„Bank robbers should not expect banks to honor their safe deposit boxes.“ (Lawrence H. Summers, Philip Zelikow und Robert B. Zoellick)
Die deutsche Vogel-Strauß-Politik gegenüber Russland ist zu Ende. Dafür hat der russische Überfall auf die Ukraine gesorgt. Die „Minsk-Krim-Strategie“ des Wegschauens ist gescheitert. Am 22. Februar 2022 wurde offensichtlich, die (deutsche) Appeasement-Politik war ein Fehlschlag. Es war eine schlechte Idee, Russland im Donbas und auf der Krim militärisch gewähren zu lassen, wirtschaftlich aber so zu tun, als wäre nichts passiert. Und es wäre strategisch ein Schuss ins eigene Knie, die Ukraine nach dem russischen Überfall ihrem Schicksal zu überlassen. Aussitzen lässt sich das Problem nicht mehr. Die freiheitliche Welt muss Farbe bekennen. Das hat sie getan, wenn auch meist zu spät, oft nur widerwillig und noch immer viel zu wenig. Sie unterstützt die Ukraine mit Nothilfen und Sanktionen gegen Russland. Hilfen beim Wiederaufbau sollen folgen. Die bisherigen militärischen, finanziellen und humanitären Hilfen sollten nicht klein geredet werden. Teilweise wurde aber mehr versprochen als tatsächlich geliefert. Mit Sanktionen gegen Russland reagierten G7 und EU relativ schnell. Wirklich gewirkt haben sie aber (noch) nicht. Das liegt auch an der mangelnden Solidarität einiger westlicher Länder, die Schlupflöcher aktiv nutzen. Über die Hilfe zum Wiederaufbau wird bisher nur geredet. Die Situation ist allerdings in der (jüngeren) Geschichte wohl einmalig. Russland hat mit den im Westen eingefrorenen 316 Mrd. Dollar an finanziellen Aktiva schon mal einen „Vorschuss“ auf die Reparationen geleistet, die fällig werden, wenn der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zu einem Ende kommt.
Versprochen, gebrochen?
Nach dem russischen Überfall ging es für die Ukraine ums nackte Überleben. Die Chancen, weiter souverän zu bleiben, standen nicht gut. Um das Schlimmste zu verhindern, war militärische Notfallhilfe absolut prioritär. Vor allem die USA und das Vereinigte Königreich halfen. Sie sagten Waffen und Munition zu. Die meisten lieferten sie auch. Nachdem der russische Vormarsch im April gestoppt war, ging es darum, den finanziellen Zusammenbruch der Ukraine zu verhindert. Die finanziellen Hilfszusagen stiegen[1]. Bis Mai 2023 sagte die EU (27,3 Mrd. Euro) die meisten Mittel zu, gefolgt von den USA (24,3 Mrd. Euro). Die Erfolge der ukrainischen Armee im Herbst 2022 und die Aussicht, Russland aus der Ukraine zu vertreiben, erhöhten die Hilfszusagen deutlich, zuerst die finanziellen dann die militärischen. Seit Anfang 2023 gehen beide Arten von Hilfszusagen zurück, die finanziellen allerdings stärker als die militärischen. Die Daten des IfW zeigen einen Trend zu militärischer Hilfe. Die meisten Zusagen kamen von den USA (42,8 Mrd. Euro), inzwischen gefolgt vom notorisch zögerlichen Deutschland (7,5 Mrd. Euro) und Großbritannien (6,6 Mrd. Euro). Allerdings wurden die Zusagen nur teilweise eingehalten. So lieferten die USA, Deutschland und Großbritannien kaum mehr als die Hälfte der zugesagten schweren Waffen. Diese Entwicklung hält auch 2023 an. Osteuropäische Länder hielten sich stärker an ihre Zusagen.
