Gesundheitspolitik- quo vadis?
Ein Resümee aus einem hoffentlich nicht nur aktionistischen Jahr?

Wenn gute Wirtschafts- bzw. Gesundheitspolitik sich linear an der Zahl der gesetzgeberischen Aktivitäten ableiten ließe, müsste das Jahr 2015 als eine der Erfolgsgeschichten, nicht nur der jüngeren Zeit, in die Annalen aufgenommen werden. Doch schon in den ersten Tagen des neuen Jahres 2016 war die Debatte geprägt von Fragen, ob die Steigerung der Zusatzbeiträge noch legitimierbar sei, der Anteil der Arbeitgeber (wieder) angehoben werden solle und insbesondere, wie die Gesundheitspolitik mit der Dauerherausforderung Wachstum der Arzneimittelausgaben, gegenwärtig getrieben durch hochspezialisierte, hochpreise Medikamente in der onkologischen Therapie, umgehen soll. Alles wieder beim Alten? Vielleicht hilft es, bevor ein kleiner ordnungspolitischer Versuch der Einordnung vollzogen wird, die Gesundheitspolitik thematisch einzuordnen. Mit Abstrichen können vier Generalstrategien der jüngeren Gesundheitspolitik adressiert werden:

1. Fortentwicklung der (ordnungspolitischen) Rahmenbedingungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sowie Beförderung von versorgungspolitischen Strukturen im Gesundheitswesen

Hier können unmittelbar das Versorgungsstärkungsgesetz sowie das Krankenhausstrukturgesetz eingeordnet werden. Das Versorgungsstärkungsgesetz hat vor allem Änderungen in der Bedarfsplanung adressiert und will mit dem Innovationsfonds eine komplexe und schon im Ansatz umstrittene Idee einer geregelten Innovationsgestaltung auf den Weg bringen. Im Krankenhausstrukturgesetz spielen insbesondere die Fragen der Fortentwicklung qualitätsorientierter Vergütungsregelungen einen Rolle und im Kontext der Strukturbereinigung die Einsetzung eines Strukturfonds zur Begleitung von (regionalbezogenen) Anpassungen der Krankenhausversorgung.

2. Veränderung der Patientenverantwortung und der Rolle des Einzelnen im Gesundheitssystem

Hier setzt unmittelbar das Präventionsgesetz an, das sich der Förderung der „lebensweltlichen Bedingungen“ annimmt und insofern vor allem die Förderung der verhaltenspräventiven Aspekte beim einzelnen Versicherten als auch im betrieblichen Umfeld adressieren möchte (Förderung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements). Dabei kommt der Bedeutung von Verantwortungsübernahme der einzelnen Versicherten gerade im Kontext chronischer und auch verhaltensabhängiger Erkrankungen eine wachsende Rolle zu. Die Diskussion inwiefern einheitliche Präventionsziele vorgeben sollen und die Kassen verpflichtet sind, an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, stellt ordnungspolitisch die Frage nach dem Verhältnis zwischen staatlicher Einflussnahme auf die Gesundheitsversorgung und die Rolle der Selbstverwaltung und der Möglichkeit wettbewerblicher Gestaltung gerade auch zwischen den Krankenversicherungen. Unabhängig vom Präventionsgesetz können in die Kategorie „Förderung der Versicherten in seiner Patientenrolle“ noch das Hospiz- und Palliativgesetz sowie mit Abstrichen das Gesetz zur Sterbehilfe (Verbot des assistierten Suizids) eingeordnet werden, die teilweise nach sehr intensiver Diskussion, gerade bei der Frage des assistierten Suizids, den Gesetzgebungsprozess durchlaufen haben.

3. Gesetzgeberische Aktivitäten zur Re-Formulierung der Arbeitsteilung in Medizin und Gesundheitsversorgung

An erster Stelle lässt sich hier das E-Health-Gesetz nennen, das die „Telematikinfrastruktur“ regeln soll, auf der künftige digitale Versorgungslösungen und Dienstleistungen aufgebaut werden können. Mit ganz anderer Motivation adressiert auch das Anti-Korruptionsgesetz die Rahmenbedingungen der Arbeitsteilung gerade innerhalb und zwischen den medizinischen Professionen.

4. Als eigenständige gesundheitspolitische Richtung ist das Pflegestärkungsgesetz II zu sehen, das die Fortentwicklung der Struktur der Pflegeversorgung zum Ziel hat und vor allem die Einführung der neuen Pflegegrade ab 2017 vorsieht, die die bisherigen Pflegestufen ablösen werden.

Exemplarisch sollen zwei Ansätze besonders hervorgehoben werden, nämlich der Innovationsfonds einerseits und das E-health-Gesetz andererseits. Beide Ansätze zeigen die Hoffnung auf eine institutionelle Weiterentwicklung des Gesundheitswesen und sollen exemplarisch die Gestaltung von Innovation – sei es im Versorgungskontext oder im Kontext der Digitalisierung – vermitteln.

Auf der Suche nach Innovation: der Innovationsfonds als ordnungspolitisches Fragezeichen?

Mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz, das zum 1. Januar 2015 in Kraft getreten ist, soll der Wettbewerb zwischen den Krankenversicherung durch die Anpassung der Regelungen des Zusatzbeitrages forciert werden. Die Festlegung des Arbeitgeberbeitrages auf 7,6 % Prozentpunkte und die damit einhergehende Verteilung des Versicherungsrisikos auf den Versicherungsnehmer über den wachsenden Zusatzbeitrag hat Ende 2015 zu einer Diskussion über die Bedeutung des Zusatzbeitrages und der so genannten paritätischen Finanzierung der sozialen Krankenversicherung geführt. Diese Frage kann aber gesundheitsökonomisch ohne den erhofften Leistungswettbewerb, der vor allem mit dem Versorgungsstärkungsgesetz forciert werden sollte, nicht zielgerecht diskutiert werden. Auch wenn ein prozentualer Beitrag anreizökonomisch einem Preissignal unterlegen ist, lässt sich ordnungspolitisch festhalten, dass die Krankenversicherungen mit der aktuell gültigen Regelung grundsätzlich motiviert sein sollen, sich durch Unterschiede in der Leistungs- und Organisationsstruktur zu differenzieren. Dies soll dem eigentlichen Gedanken eines Krankenversicherungswettbewerbs folgen, nämlich durch wettbewerbliches Differenzierungen von Versorgungsangeboten zu einer insgesamt besseren Gesundheitsversorgung beizutragen. Diese Idee eines regulierten Krankenversicherungswettbewerbs – in Deutschland als Solidarische Wettbewerbsordnung formuliert – muss aber einerseits berücksichtigen, dass der Risikostrukturausgleich, der den Verzicht auf risikoäquivalente Prämien kompensieren soll, nicht zu Lasten von Versorgerkassen ausgestattet ist, andererseits Krankenversicherungen, insbesondere Versorgungskassen, sich durch Investitionen in Leistungsstrukturen auch tatsächlich wettbewerblich differenzieren können. Genau an diesem Dilemma will der Innovationsfonds ansetzen, der einer der Hauptbestandteile des Versorgungsstärkungsgesetzes ist und dessen genaue Umsetzung bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht offiziell gemacht wurde. Der Gemeinsame Bundesausschuss und insbesondere dessen Vorsitzender möchte mit dem Gesundheitsfonds Impulse zur Weiterentwicklung der Versorgung setzen, diese aber genau von den Akteuren bewerten lassen, die Teil des „Spieles“ sind. In dieser Hinsicht gilt es den Innovationsfonds kritisch im Lichte der Weiterentwicklung von Selektivverträgen zu sehen . Insbesondere mit unterschiedlichen Formen selektiver Leistungssteuerung war bislang versucht worden, einen Leistungswettbewerb zwischen den Krankenversicherungen zu initiieren, der über den Risikostrukturausgleich versicherungsökonomisch reguliert wird. Es lässt sich jedoch festhalten, dass in der Vergangenheit der ordnungspolitische Mut, den Krankenversicherungen und Leistungserbringern Gestaltungsräume neben der Kollektivversorgung zu geben nur sehr eingeschränkt ausgeprägt war.

Der Innovationsfonds versucht nun über eine prozesspolitische Vorgehensweise, Impulse für Versorgungsinnovationen zu initiieren. Die Unterscheidung zur Idee eines Leistungswettbewerbs über Selektivverträge liegt im Kern darin, in welcher Weise ein Suchprozess für Innovationsprozesse initiiert wird, grob gesprochen im kollektivorientierten Vergabeprozess via Innovationsfonds oder im dezentralen Suchprozess via Selektivvertrag. Dabei liegt der Knackpunkt nicht darin, ob es Selektivverträge geben kann, sondern wie diese ordnungspolitisch eingeordnet werden können, da im Innovationsfonds sowohl die Wege als auch die Ziele für „innovativ zu interpretierende“ Versorgung durch die Strukturen des Innovationsfonds, insbesondere durch den Innovationsausschuss, festgelegt werden. Wettbewerbliche Suchprozesse würden dagegen Wege und auch Zielsetzungen weitgehend dezentral ausgestaltet lassen, freilich eingebettet in die weiter zu diskutierende Rahmenordnung für eine Solidarische Wettbewerbsordnung. Somit stellt sich insgesamt die Frage, wie die Rolle der „Solidarischen Wettbewerbsordnung“ einnehmen soll und welche regulativen Elemente diesbezüglich künftig eine wesentliche Rolle spielen. Ein interessanter Diskussionspunkt spielt in dieser Hinsicht die digitale Infrastruktur, wie sie im E-health-Gesetz angegangen wurde.

