Rechnungslegung, Gesellschaftsrecht und makroökonomische Bedingungen
Die deutsche Gründerkrise von 1873 im Lichte der österreichischen Konjunkturtheorie[1]

Die wirtschaftshistorische Analyse der Gründerkrise von 1873 zeigt, wie tiefgreifend institutionelle Regelungen in Rechnungslegung, Gesellschaftsrecht und Geldpolitik miteinander verwoben sein können. Ein besonders anschauliches Beispiel bietet die Entwicklung in Deutschland zwischen 1870 und 1873. Die österreichische Konjunkturtheorie bietet einen Erklärungsansatz für das Entstehen einer spekulativen Überhitzung, ausgelöst durch monetäre Impulse und verstärkt durch bilanzielle und rechtliche Rahmenbedingungen. Ein Verständnis der Interdependenzen zwischen Unternehmens- und Bilanzrecht sowie der makroökonomischen Einflussfaktoren kann dazu beitragen, künftige Krisen zu begrenzen.

Die Entwicklung im Überblick

Die österreichische Konjunkturtheorie argumentiert, dass durch expansive Geldpolitik gesenkte Zinssätze ihre Steuerungswirkung verlieren und zu Fehlallokationen von Kapital führen. Unternehmer tätigen vermehrt Investitionen in langfristige, kapitalintensive Projekte, deren ökonomische Vorteilhaftigkeit bei unverzerrten Zinsen nicht gegeben wäre. Genau das passierte nach dem Französisch-Preußischen Krieg von 1870/71. Die von Frankreich an Deutschland zu leistenden Reparationszahlungen führten zu einem starken Anstieg der Geldmenge und fallenden Zinssätzen. Die daraus resultierende Kreditexpansion ermöglichte die Finanzierung zahlreicher, oft unvorteilhafter Investitionen (sog. Fehlinvestitionen oder „Malinvestments“).

Diese Entwicklung überschnitt sich mit der Abschaffung des Konzessionszwangs. Seit dem Jahr 1870 konnten Aktiengesellschaften in Deutschland ohne staatliche Genehmigung gegründet werden (vgl. Martin 1969; Hoffmann & Detzen 2013). Diese Deregulierung führte in einem Umfeld künstlich gesenkter Zinsen zu einer stark ansteigenden Zahl von Neugründungen, darunter viele spekulative und substanziell schwache Unternehmen (vgl. Burhop 2009).

Im Zuge der Reform des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches (ADHGB) wurde 1870 außerdem gesetzlich normiert, Vermögensgegenstände in Unternehmensbilanzen zu ihrem „beizulegenden Wert“ anzusetzen. Damit wandte sich der deutsche Gesetzgeber vom Realisationsprinzip und einer vorsichtigen Bewertung ab (vgl. hierzu Leffon 1987; Haaker & Velte 2013; Hoffmann & Detzen 2013; Schmitz 2016). Wertsteigerungen über die fortgeführten Buchwerte hinaus konnten an die Aktionäre ausgeschüttet werden und so das Schuldendeckungspotential schmälern, was die Unternehmen in der darauffolgenden Krise anfälliger machte.

Gleichzeitig entstand durch das niedrige Zinsniveau und die Aussicht auf hohe Ausschüttungen eine erhöhte Nachfrage nach Aktien. Dies begünstigte wiederum die Gründung neuer Gesellschaften, oft mit dem primären Ziel, Gründergewinne zu realisieren. Die Aktienemission wurde somit zum selbsttragenden Spekulationsmechanismus.

Die Rolle der Bilanzierung: Katalysator für Instabilität im Konjunkturzyklus

Die im Zuge der Reform des ADHGB von 1870 eingeführten Bilanzierungsvorschriften für Aktiengesellschaften verpflichteten zur Bewertung von Vermögensgegenständen nach dem „beizulegenden Wert“. Unternehmen waren mehr oder weniger dazu angehalten, ihre Vermögensgegenstände nicht mit ihren Anschaffungskosten, sondern mit höheren Marktpreisen zu bewerten. Damit wurde es rechtlich zulässig, nicht realisierte Wertsteigerungen als Gewinne auszuweisen und diese als Dividenden auszuschütten (vgl. Löwenfeld 1879; Spindler 2005). In einem Umfeld stark steigender Vermögenspreise – ausgelöst durch massive Geldzuflüsse aus französischen Reparationen und ein fallendes Zinsniveau – führte diese Praxis zum Ausweis nicht realisierter Gewinne. Unternehmen konnten Dividenden auf Basis von Wertsteigerungen in ihren Bilanzen ausschütten, ohne dass sie durch Transaktionen realisiert wurden. Die Konsequenz war ein Abfluss von Kapital aus den Unternehmen, wodurch deren Haftungsmasse geschwächt wurde. In der Folge war insbesondere bei jungen Unternehmen mit geringem Schuldendeckungspotential ein deutlich erhöhtes Insolvenzrisiko festzustellen (vgl. Spindler 2005).

In der Gründerkrise ab 1873 wirkten diese Bilanzierungsregeln aufgrund der Fallhöhe dann krisenverschärfend: Sinkende Marktpreise mussten bilanziell nachvollzogen werden, was zu Wertberichtigungen führte und das Eigenkapital vieler Gesellschaften zusätzlich schwächte. Die Folge war eine hohe Zahl an Liquidationen und Insolvenzen, insbesondere unter den zwischen 1871 und 1873 gegründeten Gesellschaften (vgl. Spindler 2005).

Lehren aus der Gründerkrise?

