftreten und die weltweite Verbreitung des neuen Coronavirus haben gezeigt, dass unsere modernen sozialen und ökonomischen Systeme zwangsläufig komplex sind. In ihnen wirken zahlreiche Elemente zusammen, die sich gegenseitig anpassen und die direkt oder indirekt miteinander zusammenhängen. Die Komplexitätstheorie befasst sich mit emergentem Verhalten innerhalb dieser Systeme. Emergentes Verhalten bedeutet, dass das Zusammenwirken der einzelnen Elemente zu Ergebnissen führt, die über die Fähigkeiten der einzelnen Elemente hinausgehen. Das beginnt bei Vogelschwärmen oder von Individuen getragenen Organisationen und führt über Nachbarschaftsorganisationen in Städten bis hin zu Kontakten in von vielen Arten besiedelten Lebensräumen, die letztlich eine Pandemie auslösen. Es gibt also reichlich Beispiele für emergentes Verhalten.[4] Bei komplexen Systemen ist emergentes Verhalten schwer vorhersagbar und kontrollierbar (etwa das Verhalten von Menschen während der Pandemie), denn es entzieht sich aufgrund seiner zugrunde liegenden Mechanismen über weite Strecken den menschlichen Analysefähigkeiten. So wird die Komplexität eines Systems zum Beispiel daran gemessen, wie umfangreich das Modell sein muss, mit dessen Hilfe das Verhalten des Systems reproduziert werden kann.
Nichtlinearität und Potenzgesetze
Bei komplexen Systemen besteht per definitionem eine hohe gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Systemelemente voneinander. Die direkten und indirekten Interaktionen zwischen diesen Elementen sind typischerweise nicht linear. Diese Nichtlinearität ist neben dem Emergenzphänomen die zweite fundamentale Komponente von komplexen Systemen. Bei einer großen Zahl von nichtlinearen, miteinander verbundenen Komponenten kommt es zu einer komplexen Dynamik, aufgrund derer sich nach einer gewissen Zeit keine Vorhersagen mehr für das System treffen lassen. Aufgrund der nichtlinearen Interaktionen besteht keine Proportionalität zwischen Ursache und Wirkung. Daher kommt es in komplexen Systemen zu einem umfangreichen dynamischen Verhalten, das zu reinen Zufallsergebnissen führen kann. Außerdem ist bei komplexen Systemen zu berücksichtigen, dass ihr Verhalten aufgrund der intensiven Interaktionen zwischen den einzelnen Elementen statistisch nicht mit der Normalverteilung zu fassen ist. Vielmehr ist aufgrund von Potenzgesetzen eine Verteilung mit schweren Randbereichen (fat tails) zu beobachten. Die Enden des Spektrums haben also sehr viel mehr Gewicht als bei der Normalverteilung, sodass Extremereignisse oder „schwarze Schwäne“ häufiger als erwartet auftreten.[5]
Kaskadierende Effekte und positive Rückkopplung
Komplexe Systeme sind robust, aber anfällig: Innerhalb eines bestimmten Korridors können Schocks durch die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Komponenten abgefangen werden. Wird dieser Korridor jedoch verlassen, verstärken sich die Auswirkungen von Schocks gerade durch die intensiven Wechselbeziehungen.[6] In hochkomplexen Systemen entstehen so Übertragungskanäle, über die sich ein lokaler Schock durch das gesamte System verbreiten kann. Da komplexe Systeme gerade durch die engen Wechselbeziehungen zwischen den Elementen des Systems definiert sind, können sich an jedem Knoten praktisch unverzüglich spürbare Auswirkungen auf andere Systemkomponenten ergeben. So werden lokale Ereignisse verstärkt und können sich zu systemischen Ereignissen mit umfassenden Auswirkungen entwickeln. Aufgrund der Globalisierung lassen sich emergente Risiken nicht mehr auf einen bestimmten Sektor oder eine bestimmte Region einschränken. Aus solchen kaskadierenden Effekten sind die meisten schwerwiegenden Katastrophen entstanden. Wenn sich eine kleine Störung zu einem Risiko entwickelt, dass das gesamte System zu destabilisieren droht, kommt eine positive Rückkopplung zum Tragen. Diese positive Rückkopplung erhöht die Wahrscheinlichkeit bzw. verschärft die Folgen emergenter Risiken und macht sie zu systemischen Risiken.[7]