Neben militärischen und finanziellen Zusagen versprachen die Geberländer der Ukraine auch humanitäre Hilfe. Die meisten Mittel kamen aus den USA (3,6 Mrd. Euro), der EU (2,1 Mrd. Euro) und Deutschland (1,9 Mrd. Euro). Die gesamten Hilfszusagen an die Ukraine, militärisch, finanziell und humanitär, summieren sich seit Beginn des Krieges auf insgesamt rund 165 Mrd. Euro. Das meiste wurde bisher von den USA (70,7 Mrd. Euro) versprochen, gefolgt von der EU (35,1 Mrd. Euro), Deutschland und Großbritannien mit jeweils 10,7 Mrd. Euro. Ein Aspekt fällt bei dieser Betrachtungsweise unter den Tisch. Einige Länder, wie Polen (15,4 Mrd. Euro) und Deutschland (13,9 Mrd. Euro) haben erhebliche Mittel für Geflüchtete aus der Ukraine aufgewandt. Trotz aller Kritik an der zögerlichen Haltung von Deutschland: Es ist nach den USA das Land, das der Ukraine am meisten Hilfe zugesagt hat. Zwei Dinge fallen daneben auf: Zum einen halten sich große Länder, wie Frankreich, Italien und Spanien, bei den bilateralen Hilfszusagen, militärisch und finanziell, merklich zurück. Die Beteiligungen an den Zusagen über die EU verbessern das Urteil ein wenig. Zum anderen ändert sich das Bild, wenn die Hilfszusagen auf das BIP bezogen wird. Dann sind die osteuropäischen Anrainerstaaten der Ukraine ganz vorne, wenn es um die Hilfe einschließlich der Ausgaben für Flüchtlinge geht. Polen wendet 3,2 % des BIP auf, Estland 2,4 % und Litauen immer noch 1,7 %. Dagegen belaufen sich die gesamten deutschen Hilfszusagen für die Ukraine auf 0,6 % des BIP.
Notfall-Hilfen an die Ukraine werden auch weiter notwendig sein. Der Krieg hält an, ein baldiges Ende ist nicht in Sicht. Der russische Aggressor hält weiter Teile des ukrainischen Staatsgebietes besetzt. Er tötet Zivilisten, Frauen und Kinder, zerstört zivile Infrastruktur, Wohnungen, Häuser, Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser, terrorisiert die Bevölkerung mit Bomben, Raketen und Drohnen. Und er verfolgt eine Politik der verbrannten Erde, wo er besetztes Gebiet räumen muss. Die ukrainische Gegenoffensive hat (noch) nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Die bisherigen Waffenlieferungen westlicher Länder haben ausgereicht, den russischen Vormarsch zu stoppen. Sie sind aber ungenügend, die russischen Invasoren aus dem Land zu werfen. Noch mehr und besseres Kriegsgerät, das schnell geliefert wird, ist notwendig. Solange der Krieg anhält, kommt die Ukraine wirtschaftlich nicht auf die Beine. Die Unterstützung von G7 und EU ist nicht nur weiter notwendig, sie muss verstärkt werden. Das gilt für die Militär- und Finanzhilfe. Dabei hat Militärhilfe bis zu einem Waffenstillstand oder einem Friedensschluss sicherlich Priorität. Der zu beobachtende Trend zu verstärkter Militärhilfe wird sich erst einmal fortsetzen. Die westlichen Aufwendungen für Kriegsgerät werden weiter (massiv) zunehmen müssen, quantitativ und qualitativ. Darauf scheinen sich die G7-Länder in der NATO in Vilnius auch verständig zu haben.
