Der Begriff „Bürokratie“ ist selten positiv konnotiert. Spätestens mit Max Weber sollte jedoch deutlich geworden sein, dass abseits aller Hoffnungen und Kritik, die mit Bürokratie verbunden sind, sie im Zusammenhang mit funktionierenden Staatswesen v. a. durch ihre „Unentrinnbarkeit“ (Weber 1976 [1921], S. 834) gekennzeichnet ist. Sie muss demnach als eine notwendige Bedingung von Staaten und Staatlichkeit bezeichnet werden. Mit ihrer Hilfe und durch sie verrechtlicht und institutionalisiert der Staat den Gehorsamszwang und seine Befehlsgewalt, mithin also seine Macht und Herrschaft. Allerdings ist Bürokratie nicht allein auf den Staat beschränkt. Auch im privaten Bereich, in Unternehmen etwa, existieren bürokratische Prozesse.
Also immer dort, wo hierarchisch organisierte Prozesse durch- und umgesetzt werden müssen, bedarf es eines bürokratischen Apparats, der die Durch- und Umsetzung vollzieht. Max Weber bezeichnet Bürokratie daher auch als ein „Präzisionsinstrument“ (Weber 1976 [1921], S. 571). Allerdings besteht hier ein schmaler Grat. Überbordet die Bürokratie, kann sie ebenso zu einer Wachstums- und Zukunftsbremse werden und schließlich die Legitimität des Staates unterminieren.
Indikatoren für Bürokratielasten
Zwei Kennzahlen sind für die Bürokratiemessung besonders wichtig. Zum einen der sogenannte Erfüllungsaufwand. Diese Kennzahl ist ein Seismograf dafür, wie stark bundesgesetzliche Regelungen generell in das Handeln von Bürgern, Unternehmen und Verwaltung eingreifen. Einbezogen wird der gesamte zeitliche und finanzielle Aufwand, der durch die Befolgung einer bundesrechtlichen Vorschrift entsteht.
Der jährliche Erfüllungsaufwand ist für alle Normadressaten (Bürger, Unternehmen und Verwaltung) seit Beginn der Messung im Jahr 2011 beinahe kontinuierlich gestiegen und hat aktuell einen Rekordwert erreicht.
Dem Jahresbericht 2023 des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) zufolge, ist er besonders stark von der Berichtsperiode 2021/2022 zu 2022/2023 gestiegen. Der Aufwuchs hat 9,3 Mrd. Euro betragen. Wesentlicher Treiber dieses Aufwuchses war das sogenannte Heizungsgesetz (vgl. Nationaler Normenkontrollrat 2023, S. 11).
Der einmalige Erfüllungsaufwand (auch Umstellungsaufwand genannt) beträgt im aktuellen Berichtszeitraum 2023/2024 für alle drei Normadressaten 6,5 Mrd. Euro, wobei die Wirtschaft mit rund 3,8 Mrd. Euro am stärksten belastet ist (vgl. Nationaler Normenkontrollrat 2024, S. 109). Der größte Aufwandstreiber war das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens, das den einmaligen Erfüllungsaufwand für alle drei Normadressaten um rund 1,1 Mrd. erhöhte.
Der zweite wichtige Indikator ist der Bürokratiekostenindex. Die Bürokratiekosten sind eine Teilmenge des Erfüllungsaufwands, die die Belastungen von Unternehmen in den Blick nimmt. Der Bürokratiekostenindex erfasst den rein administrativen Aufwand, der Unternehmen durch Informations-, Berichts- und Dokumentationspflichten entsteht.
Das Basisjahr für die Kalkulation des Bürokratiekostenindex bildet das Jahr 2012, in dem der NKR in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt erstmals Daten dafür erhoben hat. Das Ergebnis: aus ca. 10.000 Informationspflichten entstand eine bürokratische Gesamtbelastung für die Unternehmen in Höhe von 50 Mrd. Euro. Positiv hervorzuheben ist, dass seit 2012 der Bürokratiekostenindex in der Tendenz gesunken ist (vgl. Abbildung 2).
Aber bei der Interpretation der Daten ist Vorsicht geboten: Zum einen ist der Bürokratiekostenindex seit 2012 um lediglich 3 Punkte gesunken und bewegt sich also nach wie vor auf einem hohen Niveau.