Schmetterlinge und Unwetter
Die durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Unsicherheiten haben gezeigt, wie kaskadierende Effekte zu einer unkontrollierbaren Dynamik und einer plötzlichen Systemkrise führen können, weil sich ein kleines, lokales Ereignis plötzlich zu einem massiven weltweiten Problem auswächst. Ganz wie es so bildhaft heißt: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Beijing hat ein Unwetter in New York ausgelöst. Daran lässt sich die Theorie der selbstorganisierten Kritikalität erläutern, der zufolge selbst marginale Ereignisse zum Umkippen hochkomplexer Systeme führen können, wenn sich diese bereits nahe ihrem kritischen Punkt befinden. Ursprünglich wird mit dem Begriff ein chaotisches Verhalten in der Natur beschrieben. Selbstorganisierte Kritikalität gilt jedoch auch für von Menschen entwickelte soziale Systeme. Das individuelle Verhalten einzelner Wirtschaftssubjekte, die jeweils rationale Optimierungsprozesse verfolgten, treibt die Parameter für die Systemstabilität tendenziell zum kritischen Punkt. Wenn dieser Punkt überschritten wird, verhält sich das System dynamisch instabil und wird damit anfälliger für Schocks.
Die COVID-19-Krise hat unsere sozioökonomischen Systeme über einen solchen kritischen Punkt hinausgetrieben und so zu einer Verschiebung des Systems geführt. Damit haben sich die Rückkopplungen und das Verhalten innerhalb des Systems so geändert, dass der bisherige Status quo überholt ist und sich eine „neue Normalität“ herausbildet. Weil Systeme von früheren Entwicklungen bestimmt werden und pfadabhängig sind, beeinflusst die bisherige Abfolge von Ereignissen auch die künftige Abfolge. Eine Bewegung entlang des Pfads ist irreversibel. Eine Rückkehr zum früheren Status ist nicht möglich. Selbst wenn die Lage wieder so wird wie vor der Pandemie, kehren die betroffenen Systeme womöglich nicht in den Ursprungszustand zurück.[8]
Gibt es einen Status quo für die Wirtschaft?
Ob es überhaupt einen (ex-ante) Status quo gibt, lässt sich durchaus diskutieren – zumindest, wenn man den Begriff „Status quo“ als Gleichgewicht des Systems vor einem Schock interpretiert. Wirtschaftliche Variablen verändern sich stetig, sodass es in der Wirtschaft nie ein einziges, statisches Gleichgewicht, sondern vielmehr verschiedene dynamische Gleichgewichte gibt. Die Idee eines „wirtschaftlichen Gleichgewichts“ ist jedoch lediglich ein theoretisches Konstrukt, das zwar in Modellen existiert, aber in der Wirklichkeit womöglich niemals eintritt. Volkswirtschaftliche Prognosemodelle berücksichtigen in aller Regel keine strukturellen Veränderungen, sondern gehen von Ceteris-paribus-Annahmen aus. Daher ergibt ein Vergleich der Niveaus vor bzw. nach einem Schock ein unzutreffendes Narrativ. Auch der Vergleich mit einem kontrafaktischen Szenario, mit dessen Hilfe Zentralbanken den Erfolg ihrer extremen Maßnahmen aufzeigen möchten, ist insofern fragwürdig. Bei systemischen Krisen wie der globalen Finanzkrise oder der aktuellen COVID-19-Pandemie ist es unmöglich, die BIP-Wachstumsverluste anhand von anekdotischen Belegen über Produktionsunterbrechungen zu berechnen. Um unerwünschte, irreversible strukturelle Veränderungen zu vermeiden, müssen systemische Risiken innerhalb der bestehenden sozioökonomischen Systeme besser eingeschätzt werden – und es müssen bessere Vorbereitungen dafür getroffen werden.
