Deutschland hatte einmal eines der besten Energiesysteme der Welt. Eines, das mit extremer Zuverlässigkeit die Versorgung sicherstellte, so gut wie keine Netzschwankungen aufwies und Strom zu moderaten Preisen bereitstellte. Nun gut, das war einmal und heute muss es natürlich anders sein, angesichts des Klimawandels. Aber muss es so anders sein, wie es tatsächlich ist? Wie kann es geschehen, dass wir alle grundlastfähigen Kraftwerke vom Netz nehmen oder nehmen wollen und uns ausschließlich auf volatil einspeisende Erneuerbare verlassen sollen? Wie kann es sein, dass wir Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit opfern, um einen Sektor ein zweites Mal zu regulieren, der durch den europäischen Emissionshandel bereits reguliert ist? Was ist die Geschichte dazu?
Alles nahm seinen Anfang mit der Anti-Atomkraft-Bewegung in den 70er und 80er Jahren. Diese Bewegung war in Deutschland stärker und machtvoller als in jedem andern Land dieser Erde. Wie man inzwischen weiß, spielte die mediale Berichterstattung dabei eine entscheidende Rolle. Die Atomenergie war weltweit unter Druck geraten, als es auf Three Mile Island im Jahre 1979 zu einer teilweisen Kernschmelze kam. 1986 kam der bisher schwerste Reaktor Unfall in Tschernobyl dazu und entfachte endgültig eine äußerst kritische Diskussion über die Gefahren der Atomreaktoren. In Deutschland wurde diese Diskussion medial sehr einseitig geführt. Befürworter der Atomenergie kamen kaum noch zu Wort und wurden pauschal als Mitglieder der „Atomlobby“ diskreditiert. Ein selbstreferenzieller Begriff: Wer für Atomenergie war, gehörte der Atomlobby an und die Atomlobby bestand aus den Leuten, die für die Nutzung der Atomenergie waren. Aus dem Protest gegen die Atomkraft entstand eine Bewegung und aus dieser Bewegung entstand eine neue Partei: Die Grünen. Genaugenommen entstand sie durch das Zusammentreffen von Umweltbewegung, Anti-Atomkraft-Bewegung und der neuen sozialen Bewegung der 70er Jahre.
Für das Verständnis der heutigen Situation ist entscheidend, dass der Ausstieg aus der Kernenergie gewissermaßen der Gründungsgedanke der Grünen war. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass der Atomausstieg unablösbar mit den Wurzeln und dem Selbstverständnis dieser Partei verbunden ist. Gleichgültig, wie wandelbar und anpassungsfähig die Partei sich gezeigt hat und noch zeigen wird, dieser Punkt ist nicht verhandelbar.
Anders als in den 70er und 80er Jahren sind die Risiken und die Probleme der Atomkraft (Stichwort Endlager) schon lange nicht mehr im Zentrum der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit. Dort befindet sich der Klimawandel. Auch wenn nach wie vor behauptet wird, dass man immer noch mehr auf die Gefahr einer globalen Erwärmung hinweisen müsse, dürfte unstrittig sein, dass kein anderes Umweltproblem so tief ins Bewusstsein breiter Bevölkerungsteile gedrungen ist wie der Klimawandel. Für diejenigen, die partout aus der Atomenergie austeigen wollen, entsteht dadurch ein Dilemma. Atomenergie ist weitgehend klimaneutral, unter Klimaschutzbedingungen also eine „gute“ Energie. Wenn man sie trotzdem weghaben möchte, benötigt am einen Ersatz – und der darf nicht aus fossilen Energieträgern bestehen, denn das ist „schlechte“ Energie. Der einzige Weg aus diesem Dilemma, besteht darin, Atomenergie durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Diesen Weg sind die Grünen gegangen – und zwar konsequent. Das war und ist nicht einfach, denn erneuerbarer Strom ist nicht grundlastfähig. Das wäre er nur dann, wenn er gespeichert werden könnte, was technisch schwierig und ökonomisch nicht darstellbar ist. Deshalb kommt zu den beiden Bekenntnissen „Atomkraft und fossile Energieträger sind schlecht “ und „Erneuerbare sind die einzig denkbare Alternative“ ein drittes hinzu: „Grundlast braucht man nicht.“ Zusammen ergeben sie ein grünes Narrativ, das bis heute den Kern der grünen Klimapolitik ausmacht.