Solange der Krieg andauert, sind auch weitere finanzielle Notfall-Hilfen notwendig. Der Krieg erhöht die ökonomische Unsicherheit. Das ist Gift für die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Reallöhne sinken, das Wachstum geht zurück. Der staatliche Haushalt gerät ins Defizit. Die (militärischen) Ausgaben steigen, die Steuereinnahmen sinken. Mit Krediten versucht die Politik, die Löcher zu stopfen, Staatsausgaben werden immer öfter monetär finanziert. Die Inflation steigt. Mit der Dauer des Krieges wird es immer schwerer, die Defizite zu finanzieren. Es droht Hyperinflation und Staatsbankrott. Noch 2022 schien die Ukraine diesen Weg zu gehen. Das BIP brach um fast 30 %, die Bruttoanlageinvestitionen um über 34 % ein, der private Verbrauch sank um fast 27 %, die Inflationsrate erhöhte sich ebenfalls um rund 27 %. Diese negative Entwicklung konnte gestoppt werden. Die militärische Lage hat sich trotz weiterer Luft- und Artillerieangriffe für weite Teile der Ukraine stabilisiert, die wirtschaftliche Unsicherheit ist gesunken. Internationale Finanzhilfen haben geholfen, die Lage zu stabilisieren. Nach wie vor steht aber die wirtschaftliche Erholung auf tönernen Füßen. Die militärische Aggression besteht fort, Not-Hilfen sind weiter notwendig. Militärische und finanzielle Hilfen sind substitutiv. Mehr (erfolgreiche) Militärhilfe senkt die russische Bedrohung, verringert die wirtschaftlichen Unsicherheiten und stabilisiert die ökonomische Entwicklung. Es braucht weniger stabilisierende finanzielle Nothilfe.
Solidarität, ein leeres Wort?
Mit der Ukraine-Krise rückten Sanktionen in den Mittelpunkt. Erst drohten westliche Länder mit ihnen. Die Drohungen sollten Russland abschrecken, die Ukraine zu überfallen. Das hat nicht funktioniert. Dann sollten harte Sanktionen helfen, Russlands wirtschaftliche Basis zu erodieren, um den russischen Angriffskrieg möglichst schnell zu beenden. Auch das scheint nicht so zu klappen wie erhofft. Die russische Wirtschaft ist nicht kollabiert, der Krieg geht unvermindert weiter. An der Zahl der Sanktionen – 750 allein der EU – kann es nicht liegen, an der Qualität eher. Es gelang (bisher) nicht, Russland wirtschaftlich zu isolieren. Das russische BIP schrumpfte 2022 zwar um rund 8 %. Für 2023 prognostizierten internationale Organisationen, wie IWF und Weltbank, aber eher einen leichten Anstieg der russischen Wirtschaftsaktivität. Allein die OECD glaubt an einen (moderaten) Rückgang von 1,5 %. Erklärt wird das mit steigenden Energiepreisen, einer boomenden Rüstungsindustrie, einer cleveren russischen Wirtschaftspolitik aber auch mit Schlupflöchern, die sanktionierende Länder bewusst offenließen, weltweiten Handelsumlenkungen bei Energiegütern und Umgehungen über indirekten Handel mit Drittländern. Daraus zu schließen, dass Sanktionen nicht wirkten, wäre aber voreilig. Die Mehrheit der Ökonomen ist der Meinung, das Gift der Sanktionen wirke erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, aber es wirke. Nach und nach schmelzen die russischen Reserven ab, vor allem aber lässt die wirtschaftliche Dynamik nach. Westliche Technologie kommt nur noch tröpfchenweise über Umwege ins Land, Direktinvestitionen gehen zurück, qualifizierte Arbeit wandert aus.
Die Sanktionen gegen Russland sind nicht wasserdicht. Das sollen sie nach dem Willen der sanktionierenden (europäischen) Länder auch nicht sein. Die Abhängigkeit von russischer Energie hat dazu geführt, dass Schlupflöcher offen blieben. Die EU hat kein Embargo gegen russisches Gas verhängt, das taten nur die USA und Australien. Der Grund dürfte die zu Beginn des Krieges noch hohe Abhängigkeit von russischem Gas gewesen sein. Dagegen untersagt die EU den Import von Kohle aus Russland. Die Verfügbarkeit auf den Weltmärkten ist groß, das Verbot schränkt nicht ein. Sanktioniert ist auch der Import von leitungsabhängigem Öl. Das Verbot gilt nicht für stark von russischem Öl abhängige Länder wie Österreich und Ungarn. Ausnahmen für nicht-pipelinegebundenes Öl gelten auch für Bulgarien und Kroatien. Grundsätzlich verboten hat die EU auch den nicht-leitungsgebundenen Import von Öl und Ölprodukten. Ergänzt wird dieses Verbot durch einen Ölpreis-Deckel. Danach ist der Import allerdings erlaubt, wenn er die Preisobergrenze von gegenwärtig 60 Euro pro Barrel nicht übersteigt. Der Weltmarktpreis liegt schon seit einiger Zeit darunter. Verboten ist auch der Transport von Rohöl und Ölprodukten von EU-Schiffen, allerdings nur, wenn der bezahlte Preis über der Preisobergrenze liegt. Das europäische Interesse an russischer Energie hat zu (gewollten) Schlupflöchern geführt. Der Import machte es notwendig, die Finanzierung weiter zu ermöglichen. Auch deshalb sind nicht alle russischen Banken sanktioniert. Das ist ein weiteres (gewolltes) Schlupfloch der sanktionierenden G7- und EU-Länder.