Beispiele für systemische Krisen, die durch kaskadierende Effekte in komplexen Systemen ausgelöst wurden
In den vergangenen Jahrzehnten haben die Globalisierung, Fortschritte bei der Telekommunikation, die Just-in-Time-Produktion und die Internationalisierung des Finanzwesens die Komplexität beträchtlich gesteigert, sodass sich das System häufiger einem kritischen Punkt annähert. Bei steigender Komplexität nehmen parallel dazu auch Externalitäten zu, was zu größerer wirtschaftlicher und sozialer Fragilität führt. Wenn diese Externalitäten zu Rückkopplungseffekten führen, können Kipppunkte schnell erreicht werden. Im 21. Jahrhundert sind bereits mehrfach Ereignisse eingetreten, deren Auswirkungen zwar nicht mit der COVID-19-Pandemie zu vergleichen sind, anhand derer man aber erkennen kann, wie sich Schocks durch kaskadierende Effekte im System ausbreiten.
Die globale Finanzkrise: Komplexität wurde zum Brandbeschleuniger
Die globale Finanzkrise des Jahres 2008 ist wohl das beste Beispiel dafür, wie kaskadierende Effekte eine schwere Krise auslösen können. Das moderne Finanzsystem ist hochgradig komplex und weist intensive nichtlineare Beziehungen und Interdependenzen innerhalb des Netzwerks auf, die durch die Interbankenmärkte und komplexe Finanzderivate entstanden sind.[9] Im September 2008 kam es nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers zu einer generellen Neueinschätzung der Risiken im Finanzsektor, die letztendlich die Staatsanleihenkrise in Europa auslöste. Daran lässt sich erkennen, wie enge Beziehungen als Übertragungskanäle wirken: Einzelne Schocks können darüber das gesamte System anstecken.[10] Aufgrund der weltweit ungewöhnlich niedrigen globalen Zinsen war es zu einem kräftigen Kredit- und Liquiditätswachstum gekommen. Deshalb mangelte es an einer angemessenen Risikosensitivität, was im Vorfeld des Lehman-Konkurses den Weg für Übertreibungen ebnete. Inzwischen analysiert der IWF bei seiner Beurteilung der finanziellen Stabilität und der Risiken des Finanzsystems in einem Land auf jeden Fall auch etwaige Vernetzungs- und Ansteckungseffekte.[11]
Von der Finanzkrise zu den globalen Wertschöpfungsketten vor COVID-19
Ereignisse in der realen Welt zeigen, dass nicht nur im Finanzsektor systemische Risiken auftreten, die durch Interaktionen innerhalb des Netzwerks entstehen. So werden Make-or-Buy-Entscheidungen mithilfe von Informationstechnologie optimiert und Wertschöpfungsketten globalisiert, damit Industriekonzerne effizienter wirtschaften können. Kommt es jedoch zu Ereignissen wie dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im Jahr 2010, dem Tsunami in Japan im Jahr 2011 oder Piraterie am Horn von Afrika oder in der Straße von Malakka (2000 bis 2011) wird die Anfälligkeit des Just-in-Time-Modells deutlich. Der Vulkanausbruch lähmte den Flugverkehr in Teilen Europas und brachte die Autoproduktion in Deutschland nahezu zum Stillstand. Nach dem Tsunami wurde befürchtet, das Wachstum der Weltwirtschaft könne sich verlangsamen, da Japan sowohl als Teilelieferant als auch als Hersteller von Endprodukten ein wichtiges Glied in den globalen Lieferketten ist.
