Deutschlands Leistungsbilanz verändert sich. Aktuell reduziert der „Terms of Trade“-Schock den Überschuss in der Güterbilanz. Aber auch strukturelle Faktoren wie eine geringere Bedeutung der Industrie und die Demografie deuten geringere Überschüsse an. Zudem erwarten wir ein weiteres Abschmelzen der Defizite in der Dienstleistungsbilanz. Die Überschüsse aus der Primär- und Sekundärbilanz dagegen dürften weiter zulegen. In Summe wird insbesondere gemessen am BIP die Leistungsbilanzquote im Jahr 2022 kräftig fallen und auch danach tendenziell deutlich niedriger liegen als in der Vergangenheit. Entsprechend dürfte die Kritik an Deutschlands Überschüssen zunehmend verstummen.
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Deutschlands Leistungsbilanzüberschüsse sind seit rund 20 Jahren strukturell hoch und ebenso lange währt die Kritik an diesem Vermögensaufbau gegenüber dem Ausland. Der größte jährliche Überschuss wurde mit 8,6% relativ zum BIP im Jahr 2015 erzielt. Seither waren die Überschüsse leicht rückläufig (im Jahr 2021 7,4%). Typischerweise machte die Güterhandelsbilanz den Löwenanteil des Überschusses aus. Durch die Pandemie und die hohen Rohstoffpreise gab es nun aber starke Verschiebungen. Der Überschuss der Güterhandelsbilanz fiel im Jahr 2020 und 2021 auf jeweils rund EUR 190 Mrd. Dies ist besonders im Jahr 2021 bemerkenswert, da Deutschlands Impfstoff zum Exportschlager avancierte, wodurch die Konsumgüterexporte um rund EUR 30 Mrd. gegenüber dem Jahr 2020 anzogen. Der Überschuss der Güterhandelsbilanz in den beiden Pandemiejahren ist der niedrigste Wert seit dem Jahr 2011. Er brach im Jahr 2022 aufgrund einer massiven Verschlechterung der „Terms of Trade“ weiter ein. So legten die Importpreise im Mai um mehr als 30% ggü. Vorjahr zu, während die Exportpreise „nur“ ein Plus von rund 16% verzeichneten. Folglich erhöhten sich die nominalen Güterimporte sehr viel stärker als die Güterexporte und der Überschuss schrumpfte von Januar bis Mai auf lediglich EUR 24 Mrd. zusammen. Für das Jahr 2022 erwarten wir daher lediglich einen Überschuss der Güterhandelsbilanz von EUR 80 Mrd. Angesichts der vermutlich weiterhin eher hohen Rohstoffpreise dürften die Überschüsse im Jahr 2023 ähnlich niedrig ausfallen. Aufgrund unserer Erwartung von rückläufigen Energiepreisen im Jahr 2024 und 2025 dürfte sie dann aber wieder auf rund EUR 120 Mrd. ansteigen.
Aber auch in den anderen Komponenten der Leistungsbilanz war in den letzten Jahren viel Bewegung. Seit dem Jahr 1971 bis zur Pandemie wies Deutschland stets ein Defizit in der Dienstleistungsbilanz auf. Im Jahr 2000 wurde ein Rekorddefizit von EUR 60 Mrd. gemeldet. Seither ist das Defizit tendenziell rückläufig und erreichte im Jahr 2019 nur noch EUR 18 Mrd. Aufgrund der sehr geringen Reisetätigkeiten in den Pandemiejahren und der hohen Lizenzeinnahmen durch Impfstoffe wurde in den Jahren 2020 und 2021 sogar ein kleiner Überschuss in der Dienstleistungsbilanz erzielt. Im Jahr 2022 und den Folgejahren dürfte die Dienstleistungsbilanz aufgrund der anziehenden Reisetätigkeit und der voraussichtlich geringeren Lizenzeinnahmen für Impfstoffe wieder defizitär sein. Jedoch dürften die jährlichen Defizite nur noch im einstelligen Milliardenbereich liegen.