Zum anderen blendet der Bürokratiekostenindex einige wichtige Faktoren aus, die eigentlich auch ein Bestandteil der Kalkulation sein sollten. So sind damit nicht Informationspflichten erfasst, die Unternehmen durch Gesetze und Vorschriften der Länder und Kommunen sowie direkt durch die EU entstehen. Außerdem werden die Informationspflichten für Bürger gar nicht erfasst. Diese Teilblindheit des Bürokratiekostenindex ist eine große Schwachstelle.
Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Indizien, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen, da sich mit ihrer Hilfe ebenfalls die Bürokratielast in Deutschland abschätzen lässt.
Eines dieser Indizien ist die Entwicklung der jährlichen Anzahl von gültigen Gesetzen und Normen. Zwar muss nicht aus jedem Gesetz oder jeder Rechtsverordnung automatisch ein bürokratischer Aufwand für Bürger bzw. Unternehmen entstehen. Schließlich bedarf es auch entsprechender Vorschriften, um Bürokratie abzubauen. Aber jede bürokratische Verpflichtung resultiert sehr wohl aus einem Gesetz oder einer Rechtsverordnung. Je mehr Gesetze und Rechtsverordnungen es also gibt, desto höher ist die Regelungsdichte und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass damit höhere bürokratische Pflichten und Aufwände entstehen, die dem Gemeinwesen auferlegt werden.
2015 waren 44.522 Einzelnormen in Gesetzen auf Bundesebene in Kraft. Zehn Jahre später, Anfang des Jahres 2024, waren es 52.468 Einzelnormen. Ein Anstieg von knapp 20 Prozent. Auch bei den Einzelnormen in Rechtsverordnungen ist in den letzten zehn Jahren ein massiver Anstieg von rund 20 Prozent zu verzeichnen: von 38.484 im Jahr 2015 auf 45.491 im Jahr 2024 (vgl. Bundesregierung 2022, S. 2 sowie Ellermann 2024).
Dabei ist es nicht überraschend, dass sich im Laufe des Bestehens eines demokratischen Rechtsstaates eine große Menge an Gesetzen und Vorschriften ansammelt. Allerdings geht Deutschland hier besonders gründlich zu Werke. Von dieser Regelungsdichte zeugt auch der Vergleich der Regelungsintensität, der vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen im Rahmen des sogenannten internationalen Regulierungsindex vorgenommen wird (vgl. Stiftung Familienunternehmen 2023). Zuletzt für das Jahr 2022 gemessen, liegt Deutschland auf dem 18. Platz – von insgesamt 21. Es hat sich gegenüber 2020 um 4 Plätze verschlechtert.
Ein weiteres Indiz ist die Entwicklung der Personalstellen in der Verwaltung. Denn jede neue Stelle muss mit neuen Aufgaben betraut werden, um ihre Notwendigkeit zu rechtfertigen. Und jede neue Aufgabe in der Verwaltung bedeutet automatisch einen Aufwuchs des bürokratischen Apparats.
Die Zahl der Planstellen in der Bundesverwaltung in den letzten zehn Jahren im Trend seit 2015 stetig nach oben gegangen ist. Noch markanter ist der Aufwuchs bei den Beschäftigten in der allgemeinen öffentlichen Verwaltung: Hier sind von 2015 bis 2023 insgesamt rund 325.000 neue Stellen geschaffen worden – das entspricht einem Aufwuchs von 24 Prozent! 2023 arbeiteten nach Angaben der Bundesregierung rund 1,4 Mio. Menschen in der allgemeinen öffentlichen Verwaltung Deutschlands.
Ein Grund für diese Entwicklung liegt in einem Phänomen, das als asymmetrische Stellenreaktion in Behörden bezeichnet werden könnte. Bei zusätzlichen Aufgaben, die in einer Behörde angesiedelt werden, dauert es in der Regel nicht lange, bis dafür auch eigene Stellen eingeplant und besetzt werden. Fallen die Aufgaben hingegen wieder weg oder sind erfüllt, so geht damit nicht unbedingt auch ein Wegfall der Stelle einher. Und natürlich ziehen auch diese Asymmetrie und der wachsende Personalapparat in der Bundesverwaltung steigende Kosten nach sich.
Betrachtung der europäischen Ebene
Allerdings wäre ein isolierter Blick auf Deutschland zu eng, um die gesamte Dimension der bürokratischen Lasten zu erfassen, denen Bürger, Unternehmen und die Verwaltung täglich ausgesetzt sind. Denn: ein wesentlicher Teil der Belastungen, v. a. des in Deutschland entstehenden Erfüllungsaufwandes für Unternehmen, entsteht auf Ebene der EU.