Wie COVID-19 die globalen Wertschöpfungsketten unterbricht
Die früheren Ereignisse gaben jedoch lediglich einen Vorgeschmack auf das, was in der COVID-19-Krise passierte. Im Zeitalter der Just-in-Time-Produktion können schon geringfügige Unterbrechungen der Lieferketten schwerwiegende Konsequenzen für die hochgradig vernetzte Weltwirtschaft haben. Die COVID-19-Pandemie hat erneut gezeigt, wie anfällig eng aufeinander abgestimmte globale Lieferketten sind. Daran zeigt sich augenfällig das Problem, das sich ergibt, wenn menschengemachte Systeme mit begrenzter Kapazität zur vollständigen Auslastung (maximale Effizienz) getrieben werden. Sobald die maximale Effizienz erreicht ist, kommen die Systeme an einen kritischen Punkt und werden dynamisch instabil. Das bedeutet: Kurz nachdem die Systeme ihre größtmögliche Leistung erreicht haben, kann ihre Kapazität unerwartet sinken. Wenn also die Systeme hin zur Vollauslastung optimiert werden, besteht das Risiko eines abrupten Leistungsabfalls. Dieses Problem und seine potenziell schwerwiegenden Konsequenzen lassen sich nur vermeiden, wenn klar ist, wo das jeweilige System an seine Kapazitätsgrenzen stößt.[12]
Randnotiz: Globale Wertschöpfungsketten
Globale Wertschöpfungsketten beschreiben den Prozess der internationalen Arbeitsteilung. Die Güterproduktion wird in verschiedene Unterschritte aufgeteilt, die in verschiedenen Ländern stattfinden können. So können die einzelnen Volkswirtschaften ihre jeweiligen komparativen Vorteile intensiv ausnutzen und einen möglichst großen Gewinn aus dem Welthandel ziehen. Die grenzüberschreitende Produktion wurde dabei vor allem durch internationale Unternehmen aus Industrieländern vorangetrieben, die ihre Effizienz durch optimale Make-or-Buy-Entscheidungen deutlich steigern und sich so einen Vorteil gegenüber ihren Wettbewerbern sichern konnten. Inzwischen greifen auch kleine und mittlere Unternehmen zunehmend auf globale Wertschöpfungsketten zurück.
Die aktuelle Krise hat jedoch wieder einmal in Erinnerung gerufen, dass diese Optimierung durchaus auch Risiken mit sich bringt. Globale Wertschöpfungsketten führen dazu, dass sich die Konjunktur der jeweiligen Länder synchronisiert. Wenn die Produktion in einem Land von Zulieferungen aus einem anderen Land abhängt, wird die Konjunktur miteinander verknüpft. So entstehen Preisabhängigkeiten, wodurch wiederum Inflationstendenzen in einem Land problemlos auf dessen Handelspartner überspringen. So synchronisiert sich auch die Inflation grenzüberschreitend.[13] Wenn wir einzelne Länder als Knoten in einem durch Handelsbeziehungen definierten Netzwerk verstehen, kann ein Schock in einem Knoten leicht auf den Rest des Systems übergreifen.
Die Unterbrechung globaler Wertschöpfungsketten ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein Ausfall durch Netzwerkinteraktionen in komplexen Systemen fortpflanzt. Daran lässt sich erkennen, wie die Untersysteme unserer komplexen Welt sich gegenseitig beeinflussen – und auch, dass wir Menschen häufig die langfristigen Nebenwirkungen eines bestimmten Ereignisses nicht beurteilen können. So wurden in China Häfen aufgrund von COVID-19 geschlossen und im Suezkanal steckte die „Ever Given“ fest – und gleichzeitig schnellte die weltweite Nachfrage in die Höhe, weil in wichtigen Ländern im Sommer eine Erholung nach den strikten Pandemiebedingten Distanzierungsmaßnahmen zu verzeichnen war. Prompt litten Unternehmen rund um die Welt unter Lieferengpässen. Dieser Effekt verstärkt sich noch durch die menschliche Tendenz, Probleme ad hoc zu lösen. Als Reaktion auf die Lieferengpässe versuchen die Unternehmen nun, ihre Lager zu füllen, um eine Wiederholung der Situation zu vermeiden. Dabei lassen sie jedoch außer Acht, dass ein solches Verhalten das Problem noch verschärft und zu weiteren Knappheiten führt. So gerät der Welthandel in einen Teufelskreis mit sich selbst verstärkenden Rückkopplungseffekten. Deutschland ist von den Lieferengpässen in besonderem Umfang betroffen, weil sich sein Wirtschaftsmodell in hohem Maße auf das Verarbeitende Gewerbe und den Handel stützt. Etwa ein Viertel der Arbeitsplätze hängt am Export.[14]
Wird Nearshoring das neue Offshoring?