Die Primäreinkommen, also vor allem Kapitalerträge aus Direktinvestitionen, haben mit dem Vermögensaufbau im Ausland kräftig zugenommen. Dabei entfällt der Großteil des Überschusses bei den Primäreinkommen auf europäische Direktinvestitionen, aber auch die Direktinvestitionen in die USA und China haben über die letzten Jahre deutlich zugelegt. Hierdurch ist ein wohl struktureller und tendenziell weiter steigender Überschuss entstanden. Bei den Sekundäreinkommen – staatliche und private Transferzahlungen – nehmen dagegen die Defizite tendenziell weiter zu. Aggregiert haben im Jahr 2021 beide Teilbilanzen zusammen einen Überschuss von EUR 72 Mrd. erzielt, während er vor 15 Jahren nahezu ausgeglichen war. Schreibt man diesen Trend über die nächsten Jahre fort, dann wird sich der Überschuss im Jahr 2025 auf EUR 87 Mrd. erhöhen.
Leistungsbilanzrückgang im Jahr 2022 nur mit Wiedervereinigung vergleichbar
In Summe dürfte der Leistungsbilanzüberschuss im Jahr 2022 auf nur noch EUR 140 Mrd. abschmelzen. Gegenüber dem Jahr 2021 mit EUR 265 Mrd. ist dies nahezu eine Halbierung und die mit Abstand größte Differenz über die gesamte Zeitreihe. Der Rückgang um rund EUR 125 Mrd. ist historisch bestenfalls mit der Veränderung der Leistungsbilanz nach der Wiedervereinigung vergleichbar. Damals verwandelte sich der Überschuss von fast EUR 40 Mrd. im Jahr 1990 in ein Defizit in ähnlicher Größe im Jahr 1991. Auch im Jahr 2023 dürften viele der aktuellen Probleme die Wirtschaft belasten, weshalb wir abermals einen relativ niedrigen Überschuss von EUR 160 Mrd. prognostizieren. Aufgrund unserer Erwartung von rückläufigen Energiepreisen im Jahr 2024 und 2025 dürfte die Leistungsbilanz dann wieder auf über EUR 200 Mrd. ansteigen.
Damit gehen über diesen Prognosezeitraum die Leistungsbilanzquoten gemessen am BIP deutlich von über 7% im Jahr 2021 auf unter 4% im Jahr 2022 und unter 5% in den Folgejahren zurück. Die Quote fiele im Jahr 2022 auf den tiefsten Stand seit dem Jahr 2004 und zum ersten Mal seit dem Jahr 2010 wieder unter die 6%-Schwelle, die laut der makroökonomischen Vorgaben der EU ein Indiz für ein gesamtwirtschaftliches Ungleichgewicht ist. Die demografische Entwicklung impliziert auch in den Folgejahren weitere Rückgänge. Ebenso liegt Deutschlands Industrieproduktion heute rund 10% unter dem Hochpunkt im Jahr 2017. Viele Politikansätze in der Klima- und Umweltpolitik sprechen für einen weiteren strukturellen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit. Auch deshalb dürften die Leistungsbilanzüberschüsse tendenziell weiter abschmelzen. Die Kritik an Deutschlands Leistungsbilanzüberschüssen dürfte damit über die Dekade zunehmend verstummen.
Blog-Beiträge zum Thema:
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Zinsschock könnte Inflationsschutz auffressen - 14. Mai 2022
Mir fehlt in dem Text eine Betrachtung dazu was der Wandel zu den Erneuerbaren für die Handelsbilanz für Folgen hätte. Man stelle sich vor wir würden dank Solar- und Windparks zu Selbstversorgern bei der Energie werden. Zuletzt sah es allerdings so aus, dass der Import von Wasserstoff wichtig werden würde. Trotzdem könnte es sein, dass die Politik versuchen sollte gezielt Importe zu fördern. Die Frage wäre dann: Welche Importe? Es wäre politisch unklug solche aus China zu steigern. Besser wären Importe aus unserer Nachbarschaft, eventuell aus Nordafrika oder ganz Afrika.