Es darf nicht verschwiegen werden, dass das Problem nicht abzusprechender Regulierungsintensität auf europäischer Ebene auch im Fokus der EU ist. Um zusätzliche Bürokratielasten durch die jährlich über 2.000 von EU-Institutionen erlassenen Rechtsakte einzudämmen, wurden in den vergangenen Jahren verschiedene Instrumente eingeführt. Dazu gehören etwa ausführliche Gesetzesfolgenabschätzungen und Beteiligungsplattformen, um den Gesetzgebungsprozess von vornherein unter dem Gesichtspunkt der Minimierung von Bürokratielasten durchzuführen. Außerdem wurde im Jahr 2021 die One in, one out-Regel von der Europäischen Kommission eingeführt, die besagt, dass ein durch eine Regelung neu entstehender Verwaltungsaufwand durch Bürokratieabbau in demselben Politikbereich ausgeglichen werden muss. Allerdings ist dieser Instrumentenkasten unsystematisch und nicht sehr effektiv.
Policies des Bürokratieabbaus
Durch konsequente Reduktion bürokratischer Lasten können Bürgern, Unternehmen aber auch der Verwaltung also jährlich Milliarden Euro gespart werden. Daneben werden durch Bürokratieabbau auch die Voraussetzungen geschaffen, die Deutschland fit für die Transformationsherausforderungen des 21. Jahrhunderts machen. Seien es die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, um infrastrukturelle Anpassungen an den Klimawandel durchführen zu können, die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen, um Spillover-Effekte der Digitalisierung anderer Bereiche zu generieren oder die Verwaltungsmodernisierung, um dem auch die Verwaltung treffenden demografischen Wandel und damit Fachkräftemangel begegnen zu können.
Die Bundesebene
Es sind in der Vergangenheit sowohl auf gesetzlicher als auch auf institutioneller Ebene viele Versuche unternommen worden, Bürokratie abzubauen. Für die letzten 10 Jahre stellvertretend zu nennen sind hier insbesondere die Bürokratieentlastungsgesetze I bis IV, die Planungsbeschleunigungsgesetze I bis III, das Investitionsbeschleunigungsgesetz sowie das LNG-Beschleunigungsgesetz.
Allerdings sind die Wirkungen, insbesondere der Beschleunigungsgesetze, häufig nur partiell und auf bestimmte Bereiche beschränkt. Und die Entlastungen, die durch die Bürokratieentlastungsgesetze herbeigeführt wurden, sind durch zwischenzeitlich neu geschaffene Regelungen längst überkompensiert.
Nicht zuletzt diese Tatsache hat die aktuell amtierende Ampel-Regierung dazu veranlasst, unter Federführung des Bundesjustizministeriums (BMJ) ein viertes Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) anzugehen. Dafür wurde erstmals im Vorfeld sehr öffentlichkeitswirksam eine breite Verbändeabfrage durchgeführt.
Die daraus resultierenden 442 Vorschläge wurden vorsortiert, so dass schließlich 115 davon von den Ministerien umgesetzt werden sollen und 61 Vorschläge einer weiteren Untersuchung unterzogen werden. 210 Vorschläge werden wiederum nicht aufgegriffen bzw. umgesetzt, entweder weil sie in der Vergangenheit bereits umgesetzt wurden oder weil die Bundesebene für die Umsetzung des Vorschlags nicht zuständig ist. Bei den restlichen Vorschlägen handelt es sich eher um methodische Ansätze, die zur Weiterentwicklung von Werkzeugen und Methoden der besseren Rechtsetzung genutzt werden sollen.
Für die Bürger, die Wirtschaft und die Verwaltung soll das BEG IV jährliche Entlastungen von über einer Milliarde Euro bringen. Allein die Wirtschaft soll um 944 Mio. Euro jährlich entlastet werden. Wäre da nicht die bereits angesprochene EU-Ebene. Denn durch die in Kraft getretene Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD, i. e. Nachhaltigkeitsberichterstattung) werden laut des Entwurfs für das Umsetzungsgesetz in Deutschland (Stand: September 2024) den Unternehmen durch Berichtspflichten jährlich Kosten von 1,6 Mrd. Euro entstehen.