Neben den offiziellen Schlupflöchern, die Unternehmen einiger Länder nutzen, gibt es auch welche, die Sanktionen mit allerlei Tricks umgehen. Einen lukrativen Weg, die Sanktionen bei Öl zu unterlaufen, gehen Firmen aus einigen Drittländern, die sich nicht an Sanktionen beteiligen. Sie kaufen das nicht-pipeline-gebundene russische Öl zum niedrigen Höchstpreis der Preisobergrenze, wenn es Gewinne bringt auch darüber, verschiffen es in ihre Länder, raffinieren es teilweise und verkaufen es zu höheren Weltmarktpreisen ohne Preisobergrenze. Die Hauptakteure bei diesen Geschäften sind Unternehmen aus Indien und die Türkei. Diese Länder sind hochprofitable „Waschsalons“ für russisches Öl (Simon Johnson und Oleg Ustenko). Als Käufer treten auch Firmen aus G7- und EU-Länder auf. Jamnagar, der größte Raffineriekomplex der Welt in Indien, ist ein solcher Fall. Im 1. Quartal 2023 stammten 43 % der Rohölimporte in Jamnagar aus Russland. Ein anderes Beispiel ist Kozmino, der russische Pazifikhafen. Über die Hälfte der Firmen, die dort im 1. Quartal 2023 das Öl alle zu einem Preis über 60 Doller pro Barrel kauften, kamen aus G7- und EU-Ländern. Beim Transport des Öls und der Ölprodukte verdienen sich vor allem griechische Reeder eine goldene Nase. Sie verschiffen vor allem aus Häfen des Schwarzen Meeres und der Ostsee.
Eine andere Form der Umgehung ist auch beim Handel mit Gütern zu beobachten. Es gibt Hinweise, dass der indirekte Handel über Drittländer zunimmt. Dabei fällt auf, dass seit Kriegsbeginn einige Länder (sanktionierende und nicht-sanktionierende) ihr Exporte in Länder stark erhöht haben, die eher russlandfreundlich oder klar pro Russland sind. Dazu zählen Staaten, wie Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, der Irak und die Türkei. Es spricht vieles dafür, dass die Unternehmen in diesen Ländern die importierten Güter weiter nach Russland verkaufen. Zumindest deutet der sprunghafte Anstieg der Exporte dieser Länder nach Russland darauf hin. Vor allem chinesische Firmen sind bei diesen Geschäften sehr aktiv. Aber auch Unternehmen aus Deutschland, Japan und den USA sind mit dabei. Deutsche Unternehmen haben die Ausfuhr von Kraftfahrzeugen nach Kasachstan seit Ausbruch des Krieges um 470 % gesteigert. Die Werte fallen für den Maschinenbau und die Elektrotechnik zwar geringer aus, sind aber immer noch im hohen zweitstelligen Bereich (Prognos, 2023). Die Wachstumsraten dieser indirekten Exporte nach Russland sind zwar teilweise hoch, das Niveau der Exporte ist allerdings eher (noch) gering. Es bleibt anzumerken: Das alles ist anekdotische Evidenz, mehr haben wir aber gegenwärtig nicht. Dennoch: Solidarität dieser westlichen Länder mit der Ukraine sieht anders aus.