Narrative führen zu Überzeugungen und viele Menschen, die zu einer Überzeugung gelangt sind, hinterfragen diese nicht mehr. Mehr noch, sie benutzen ihre Überzeugung um damit rationale Argumentationen zu ersetzen. Das grüne Narrativ liefert doch eine richtige Antwort auf die Herausforderung des Klimawandels! Warum noch überprüfen, ob der Einsatz erneuerbarer Energie tatsächlich dazu führt, dass die CO2-Emissionen zurückgehen? Warum an der grünen Strategie zweifeln, wenn sie doch die einzige Alternative ist? So kommt es, dass sich das Narrativ verselbständigt und aus diskussionswürdigen Mitteln Ziele werden, die unbedingt und mit aller Radikalität verfolgt werden. So ist der Ausbau der erneuerbaren Energien für die Anhänger der Grünen längst zu einem Selbstzweck geworden und alle Hinweise darauf, dass unter den Bedingungen eines europäischen Emissionshandels die Wind- und Solarenergie in Deutschland folgenlos für die europäischen Emissionen wird, prallen wirkungslos ab.
Das hat fatale Folgen. Wenn man an dem grünen Narrativ festhalten will, dann muss man einen Weg finden, um gegen die anzugehen, die das nicht zu widerlegende Argument ins Feld führen, dass es darauf ankommt, kosteneffiziente Klimapolitik zu betreiben, weil nur so mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen ein Maximum an Klimaschutz möglich ist. Würde das realisiert, müsste die Förderung der Erneuerbaren in Deutschland komplett eingestellt werden. Der einzige Weg, das zu umgehen besteht in der Behauptung, dass sämtliche CO2-Emissionen so schnell wie möglich einzustellen sind. Wenn das notwendig ist, ist es irrelevant zu verlangen, dass man dort einsparen soll, wo die Kosten am geringsten sind, denn es muss ja überall alles eingespart werden. Erst dadurch wird das grüne Narrativ eine runde Sache, mit der man problemlos jede Diskussion besteht. Genau das macht dieses Narrativ so erfolgreich.
Wie bei allen erfolgreichen Narrativen steckt in ihm ein Stück Wahrheit, aus dem aber komplett falsche und kontraproduktive Schlussfolgerungen gezogen werden. Natürlich ist die Atomenergie nicht ohne Risiken und Probleme. Allerdings sind die Risiken beherrschbar und die Probleme lösbar. Natürlich sind fossile Brennstoffe wegen der CO2-Emission ein Problem, dennoch bedeutet das nicht, dass man sie möglichst schnell und möglichst komplett aus dem Verkehr ziehen muss. Und natürlich braucht man eine Grundlast, jedenfalls dann, wenn man industrielle Produktion im Land behalten will. Das grüne Narrativ ist eben tatsächlich alles andere als alternativlos. Aber leider sind die viel besseren Alternativen mit dem Makel belastet, dass sie viel schwieriger zu erklären sind, als das grüne Narrativ. Und komplizierte Erklärungen haben es in der politischen Auseinandersetzung sehr schwer – nicht nur in den USA. Und so kam es, dass das grüne Narrativ, das aus der Gründungsgeschichte der Grünen entstanden ist, nur schwer angreifbar war. Das hatte zur Folge, dass sich politisch erfolgreiche Alternativen nicht entwickeln konnten. Vielmehr haben sich die anderen Parteien das grüne Narrativ zu eigen gemacht. Die Klimapolitik von Frau Merkel wurde davon genauso bestimmt, wie die der Ampel unter Olaf Scholz.