Vor diesem Hintergrund gehen immer mehr Unternehmen vom bisher bevorzugten Just-in-Time-Modell ab und überprüfen ihre globalen Produktions- und Beschaffungsnetze. Dabei müssen sie kurzfristige Produktivitätsgewinne aus weiteren Optimierungen gegen das Risiko einer zunehmenden Komplexität des Systems abwägen. Möglicherweise lassen sich Lieferketten verlässlicher gestalten, wenn die Produktion näher am Heimatland erfolgt. Allerdings sagt der Standort eines Zulieferers noch nichts über seine Zuverlässigkeit aus. Wenn die Komplexität verringert wird, sinkt häufig auch die Produktivität. Langfristig könnte ein solcher Schritt aber dennoch von Nutzen sein, weil bei einer geringeren Komplexität auch die Auswirkungen von systemischen Schocks nicht so stark ausfallen. Und vor allem sinkt bei einer geringeren Komplexität die Wahrscheinlichkeit von „schwarzen Schwänen“, denn solche Ereignisse treten in hochgradig komplexen Systemen häufiger ein.
Resilienz als Allheilmittel?
Von Finanzkrisen bis zu Naturkatastrophen – können wir aus der Vergangenheit etwas lernen, um künftige Systemkrisen besser vorhersehen und bereits in der Frühphase in den Griff bekommen zu können? Um mit dem häufigeren Auftreten von kritischen Punkten umzugehen, kann man u.a. die Resilienz der Gesellschaft insgesamt verbessern, also ihre Fähigkeit, sich von einem Schock zu erholen und in den vorigen „Normalzustand“ zurückzukehren. Im Falle der physischen Infrastruktur bedeutet dies, dass Redundanzen, Doppelstrukturen und Puffer geschaffen werden müssen. Damit Gesellschaften als Ganzes resilienter werden, ist Flexibilität vonnöten. Sowohl der Einzelne als auch die Institutionen müssen sich anpassen können. Dafür wiederum muss in der Gesellschaft ein Mindestmaß an Fairness vorhanden sein und eine allzu große Ungleichheit (Stichworte Einkommen, Bildung) muss vermieden werden. Ein stabiler „Gesellschaftsvertrag“ ist nötig. Im Gegenzug besteht die Aussicht, dass Resilienz auch die Risikobereitschaft und die Anpassungsfähigkeit erhöht und so langfristig höhere Wachstumschancen ermöglicht.[15]
Leichter gesagt als getan
Das Konzept der Resilienz klingt zunächst einmal gut. Aber es ist nicht so einfach wie man glauben könnte, den Menschen Eigenverantwortung zu übertragen. Genau das ist aber ein zentraler Faktor für eine resiliente Gesellschaft. Das zeigt sich im deutschen Modell des „Forderns und Förderns“, das in den vergangenen Jahrzehnten ein zentrales Element der Sozialpolitik war. Zudem bleibt die Frage bestehen, ob es überhaupt möglich ist, die Flexibilität einer alternden Gesellschaft mit zunehmend defensiven Tendenzen zu erhöhen. Auch die Art von Schocks sollte genauer untersucht werden. Die meisten Schocks werden als exogen angesehen. Faktisch sind jedoch viele endogen. Daneben sollten die Faktoren genauer betrachtet werden, die zur Schwere systemischer Risiken beitragen, denn so können ihre künftigen Auswirkungen verringert werden. Wir müssen aufpassen, was wir tun. Denn gegebenenfalls können wir die Pfadabhängigkeit komplexer Systeme auch zu unserem Vorteil nutzen und die Wahrscheinlichkeit mindern, dass emergente Risiken sich zu systemischen Risiken entwickeln.
