Die deutsche Wirtschaft stagniert seit Jahren. Der für dieses Jahr erwartete Aufschwung ist ausgefallen. Stattdessen häufen sich die Negativmeldungen aus der Wirtschaft. Wir haben bei drei großen Wirtschaftsverbänden (VCI, VDMA, ZVEI) nachgefragt: 1. Wie ist die wirtschaftliche Lage in Ihrer Industrie? 2. Was sind die drei größten Probleme? 3. Welche drei wirtschaftspolitischen Maßnahmen sind besonders wichtig? Heute: VCI (Verband der Chemischen Industrie)
Wie ist die wirtschaftliche Lage in Ihrer Industrie?
Mit mehr als 200 Mrd. Euro Jahresumsatz und knapp 500.000 Beschäftigten ist die chemisch-pharmazeutische Industrie das Herz des Industrielands Deutschland. Industrielle Kunden und das Gesundheitswesen werden von der Branche mit innovativen Materialien und Medikamenten sowie mit neuen Ideen und Problemlösungen versorgt. Nahezu kein Wirtschaftszweig kommt ohne Zulieferungen und innovativen Impulsen aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie aus.
Deutschlands Chemie- und Pharmaindustrie ist stark. Sie liegt im internationalen Vergleich hinter China und den USA auf Platz 3. Mit ihren Global Playern sowie einem starken Mittelstand mit vielen Hidden Champions sind die Unternehmen der Branche international erfolgreich. Entgelte, Produktivität und Exportquote liegen über dem Industriedurchschnitt. Bei den Themen Ressourceneffizienz, zirkuläre Wirtschaft oder Schutz von Mensch und Umwelt gehört die deutsche Chemie zur internationalen Spitzengruppe.
Aber die wirtschaftliche Lage der Branche am Standort Deutschland ist aktuell extrem herausfordernd. Im Zuge der durch den Ukrainekrieg ausgelösten Energiekrise musste die chemische Industrie ihre Produktion um mehr als 20 Prozent drosseln. Sinkende Energiekosten erlaubten 2024 zwar wieder eine leichte Produktionsausweitung, doch die Kapazitäten blieben deutlich unterausgelastet. Durch die Industrierezession in Deutschland und weiten Teilen Europas sowie durch eine schwache Weltkonjunktur herrscht in der Branche ein massiver Auftragsmangel, der durch eine sinkende preisliche Wettbewerbsfähigkeit sowie durch einen zunehmenden Wettbewerbsdruck vor allem aus China, Russland und dem Mittleren Osten verstärkt wird.
Die Kapazitäten konnten seit fast drei Jahren nicht mehr rentabel ausgelastet werden. Die Unternehmen versuchen durch Kostensenkungsprogramme, Umstrukturierungen oder Outsourcing, aber auch durch die dauerhafte Stilllegung oder Verlagerung von Produktionsanlagen sowie durch das Schließen unrentabler Geschäftsfelder gegenzusteuern. Mittlerweile belastet die schwierige Geschäftslage auch das zukünftige Wachstumspotenzial. Denn Investitionsprojekte werden zum Teil auf Eis gelegt und Innovationsbudgets gekürzt.
Was sind die drei größten Probleme?
Laut den jüngsten VCI-Mitgliederbefragungen ist das mit Abstand größte Problem die überbordende, ineffiziente, kleinteilige, überambitionierte und nicht abebbende Flut an Regulierungen aus Berlin und Brüssel. Sie überfordert besonders den Mittelstand. In unserer Branche erreicht der regulatorische Erfüllungsaufwand mittlerweile rund 5 Prozent des Umsatzes. Geld, dass im Unternehmen gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten an anderer Stelle fehlt. Zudem führen viele Regulierungen nicht nur zu einer signifikanten Verlängerung der Planungs- und Genehmigungsverfahren, sondern auch zu einer zunehmenden Unsicherheit bei Innovations- und Investitionsvorhaben.
Hohe Produktionskosten am Standort Deutschland sind ein weiteres gravierendes Problem. Neben den immensen Bürokratiekosten machen unserer Branche vor allem die im internationalen Vergleich hohen Energiekosten zu schaffen. Denn insbesondere die Grundstoffchemie benötigt viel Energie und fossile Rohstoffe. Besonders Strom und Gas sind hierzulande wesentlich teurer als in China, den USA aber auch als an anderen europäischen Standorten. Ein weiteres Problem sind stark steigende Arbeitskosten. Die insgesamt hohen Produktionskosten am Standort Deutschland belasten die preisliche Wettbewerbsfähigkeit, verstärken Abwanderungstendenzen und erhöhen den Importdruck – in der Chemie, aber auch bei unseren Kunden.