Zwar will das BMJ die CSRD mit dem schon in Deutschland bestehenden Lieferkettengesetz verzahnen, damit die betroffenen Unternehmen nicht zwei inhaltsgleiche Berichte mit unterschiedlichen Standards erstellen müssen. Dies ist angesichts der Belastung allerdings nur ein kleiner Trost. Zumal an dieser Stelle auch in Rechnung gestellt werden muss, dass vom deutschen Lieferkettengesetz und seinen Pflichten de facto viel mehr Unternehmen in ihrer Funktion als Kunden bzw. Lieferanten (indirekt) betroffen sind, als de jure ausdrücklich intendiert.
Darüber hinaus wurde per Verordnung im Jahr 2015 die sogenannte One in, one out-Regel in Deutschland eingeführt. Für jede entstehende bürokratische Last auf der einen Seite muss eine gleichwertige bürokratische Last auf der anderen abgebaut werden. Allerdings werden aktuell nur einige Belastungen der Wirtschaft berücksichtigt (siehe Abschnitt zum Bürokratiekostenindex). Nicht berücksichtigt wird die EU-Ebene sowie der Einmal- und Erfüllungsaufwand für Bürger und die Verwaltung. Die Effektivität der One in, one out-Regel, den Erfüllungsaufwand in Deutschland nachhaltig zu begrenzen, ist vor diesem Hintergrund eher fragwürdig.
Auch hinsichtlich der Digitalisierung, vor allem der Digitalisierung der Verwaltung, ist Deutschland in den vergangenen Jahren nicht wesentlich vorangeschritten, sowohl was den Ausbau der notwendigen Infrastruktur als auch die Nutzung von E-Government-Angeboten durch die Bürger angeht.
Schillerndes Beispiel für das Versagen ist das gescheitere Onlinezugangsgesetz (OZG). Ursprünglich sollten bis Ende 2022 alle 575 Verwaltungsleistungen in Deutschland flächendeckend und nutzerfreundlich digital angeboten werden. Das Ergebnis (Stand: November 2024) kann der folgenden Tabelle entnommen werden.
Insgesamt war das OZG im Ansatz zu unsystematisch und hat sich lediglich auf die Oberfläche, d. h. auf die Digitalisierung der „Front-Office-Interaktionen“, also die Interaktion zwischen den Verwaltungsadressaten (Bürger bzw. Unternehmen und Verwaltung) konzentriert. Die Digitalisierung des Back-Office, also der verwaltungsinternen Abläufe, hat keine prominente Rolle gespielt.
Aufgrund des Scheiterns hat die Ampel-Koalition das OZG-Änderungsgesetz, also ein OZG 2.0 auf den Weg gebracht. Wesentliche Änderungen sind zum einen die Fristverlängerung um weitere fünf Jahre, bis die flächendeckende Digitalisierung von Verwaltungsleistungen vollzogen sein soll sowie zum anderen die Kompetenzerweiterung des Bundes in einigen zentralen Punkten, wie etwa der Definition von Schnittstellen, Architekturprinzipien und technischen Basiskomponenten.
Allerdings ist bisher nicht zu erkennen, dass das Grundproblem des OZG 1.0, die fehlende Systematik und Strategie, mit dem OZG 2.0 tatsächlich ausgeräumt wird. Immerhin soll es nun regelmäßige Evaluationszyklen zum Umsetzungsstand geben, so dass zeitnah nachgesteuert werden kann.
Einer der Gründe des Scheiterns einer umfassenden (Verwaltungs-)Digitalisierung ist die Politikverflechtungsfalle, in der föderale Mehrebenensysteme zuweilen feststecken (vgl. Scharpf et al. 1976). Nach diesem politikwissenschaftlichen Konzept sind die verschiedenen zu beteiligenden Ebenen als System unfähig, institutionelle Änderungen herbeizuführen, die die Blockaden nachhaltig lösen könnten. Denn für die Schaffung eines IT-Systems für den Datenaustausch ist nicht allein der Bund zuständig. Entweder müssten sich also Bund und Länder auf ein gemeinsames Vorgehen einigen oder aber die Länder müssten Teile ihrer Autonomie an den Bund im Rahmen einer Grundgesetzänderung oder eines Staatsvertrages abgeben. Es ist also plausibel anzunehmen, dass eine umfassende Verwaltungsmodernisierung und -digitalisierung noch sehr lange auf sich warten lassen wird.