E-Health-Gesetz als Infrastruktur einer veränderten Arbeitsteilung im Gesundheitswesen

Mit dem Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungenim Gesundheitswesen, kurz e-Health-Gesetz, fand eine langwierige gesundheitspolitische Diskussion zur Förderung der digitalen Infrastruktur seinen vorläufigen Abschluss. Primäres Ziel des Gesetzes ist die „zügige Einführung nutzbringender Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte“ (Dt. Bundestag Drucksache 18/5293) zu befördern. Die umgesetzten Elemente scheinen vor den grundsätzlich technischen Möglichkeiten eher spärlich zu wirken. Einerseits sollen Notfalldaten ab 2018 auf Wunsch des Versicherten auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden können. Der bundeseinheitliche Medikationsplan soll ab Oktober 2016 zunächst in einer Papierversion und dann ab 2018 elektronisch von der Gesundheitskarte abrufbar sein. Andererseits muss die Gematik bis 2018 die Voraussetzungen für eine elektronische Patientenakte geschaffen haben, insbesondere soll ein Patientenfach gefördert werden, dass es dem Patienten unabhängig vom Leistungserbringer erlaubt, seine Daten einzusehen und beispielsweise auch Daten über ein Patiententagebuch (etwa durch Nutzung von wearables u. ä.) einzutragen. Alle diese Lösungen sollen in ein modernisiertes Stammdatenmanagement eingebettet sein, um Schnittstellenprobleme zwischen unterschiedlichen Praxisverwaltungssoftwarelösungen zu reduzieren. Die noch wenigen gesundheitsökonomischen Auseinandersetzungen mit Beförderungs- und Behinderungsfaktoren etwa von zielgerichteten Telemedizin- oder Telecareanwendungen verweisen auf die Notwendigkeit, digitalisierte Strategien als Teil der Wertschöpfungskette im Patientenfluss, d. h. als Teil einer Organisationslösung zu sehen (vgl. etwa Henderson et. al. 2013 oder Wootton 2012). Insofern stellt die technische Infrastruktur, die Festlegung von Schnittstellenstandards sicherlich eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dar, wenn nicht andererseits geklärt ist, in welchem Organisationsmodell, mit welcher Strategie etwa telemedizinisch erhobene Daten auch genutzt werden können. Die damit zusammenhängende Frage an Qualitätsstandards der medizinischen Leistungserbringer und an Qualifizierungsnotwendigkeiten liegt auf der Hand. Somit geht es um neue Formen der Arbeitsteilung sowohl innerhalb der medizinischen Profession (etwa Telekonsultationen) aber auch zwischen den medizinisch-pflegerischen Professionen. Technisch-organisatorische Ansätze wie etwa VERAH oder AGnES stehen hierfür nur Pate. In beiden Konzepten geht es darum, weitere nicht-ärztliche Leistungserbringer komplementär zum Haus- und Facharzt zu entwickeln und zu befördern, versehen mit einem eigenständigen Qualifikationsbild und mit mehr (AGnES) oder weniger digitaler Unterstützung (VERAH): Digitalisierte Gesundheitsversorgung wird somit viel stärker die Frage an die Gesundheitspolitik und die Gesundheitsakteure stellen, wie sich Organisationsmodelle weiterentwickeln können und auch müssen. Der Gesetzgeber muss dafür den allgemeinen Rahmen geben; Selektivverträge im Wettbewerbsprozess wären darüber hinaus genau die Chance, zielgerichtete Versorgungsexperimente mit Ziel Organisationsinnovationen durchzusetzen. Vor dem Hintergrund der Regelleistungsgarantie wären diese wieder in den Regulierungskontext einzuordnen und könnten auch mit einem Evaluationsvorbehalt verknüpft werden. In Konsequenz besteht hier genau das Feld, zu zeigen, warum eine wettbewerbliche Idee einer Gesundheitsversorgung Sinn macht, nämlich dem Gedanken nach dezentralen Versorgungsexperimenten Rechnung zu tragen. Telemedizin beispielsweise bietet sich ideal an, gilt es doch Organisation, Technik, und Qualifikationsprofile zweckmäßig zu verknüpfen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch im Innovationsfonds diesem Versorgungsansatz besondere Priorität geschenkt werden soll, jedoch bleiben die Vorbehalte hinsichtlich des prozesspolitischen Leitbildes, wie oben geschildert. Die Hausaufgaben für die Gesundheitspolitik scheinen weiterhin offen zu bleiben, viele Gesetze auf den Weg gebracht zu haben bedeutet daher vielleicht doch nicht zwangsläufig, effektiven, effizienten und nachhaltigen Lösungen den Weg zu bereiten. Es bleibt weiterhin die Notwendigkeit vom Ganzen her zu denken!

Literatur:

Henderson, C., Knapp, M.; Fernández, J., Beecham, J. Shashivadan, P.; Cartwright, M., Beynon, M.; Rogers, A., Bower, P.; Doll, H.; Fitzpatrick, R.; Steventon, A., Bardsley, M., Hendy, J. and S. Newman (2013): Cost effectiveness of telehealth for patients with long term conditions (Whole Systems Demonstrator telehealth questionnaire study): nested economic evaluation in a pragmatic, cluster randomized controlled trial, in: BMJ 346.

Wootton, R. (2012): Twenty years of telemedicine in chronic disease management – an evidence synthesis, in: Journal of Telemedicine and Telecare 18 (4): 211-220.

 

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