Man könnte meinen, aus der Gründerkrise seien Lehren gezogen worden. Tatsächlich wurde bereits in den 1880er-Jahren offenkundig, dass die bilanzielle Erfassung nicht realisierter Gewinne und die darauf basierende Ausschüttungspraxis einen krisenverstärkenden Faktor darstellt. Die Gesetzesreform von 1884 mit der Einführung des Realisations- und Niederstwertprinzips war eine direkte Reaktion auf die in der Krise offenbarten Schwächen der Zeitwertbilanzierung (vgl. Schildbach 2012; Haaker & Velte 2013). Das deutsche Bilanzrecht entwickelte sich seither im Zeichen der Kapitalerhaltung – vorsichtig, substanzorientiert und gläubigerschützend.

Vor diesem historischen Hintergrund wirkt die Entwicklung in der Finanzkrise 2008 beinahe paradox. Auch sie war geprägt von einem exzessiven Kreditzyklus, niedrigem Zinsniveau und einer Bilanzierung zum beizulegenden Zeitwert, der sog. Fair Value-Bilanzierung – insbesondere bei Finanzinstrumenten. Im Unterschied zur Reaktion nach 1873 wurde die Fair Value-Bilanzierung nach 2008 jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. Haaker & Velte 2013). Im Gegenteil: In Deutschland wurde sie im Zuge des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) im Jahr 2009 für von Banken zu Handelszwecken gehaltenen Finanzinstrumenten gesetzlich im Handelsgesetzbuch verankert (§?340e Abs.?3 HGB).

Diese Entwicklung unterstreicht die zentrale These des historischen Vergleichs: Bilanzielle Bewertungsregeln entfalten keine neutrale Wirkung. Sie sind eingebettet in ein makroökonomisches und institutionelles Gefüge, in dem sie unter bestimmten Bedingungen destabilisierend wirken können. In der Gründerzeit war es die Kombination aus Zeitwertbilanzierung, liberalisiertem Gesellschaftsrecht und kreditgetriebener Euphorie, die zum Gründerkrach führte. Auch in der Finanzkrise 2008 kann die expansive Geldpolitik und die dadurch verzerrte Kapitalallokation als Ausgangspunkt einer Entwicklung interpretiert werden, die durch die Bilanzierung zu Fair Values verstärkt wurde (vgl. etwa Hering, Olbrich & Rollberg 2010; Brösel, Toll & Zimmermann 2012).

Der historische Blick verdeutlicht: Die Zeitwertbilanzierung ist kein rein bilanzierungstechnisches Konstrukt, kann im Zusammenspiel mit makroökonomischen und gesellschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen aber ein wirkmächtiger Verstärker in einem bereits fragilen System sein. Bilanzierungsregeln sind insofern als Teil des institutionellen Ordnungsrahmens der Marktwirtschaft zu interpretieren – mit unmittelbaren Rückwirkungen auf Stabilität, Risikoallokation und Krisenanfälligkeit.

Fazit

Die Gründerkrise von 1873 zeigt eindrücklich, wie geldpolitische Impulse, gesellschaftsrechtliche Normen und bilanzielle Bewertungsregeln zusammenwirken können, um spekulative Übertreibungen zu erzeugen. Die Einführung der Zeitwertbilanzierung unter Bedingungen einer expansiven Geldpolitik und schwacher Governance kann Fehlanreize erzeugen, die zu Vermögenspreisblasen und Kapitalfehlallokationen führen können. Im historischen Rückblick erscheint die Zeitwertbilanzierung nicht als isolierte Ursache, wohl aber als verstärkender Mechanismus innerhalb eines ungünstigen institutionellen Gesamtgefüges.

Für die wirtschaftspolitische Diskussion bedeutet dies: Fragen der Bilanzierung dürfen nicht unabhängig von makroökonomischen Rahmenbedingungen und Anreizstrukturen betrachtet werden. Reformen in der Rechnungslegung sollten stets auf ihre prozyklische Wirkung hin geprüft und in den Kontext der Geldpolitik und Unternehmensregulierung eingebettet werden.

Literatur

Braun, E., Follert, F. (2025). Fair value accounting and Austrian business cycle theory: what can we learn from the German crisis of 1873?, Accounting History Review, doi: https://doi.org/10.1080/21552851.2025.2487258.   

Brösel, G., Toll, M., Zimmermann, M. (2013). Lessons Learned from Financial Crisis – Unveiling Alternative Approaches within Valuation and Accounting Theory. Financial Reporting 4 (4): 87–107.

Burhop, C. (2009). No Need for Governance? The Impact of Corporate Governance on Valuation, Performance and Survival of German Banks during the 1870s. Business History 51 (4), 569-601.

Haaker, A., Velte, P. (2013). Zur Geschichte der Zeitwertbilanzierung in Deutschland. Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 58 (1), 73-104.

Hering, T., Olbrich, M., Rollberg, R. (2010). Zur angelsächsischen Bewertungstheorie als Mitursache der Finanzkrise. In Keuper, F., Neumann, F. (Hrsg.), Governance, Risk Management und Compliance. Wiesbaden: Gabler, 29-43.

Hoffmann, S., Detzen, D. (2013). The Regulation of Asset Valuation in Germany. Accounting History 18 (3), 367-389.

Leffson, U. (1987). Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung. 7. Aufl. Düsseldorf: IDW.

Löwenfeld, H. (1879). Das Recht der Actien-Gesellschaften. Kritik und Reformvorschläge. Berlin: Guttentag.

Schildbach, T. (2012). Fair Value, Subprime-Krise und Destabilisierung der Wirtschaft. Deutsches Steuerrecht 50 (9), 474-480.

Spindler, D.( 2005). Zeitwertbilanzierung nach dem ADHGB von 1861 und nach dem IAS/IFRS – eine empirische Analyse aus Kapitalgebersicht. Sternenfels: Verlag Wissenschaft und Praxis.


[1] Vgl. zu diesen Ausführungen Braun & Follert (2025).

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