Institutionell ist die Schaffung des bereits oben behandelten NKR der wesentliche Meilenstein. Neben der Beratung und Unterstützung der Bundesregierung, des Bundestags und des Bundesrats beim Bürokratieabbau und besserer Rechtsetzung prüft er darüber hinaus den von der Ministerialverwaltung bei Gesetzentwürfen zu ermittelnden Erfüllungsaufwand sowie die Einhaltung der seit 2015 geltenden One in, one out-Regel auf Bundesebene.
Im Rahmen der Verwaltungsdigitalisierung sind v. a. der IT-Planungsrat und die seit 2020 bestehende Föderale IT-Kooperation (FITKO) zentral. Der IT-Planungsrat koordiniert die Tätigkeiten von Bund und Ländern im IT-Bereich. Er setzt sich aus dem IT-Beauftragten der Bundesregierung und den jeweiligen Beauftragten der Bundesländer für IT zusammen, besteht also aus 17 ordentlichen Mitgliedern, die von Vertretern der drei kommunalen Spitzenverbände sowie des Beauftragten für den Datenschutz und die Informationssicherheit beraten werden. Flankiert wird der Rat von der sogenannten FITKO. Sie unterstützt den IT-Planungsrat organisatorisch und fachlich.
An diesen Vorhaben und Projekten zeigt sich ein eigentümliches und paradoxes Merkmal des Bürokratieabbaus in Deutschland: Eine umfangreiche Verwaltungsstruktur, um Bürokratielasten abzubauen, ist vergleichsweise schnell geschaffen. Dem Bürokratieabbau geht also oft genug ein Bürokratieaufbau voraus. Ob daraufhin wirklich effektiver Bürokratieabbau folgt, ist oftmals leider fraglich.
Die Landesebene
Auch die Länder versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Kompetenzen ihren Teil zum Bürokratieabbau sowohl auf gesetzlicher als auch institutioneller Ebene beizutragen. Es würde allerdings den Rahmen der vorliegenden Analyse sprengen, jedes Vorhaben eines jeden Landes einzeln zu skizzieren und zu analysieren.
Grundsätzlich betrachtet verfügen 15 Bundesländer über sogenannte Mittelstandsgesetze bzw. -richtlinien, die auf die Reduktion bürokratischer Lasten für kleine und mittlere Unternehmen zielen. Zudem werden in einigen Bundesländern regelmäßig und systematisch Bürokratiekosten nach dem Standardkosten-Modell, das auch für die Ermittlung der Bürokratiekosten auf Bundesebene maßgeblich ist, erhoben. Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen verfügen über Gremien, die mit dem NKR vergleichbar sind und daher als „Schwestergremien“ bezeichnet werden können. Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen verfügen wiederum über sogenannte Clearing-Stellen, die ähnlichen Zwecken dienen.
Zielkonflikte: Balance zwischen Freiheit und Verantwortung
Bis hierher sollte klar geworden sein: Weniger Regulierungen und Verwaltungsaufwand versprechen eine effizientere Nutzung von Ressourcen und eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Doch dieser Freiheitsgewinn ist nicht ohne Kompromisse zu erreichen. Denn nicht verschwiegen werden darf die andere Seite der Medaille: Der Bürokratieabbau geht Hand in Hand mit höherer Eigenverantwortung. Wo der Staat nicht mehr regulierend eingreift, muss der private Bereich Verantwortung übernehmen, sofern der gegebene Status quo an Sicherheiten und Schutzgütern erhalten bleiben soll.
Ein zentraler Aspekt betrifft den Umweltschutz. Strenge Regulierungen und Auflagen sollen dem Erhalt und Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen dienen. Ein Abbau dieser bürokratischen Hürden könnte kurzfristig Prozesse und Projekte beschleunigen, doch gleichzeitig erhöht sich die Verantwortung der Akteure, nachhaltige Entscheidungen eigenständig zu treffen. Es bedarf eines gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins und der Bereitschaft, ökologische Standards ohne strikte Kontrollen einzuhalten, um langfristige Umweltschäden zu vermeiden.
Ähnlich verhält es sich im Bereich des Arbeitsschutzes. Bürokratische Vorschriften sichern die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer und gewährleisten faire Arbeitsbedingungen. Eine Reduzierung dieser Vorschriften erfordert, dass Unternehmen und Beschäftigte verstärkt selbst Verantwortung für die Einhaltung von Sicherheitsstandards und Arbeitsbedingungen übernehmen. Dies kann zu einer Kultur des Vertrauens und der Eigeninitiative führen, birgt jedoch auch das Risiko, dass ohne angemessene Kontrolle und Unterstützung die Schutzmechanismen abgeschwächt werden.