Auch nach dem 11. Sanktionspaket der EU sind die Sanktionen noch immer löchrig. Es ist notwendig, sie nachzuschärfen. Schlupflöcher müssen gestopft, Umgehungen verhindert und der Finanzsektor stärker sanktioniert werden. Schlupflöcher entstehen, weil zu viele Ausnahmen bestehen. Sie gilt es zu beseitigen. Ein generelles Verbot, russische Energie zu importieren, würde die Schlupflöcher stopfen. Das ist weltfremd. Nicht alle G7/EU-Länder würden mitmachen. Realistischer ist, die Preisobergrenze für Öl zu senken. Gefordert wird, sie von 60 auf 50 Dollar pro Barrel zu verringern. Das macht allerdings mehr bürokratische Kontrollen notwendig. Vorgeschlagen wird, Unternehmen zu verpflichten, alle Transaktionen, an denen sie im System des Preisdeckels beteiligt sind, den Behörden zu melden. Das gilt auch für verdächtige Aktivitäten, die sie beobachten. Und der Verkaufspreis muss eindeutig aus den Verträgen hervorgehen (Guntram Wolff u.a.). Dann bliebe immer noch eine Schwachstelle, der Finanzsektor. Weitere russische Finanzinstitute müssten sanktioniert werden. Das würde die Kanäle der Transaktionen beschränken und die Überwachung erleichtern. Allerdings sind Finanzströme bisweilen höchst intransparent. Vieles wird über Schattenfinanzplätze abgewickelt. Sollten solche Institute in Drittländern nachweislich an Geschäften beteiligt sein, die den Preisdeckel umgehen, sollten die Länder des Westens sie sanktionieren.
Es wird nicht gelingen, die Schlupflöcher zu schließen. Dagegen sprechen das Eigeninteresse der Staaten, das Gewinnstreben der Unternehmen und die Unvollkommenheiten von Kontrollen. Es dürfte auch schwer sein, die Umgehungen trocken zu legen. Das gilt für die Reedereien aus Drittstaaten und die „Waschsalons“ für russisches Öl. Es trifft aber auch für die indirekten Exporte nach Russland über Drittstaaten zu. Schwer denkbar ist, dass es der EU gelingt, die griechischen Reeder beim Transport russischen Öls an die Kette zu legen. Der Einfluss auf die griechische Politik dürfte zu groß sein. Das griechische Drohpotential in der EU ist wegen der Einstimmigkeitsregel bei Sanktionen glaubwürdig. Selbst wenn es gelänge, griechische Reeder zu disziplinieren, bleiben viele potente Reedereien aus Drittstaaten. Aber auch bei den weltweiten „Waschsalons“ für russisches Öl dürfte es nicht gelingen, die Sanktionen gegen Russland zu schärfen. Es ist zwar möglich, dass die USA den Import von raffiniertem russischem Öl verbietet (Simon Johnson und Oleg Ustenko). Darauf zu hoffen, dass etwa Indien auf die Gewinne aus dem Raffineriegeschäft mit russischem Öl verzichtet, die erst durch die Sanktionen entstanden, ist aber illusorisch. Schließlich wird es auch nicht gelingen, die indirekten Exporte nach Russland über Drittstaaten wirksam zu begrenzen. Das gelingt nicht einmal bei europäischen Unternehmen, geschweige denn bei nicht-europäischen. Dafür steht einfach zu viel an Arbeitsplätzen und Wohlstand für diese Länder auf dem Spiel. Das Fazit: Sanktionen gegen Russland bleiben auch löchrig, weil wir nicht bereit sind, den ökonomischen Preis harter Sanktionen zu zahlen.
Reparationen oder Marshall-Plan?