Im Ergebnis erleben wir, dass bis heute die grünen Bekenntnisse als Überzeugungen oder Glaubenssätze die Grenzen der diskursfähigen Teile der Klimapolitik markieren. Die Klimaziele in Frage stellen? Undenkbar! An der Strategie, alles auf erneuerbare Energien umzustellen, zweifeln? Unmöglich! Wollen Sie etwa Atomkraft? Wie weit das geht, kann man gut an der Diskussion um die Grundlast beobachten. Auf den verschiedentlich geäußerten Hinweis „Ohne Grundlast keine Industrie“ wird ernsthaft entgegnet, dass die Industrie ja dann produzieren könne, wenn gerade genug erneuerbarer Strom vorhanden ist. Und überhaupt, wir können ja „etwas Digitales“ machen und auf die „rückwärtsgewandte deutsche Industrie verzichten“, wie Professor Fratzscher vom DIW empfiehlt. Solche und ähnliche Ratschläge sind gesellschaftlich überlebensfähig, weil das grüne Narrativ sie schützt. Diese Schutzfunktion entsteht vor allem dadurch, dass das Narrativ die Fragen, die an solche Politikempfehlungen eigentlich zu richten wären, erfolgreich blockiert. Wäre es nicht wichtig, Klimapolitik so zu betreiben, dass sie nicht zu kaum reparablen ökonomischen Kollateralschäden führt? Diese Frage ist nicht zulässig, denn wenn man die Klimapolitik nicht so gestaltet, wie es das grüne Narrativ verlangt, wird es keine Wirtschaft mehr geben, die es zu schützen gilt! Alles klar?!
In dieser Gemengelage findet im Februar eine Bundestagswahl statt, bei der es auch um die Frage nach der richtigen Klimapolitik gehen könnte. Allerdings müssten dazu echte Alternativen zur Wahl stehen. Wenn man mal davon absieht, dass es eine Partei gibt, die Klimapolitik als unnötig abtut, existieren jedoch keine ausformulierten und durchdachten Alternativen in den Angeboten der Parteien. Das grüne Narrativ hat nach wie vor eine Monopolstellung in den Köpfen der Politiker. Der Grund dafür ist, dass es auch in den Köpfen der Journalisten und der Wähler tief verankert worden ist und es zu lange einem politischen Selbstmord geglichen hätte, dieses Narrativ in Frage zu stellen. Dabei existieren Alternativen zur überkommenen, rückwärtsgewandten grünen Klimapolitik. Man könnte die Klimapolitik an die EU auslagern und in Form eines umfassenden Emissionshandels in Europa kosteneffizient umsetzen. Daraufhin könnte man die deutsche Energiewende absagen und sich darauf konzentrieren, ein Energiesystem zu errichten, dass uns sicher und verlässlich mit bezahlbarem Strom versorgt. Über Klimapolitik müsste man dabei nicht nachdenken, denn die CO2-Reduktion wäre durch den Emissionshandel gesichert. Im Ergebnis würde wahrscheinlich ein System entstehen, in dem Atomstrom wieder vorkommt, erneuerbare Energien in geringem Umfang auch und CCS eine wichtige Rolle spielt. Aber solch eine Alternative setzt einen konsequenten Bruch mit dem grünen Narrativ voraus. Dazu wird es nicht kommen und deshalb wir uns das grüne Narrativ wohl auch nach der Wahl weiter regieren.
- Wie alles begann und warum es bleibt
Energiewende und Energiekrise - 28. November 2024 - „Grüne“ Transformation (2)
Der 6 Punkte Plan des IWH kritisch kommentiert - 28. Juni 2024 - Quo vadis Sachverständigenrat? - 6. März 2024