Das dritte Problem ist die jahrelange Vernachlässigung zukunftsgerichteter Staatsausgaben insbesondere für Infrastruktur, Digitalisierung oder Bildung. Die marode Verkehrsinfrastruktur und der zögerliche Ausbau der Energie- und Digitalinfrastruktur belasten mittlerweile die Geschäfte der Industrie. Zudem fehlen schon heute qualifizierte Fachkräfte. Ein Problem, welches sich in den kommenden Jahren wegen des demographischen Wandels noch verstärken dürfte. Die Leistungsfähigkeit der Infrastruktur und des Bildungssystems steht in einem krassen Missverhältnis zu den im internationalen Vergleich besonders hohen Unternehmenssteuern.
Welche drei wirtschaftspolitischen Maßnahmen wären besonders wichtig?
Wirtschaft, Bürger und Politik haben sich lange auf den wirtschaftlichen Erfolgen der Vergangenheit ausgeruht. Das exportgetriebene, auf einem starken Industriesektor basierende deutsche Wohlstandsmodell stößt angesichts einer zunehmend fragmentierten Welt, eines intensiven globalen Wettbewerbs und sinkender Standortattraktivität an seine Grenzen. Seit 6 Jahren stagniert die deutsche Wirtschaft. Mit der vorgezogenen Bundestagswahl Ende Februar bietet sich nun die Chance auf einen wirtschaftspolitischen Befreiungsschlag: Green-Growth statt De-Growth, Grundsicherung statt Bürgergeld, Ordnungspolitik statt Interventionismus.
In erster Linie bedarf es dazu in Deutschland und Europa einer De-Regulierungsagenda. Seit Jahrzehnten versuchen sich Berlin und Brüssel am Bürokratieabbau – mit überschaubarem Erfolg. Bürokratieentlastungsgesetze, Reallabore, Praxistests, Gesetzesfolgenabschätzungen und „One-In One-Out“ sind zwar gut gemeinte Ansätze. Sie konnten aber den Trend eines wachsenden Erfüllungsaufwands nicht umkehren. Hier braucht es die „Kettensäge“ zumindest beim Gold-Plating oder bei Doppelregelungen. Vor allem braucht es aber Pragmatismus und eine Fokussierung auf das Wesentliche, denn nicht alles muss bis ins kleinste Detail geregelt werden.
De-Regulierung führt zu mehr Innovationen, Investitionen sowie zu mehr Effizienz und damit zu niedrigeren Preisen und einer steigenden preislichen Wettbewerbsfähigkeit. Dies ist aber nicht überall der Fall. In stark regulierten Märkten, wie beispielsweise den Energiemärkten, ist daher die Politik gefragt, wenn es um die Senkung der Kostenbelastung für Wirtschaft und Bürger geht. Aus gutem Grund wurde daher zum Beispiel die Stromsteuer auf das EU-Mindestmaß gesenkt, die Förderung erneuerbarer Energien (EEG) auf Steuerfinanzierung umgestellt und die im Strompreis enthaltenen CO2-Kosten kompensiert. Bei der Gasspeicherumlage oder bei den Netzentgelten besteht hingegen noch Handlungsbedarf. Mittelfristig sollte zudem das Strommarktdesign angepasst und der Energie-Binnenmarkt ausgebaut werden, um die Effizienz zu erhöhen.
Drittens muss durch eine angebotsorientierte Standortpolitik sichergestellt werden, dass die Zukunftsausgaben des Bundes verbindlich priorisiert werden, damit die Infrastruktur modernisiert und ausgebaut sowie das Bildungssystem verbessert werden kann. Zusätzlich muss privates Kapital für Innovationen und Investitionen mobilisiert werden. Auch hier besteht Handlungsbedarf, denn die Steuerbelastung auf Unternehmensgewinne ist in Deutschland wesentlich höher als im EU-Durchschnitt, den USA und vielen Wettbewerbern in Asien. Eine Unternehmenssteuerreform mit einer deutlichen Absenkung der Steuerlast ist überfällig. Ein erster Schritt könnte z.B. die Abschaffung des Solidaritätszuschlags sein.
Beiträge der Serie „Industrie in der Krise“
Chef-Volkswirte antworten (1): Andreas Gontermann (ZVEI)