Der Krieg in der Ukraine dauert schon seit über 10 Jahren. Angefangen hat er im Frühjahr 2014 mit bewaffneten Auseinandersetzungen im Donbas, fast zeitgleich wurde die Krim von „grünen Männchen“ besetzt, letztes Jahr die Ukraine von Russland überfallen. Die russische Kriegsstrategie setzt auf brutale Zerstörung, eine Politik der verbrannten Erde, auf wirtschaftlichen Kollaps der Ukraine durch einen Abnutzungskrieg und systematische Demoralisierung der ukrainischen Bevölkerung durch fortgesetzte Luftangriffe. Der Krieg hat in der Ukraine immense Schäden angerichtet. Erhebliche Teile der Infrastruktur – Transport, Energie – wurden zerstört oder beschädigt, unzählige Häuser und Wohnungen wurden dem Erdboden gleichgemacht oder unbewohnbar geschossen, landwirtschaftliche Böden großflächig vermint. Das BIP ist 2022 um 29 % geschrumpft, 13 Mio. Ukrainer wurden vertrieben, der private Sektor wurde stark beschädigt, die Inflation liegt bei 27 %. Die Weltbank hat die Mittel, die in den nächsten 10 Jahren notwendig sind, um die Ukraine wieder aufzubauen, auf über 411 Mrd. Euro geschätzt. Kurzfristig liegen die größten Bedarfe im Wohnungswesen, der sozialen Absicherung und dem Lebensunterhalt, in Handel und Industrie und der Transportinfrastruktur. Mittel- und langfristig werden vor allem für Transport, Energie, Wohnungen und der Beseitigung von Explosionsgefahren noch höhere Summen als kurzfristig benötigt. Das ukrainische Verteidigungsministerium schätzt, dass etwa 1/3 der Ukraine vermint ist (FAZ). Die Räumung ist gefährlich und kostspielig.
Die schwer gezeichnete Ukraine kommt wirtschaftlich nur auf die Beine, wenn der Wiederaufbau nach dem Krieg gelingt. Die Schäden, die der Krieg verursacht hat, müssen beseitigt, die staatlichen Institutionen modernisiert werden. Für die Zerstörungen muss der russische Aggressor aufkommen. Es ist ein wohl einmaliger Fall in der (jüngeren) Geschichte, dass der Aggressor vor dem Überfall hohe Summen in westlichen Rechtsstaaten bunkerte, die ihm nicht freundlich gesonnen sind. Es handelt sich um russische Wertpapiere im Wert von über 316 Mrd. Dollar. Die meisten werden von Euroclear in Belgien verwahrt. Signifikante Beiträge der russischen Notenbank liegen auch in den USA, Großbritannien, der Schweiz und anderswo. Mit den Sanktionen von G7 und EU wurden sie nach dem russischen Überfall eingefroren. Damit liegen beträchtliche Mittel bereit, um die Opfer des Krieges in der Ukraine zu entschädigen. Lawrence H. Summers, Philip Zelikow und Robert B. Zoellick sind der Meinung, dass ein Transfer der eingefrorenen russischen Reserven an die Ukraine moralisch richtig, strategisch weise und politisch zweckmäßig sei (hier). Es gäbe kein Szenario, in dem Russland sein Geld zurückbekommt, während die Opfer nicht entschädigt werden: „Bank robbers should not expect banks to honor their safe deposit boxes.“ Die Verwertung staatlichen russischen Vermögens sei eine machtvolle Warnung an alle Staaten, die überlegten, einen Angriffskrieg zu führen. Die Botschaft ist: Solche Überfälle lohnen sich nicht.
Ganz so einfach ist die Sache allerdings nicht. Auf den ersten Blick scheint klar, wer einen Schaden verursacht, muss dafür aufkommen. Das gilt auch noch nach einem zweiten Blick. Allerdings sind einige negative Effekte zu beachten, die auftreten können. Ein erstes Problem entsteht, weil Russland mit Vergeltungsmaßnahmen reagieren kann. Es kann ausländisches Vermögen enteignen. Damit würde es sich allerdings auch selbst schaden. Ausländische Investoren würden für lange Zeit einen Bogen um Russland machen. Langfristige Wohlfahrtsverluste wären unvermeidlich. Mit einem zweiten Problem könnte auch Deutschland direkt konfrontiert werden. Wenn staatliches russisches Vermögen konfisziert und für Reparationszahlungen an die Ukraine verwandt würde, könnte die Diskussion um die Reparationsforderungen gegenüber Deutschland wieder intensiver werden. Vor allem Polen und Griechenland fordern seit langem weitere finanzielle Entschädigungen von Deutschland wegen Kriegsschäden aus dem 2. Weltkrieg. Die Verstaatlichung deutschen Vermögens in diesen Staaten wäre dann nicht mehr undenkbar. Kein Wunder, dass sich Berlin in der Diskussion aus der Verwertung der 316 Mrd. Dollar schweren russischen Reserven zurückhält. Diese Probleme und andere rechtliche mehr haben dazu geführt, dass weniger über die Verwertung der 316 Mrd. Dollar als vielmehr über die Umwidmung der Erträge aus der Anlage dieser Summe diskutiert wird.