Zentrale Elemente der Prognosen für 2022 sind sämtlich für Systemkomplexität anfällig
Der künftige Verlauf der COVID-19-Pandemie und die erhoffte, langsame Auflösung der Lieferengpässe sind die beiden zentralen Annahmen – wohlgemerkt: Annahmen, nicht Vorhersagen –, auf die sich die BIP- und Inflationsprognosen für die kommenden ein bis zwei Jahre stützen. Beide Annahmen sind praktisch Lehrbuchbeispiele für Systemkomplexität. Dasselbe gilt wahrscheinlich für Infla- tionsprognosen, die in der Regel auf einer Variante des Philips-Kurven-Ansatzes basieren, also der Beziehung zwischen freien Kapazitäten in der Wirtschaft und Inflation. Bis vor Kurzem wurde weithin angenommen, die Globalisierung habe zu einer Abflachung der Philips-Kurve geführt. Eine Veränderung der Potenziallücke oder der Arbeitslosenquote verursache also eine vergleichsweise geringere Reaktion bei der Inflation als früher. Bei einem Blick auf die Einflussfaktoren auf das Arbeitsangebot lassen sich unschwer zahlreiche Punkte erkennen, die sich auf die Philips-Kurve auswirken können: die demografische Entwicklung, mehr Frühverrentungen, weil Ältere ihr Infektionsrisiko verringern wollen, ein geringerer potenzieller Wettbewerb aus dem Ausland, weil die Globalisierung langsamer fortschreitet, oder auch psychologische Faktoren (die Pandemie könnte die Menschen dazu veranlasst haben, neu über ihre Prioritäten im Leben nachzudenken, was die Work-Life-Balance beeinflussen könnte). Darüber hinaus scheint sich die Verhandlungsposition der Gewerkschaften angesichts einiger politischer Entwicklungen zu verbessern (z.B. Mindestlohnerhöhungen). Und natürlich spielen auch technologische Disruptionen eine Rolle. So könnte der Einsatz von KI in den kommenden Jahren zunehmen. Seien wir ehrlich: Der Glaube an präzise Inflationsprognosen für die kommenden Jahre, die bis auf die Nachkommastellen zutreffen, ist genauso fundiert wie der Glaube an den Weihnachtsmann.
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[1] Blanchet, K., Lee, K., Levrat, N., Morel, C., Pittet, D., Tediosi, F., Wernli, D., Young, O. (2021). A Complexity Lens on the COVID-19 Pandemic. International Journal of Health Policy and Management
[2] Khoday, K. (2021). Rethinking Nature, Crisis and Complexity after the Pandemic. UNDP Global Policy Network Brief
[3] Rogers, K. (2020). Why did the world shut down for COVID-19 but not Ebola, SARS or Swine Flu?
[4] Pines, D. (2014). Emergence: A unifying theme for 21st century science
[5] Helbing. D. (2010). Systemic Risks in Society and Economics
[6] Carmona, C. U., Kennet, D. Y., Martinez-Jaramillo, S. (2019). Interconnectedness and financial stability. Journal of Risk Management in Financial Institutions, 12(2), 168-183
[7] International Risk Governance Council (2010). The Emergence of Risks: Contributing Factors
[8] International Risk Governance Council (2010). The Emergence of Risks: Contributing Factors
[9] Helbing. D. (2010). Systemic Risks in Society and Economics
[10] The OFR Financial Stress Index
[11] IMF, Interconnectedness and Contagion Analysis: A Practical Framework
[12] Helbing. D. (2010). Systemic Risks in Society and Economics
[13] World Development Report 2020
[14] Ewing, J. (2021). Fears of a “Bottleneck Recession”: How Shortages Are Hurting Germany. The New York Times
[15] Brunnermeier, M. (2021). The Resilient Society
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Die Bedeutung systemischer Komplexität und Kritikalität für volkswirtschaftliche Prognosen“