Zusammengefasst erfordert der Abbau von Bürokratie eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Gewinn an Freiheit und der damit verbundenen Notwendigkeit, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Eine erfolgreiche Umsetzung setzt voraus, dass Bürger und Unternehmen sich ihrer erweiterten Rolle bewusst und bereit sind, aktiv zur Einhaltung von Standards und Werten beizutragen. Nur so kann der positive Effekt von weniger Bürokratie tatsächlich zu einer effizienteren und zugleich verantwortungsbewussten Gesellschaft führen.
Schlussfolgerungen: Was sollte getan werden?
Die Last der Bürokratie ist als Problem erkannt, aber längst nicht gebannt. Trotz aller Vorstöße waren politische Akteure bisher nicht in der Lage, nachhaltige Lösungen zu finden. Es braucht einen systematischen Ansatz, der ein grundsätzliches Umdenken in der Verwaltungskultur Deutschlands erfordert. Ansonsten wird es weiterhin ein stetes Auf und Ab der Bürokratielasten geben, das am Ende zu keiner Netto-Entlastung führt. Folgende Schritte sind vonnöten, damit das verhindert werden kann.
(1) Einführung einer gesetzlichen Bürokratiebremse
Es bedarf einer umfassenden und nachhaltigen Strategie zur Reduktion von Bürokratielasten. Das spart nicht nur Steuergeld bzw. sorgt für einen künftig effizienteren Einsatz von Steuergeld. Es steigert v. a. die Standortattraktivität Deutschlands und das Vertrauen der Bürger in die Verwaltung, den Rechtsstaat und schließlich in die Demokratie.
Daher sollte eine wirksame und umfassende Bürokratiebremse gesetzlich verankert werden. Die bestehende One in, one out-Regel vermag lediglich den Anstieg bürokratischer Lasten auf einem sehr eingegrenzten Gebiet für Unternehmen auf dem Status quo zu halten. Ein rechtlicher Anspruch besteht darauf zudem nicht.
Die Bürokratiebremse sollte also zumindest all jene Bereiche mitumfassen, die von der aktuellen One in, one out-Regel nicht erfasst werden: Einmaliger Erfüllungsaufwand der Wirtschaft, Erfüllungsaufwände der Verwaltung und der Bürger und die Berücksichtigung von EU-Regulierungsvorhaben.
Besser noch wäre es, sie mittelfristig in eine One in, two out-Regel umzuwandeln, um den Bürokratieaufwuchs nicht nur zu beenden, sondern einen steten Bürokratieabbau zu gewährleisten. Zudem sollte transparent gemacht werden, welche bürokratischen Lasten im Sinne des „one out“ bzw. „two out“ abgebaut werden sollen.
(2) Stärkung der Digitalisierung der Verwaltung und des Verwaltungshandelns
Um die Effizienz zu steigern und den bürokratischen Aufwand zu reduzieren, muss die Digitalisierung der Verwaltung konsequent vorangetrieben werden. Dies umfasst sowohl die Digitalisierung von Back-Office-Prozessen (interne Verwaltungsabläufe) als auch von Front-Office-Interaktionen (Bürgerdienste).
Allerdings darf dieser Transformationsprozess nicht auf eine „Digitalisierung der Postkutsche“ hinauslaufen. Alle Formulare lediglich als PDF-Dateien verfügbar und ausfüllbar zu machen, wäre ein Scheinlösung ohne echte Entlastungen.
Ein klares Ziel sollte die schnelle Umsetzung des OZG und damit die flächendeckende Digitalisierung aller Verwaltungsleistungen bis Ende 2025 sein.
(3) Vereinfachung des Steuerrechts
Ein transparentes und verständliches Steuerrecht ist essenziell, um den bürokratischen Aufwand für Bürger und Unternehmen zu reduzieren.
Ein wichtiger Ansatz ist hier die vermehrte Nutzung von Pauschalierungen, Bagatellgrenzen und die Vereinheitlichung von Abgabe- und Meldefristen.
Darüber hinaus sind die technischen Möglichkeiten von Digitalisierung und Automatisierung zu nutzen, indem das System der vorausgefüllten Steuererklärung weiterentwickelt wird.
(4) Reduzierung von Doppelregulierung und Gold-Plating
Es muss konsequent verhindert werden, dass nationale Regelungen die Anforderungen von EU-Vorschriften übersteigen. Dies erfordert eine sorgfältige Prüfung neuer Gesetze auf mögliche Doppelregulierungen und eine Rückführung bereits bestehender nationaler Vorschriften auf das EU-Mindestmaß.
Darüber hinaus sollte Deutschland seine Stimme für den Bürokratieabbau auf europäischer Ebene stärken. Die Bundesregierung hat hier mit ihrem gemeinsamen Vorstoß mit der französischen Regierung den Anfang gemacht (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz 2024). Künftig sollten EU-Rechtsakte viel kritischer von den Mitgliedstaaten geprüft werden.
5) Intensivierung der Zusammenarbeit aller Ebenen
Bürokratieabbau ist eine gesamtgesellschaftliche Querschnittaufgabe. Dementsprechend müssen alle Ebenen und Akteure an einem Strang ziehen.
Zunächst ist eine enge Zusammenarbeit und Koordination innerhalb und zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen notwendig, um redundante Regelungen zu vermeiden und einen einheitlichen Standard bei bürokratischen Verfahren zu gewährleisten. Die Expertenkommission Forschung und Innovation hat in ihrem Jahresgutachten bspw. für die Bundesebene die Einrichtung eines interministeriellen Regierungsausschusses zur Überwindung von Silo-Denken vorgeschlagen (vgl. Expertenkommission Forschung und Innovation 2023, S. 22). So etwas muss aber von Anfang an Ebenen-übergreifend etabliert werden.
Es sind jedoch nicht nur die Verwaltungsebenen zu beteiligen. Gerade im Rahmen von Gesetzgebungsprozessen sollte von Anfang an eine angemessene Beteiligung der betroffenen Akteure sichergestellt und die Durchführung von Praxis- und Digitalchecks systematisiert werden. Damit wird eine umfangreiche und effektive Gesetzesfolgenabschätzung gewährleistet. So können bereits an der Wurzel drohende, aber unnötige Bürokratielasten erkannt und vermieden werden.
Fazit: Bürokratieabbau sichert die Zukunftsfähigkeit Deutschlands
Bürokratie, einst als notwendige Struktur zur Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und Planungssicherheit entstanden, hat sich in Deutschland zu einer enormen Belastung entwickelt. Die negativen Auswirkungen einer überbordenden Bürokratie auf Unternehmen, Bürger und Verwaltung sind vielfältig und weitreichend: Sie hemmen Wirtschaftswachstum und Innovation, steigern unnötige Kosten und gefährden das Vertrauen in den Rechtsstaat und die Demokratie.
Der aktuelle Zustand der Bürokratie in Deutschland ist alarmierend. Die stetig wachsenden bürokratischen Lasten und die unzureichende Digitalisierung der Verwaltungsprozesse sind zentrale Herausforderungen, die es dringend zu bewältigen gilt. Trotz zahlreicher Initiativen und Gesetze zur Bürokratieentlastung bleibt die tatsächliche Netto-Entlastung aus, da neue Regelungen oft schneller entstehen, als alte abgebaut werden.
Es ist daher unumgänglich, eine systematische und nachhaltige Strategie zum Bürokratieabbau zu entwickeln. Dies beinhaltet die Einführung einer gesetzlichen Bürokratiebremse, die konsequente Digitalisierung der Verwaltung, die Reduktion von Doppelregulierungen und Gold-Plating sowie die Förderung von Transparenz und Effizienz in Verwaltungsprozessen. Eine engere Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsebenen und die Einbeziehung der Bürger in den Bürokratieabbauprozess sind ebenfalls essenziell.
Nur durch einen entschlossenen und koordinierten Bürokratieabbau kann Deutschland die notwendigen Voraussetzungen schaffen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie Klimawandel, Digitalisierung und demografischer Wandel erfolgreich zu bewältigen. Dies wird nicht nur die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit steigern, sondern auch das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat und die Demokratie stärken. Bürokratieabbau ist somit nicht nur eine Frage der Effizienz und des sparsamen Einsatzes von Steuergeld, sondern auch der Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
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- Gastbeitrag
Bürokratie und ihr konsequenter Abbau - 3. Dezember 2024