Die Chancen, dass die Ukraine über den eingefrorenen russischen „Vorschuss“ von 316 Mrd. Dollar für Reparationen (bald) verfügen kann, sind eher gering. Es führt kein Weg an einem Marshall-Plan für die Ukraine vorbei. Der Wiederaufbau erfordert immense Investitionen. Die lassen sich nicht allein mit staatlichen Mitteln und privaten Spenden finanzieren, ganz abgesehen vom Gefeilsche staatlicher Geber. Ohne private Investitionen läuft wenig. Private Geldgeber investieren allerdings in der Ukraine nur, wenn sie erwarten können, dass die Investitionen rentabel sind. Das macht nicht nur staatliche Garantien notwendig. Auch die wirtschaftliche Unsicherheit muss sinken. Das erfordert einerseits effizientere Institutionen in der Ukraine. Das Center for Social and Economic Research (Case) hat einmal aufgeschrieben (hier), was notwendig wäre: Weniger Korruption, eine höhere Regierungs- und Regulierungseffizienz und mehr Rechtssicherheit. Aber auch mehr militärische Sicherheit würde andererseits zu mehr wirtschaftlicher Sicherheit beitragen. Ein baldiges Ende des Krieges, eine militärisch starke Ukraine und westliche Sicherheitsgarantien würden helfen. Beim ersten könnte die Aussicht auf eine absehbare EU-Mitgliedschaft helfen. Beim zweiten die Aufnahme in die NATO nach Ende des Krieges. Beides ist nicht unumstritten. Die Heterogenität der EU würde weiter ansteigen und mit ihm der Streit um finanzielle inter-regionale Transfers. Eine NATO-Mitgliedschaft ist kein Allheilmittel gegen ein aggressives Russland. Es droht Art. 5 des NATO-Vertrages. Viel sinnvoller wäre es, der Ukraine alles das an Kriegsmaterial zu geben, was es braucht, um die russischen Aggressoren aus dem Land zu schmeißen.
Fazit
Westliche Hilfe für die Ukraine ist nach dem russischen Überfall nicht nur moralische Pflicht. Den russischen Imperialismus zu stoppen, ist auch im (Sicherheits-)Interesse der EU. Es gilt, alles zu tun, die Ukraine zu stärken und Russland zu schwächen. Die militärische Hilfe war nach dem russischen Einmarsch prioritär und sie ist es (leider) noch immer. Ein baldiges Ende des Krieges ist nicht absehbar. Effiziente militärische Hilfe verringert den Bedarf an Finanzhilfen. Ist sie erfolgreich, verkürzt sie die Dauer des Krieges, stabilisiert die wirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine und macht weniger ausländische Finanzhilfen notwendig. Sie ist auch Hilfe zur Selbsthilfe. Nicht immer liefert der Westen allerdings das, was er verspricht. Die Sanktionen schwächen Russland bisher weniger als erhofft. Im günstigsten Fall wirken sie wie schleichendes Gift. Tatsächlich gibt es viele politisch gewollte Schlupflöcher und flexible Umgehungsmärkte. Die Sanktionen sind löchrig, weil die G7 und die EU nicht bereit sind, den Preis für effiziente Sanktionen zu zahlen. Man kann nicht „s’Weckle und s’Zehnerle“ haben, „there is no free lunch“. Es ist unstrittig, Russland muss für die verheerende Zerstörung zahlen, die es in der Ukraine anrichtet. Es ist wohl einmalig in der Geschichte, dass Russland mit den eingefrorenen 316 Mrd. Dollar Devisenreserven der russischen Notenbank ungewollt einen „Vorschuss“ auf geschuldete Reparationen „geleistet“ hat. Es hat keinen Anspruch auf diese Mittel, solange die Opfer nicht entschädigt sind: „Bank robbers should not expect banks to honor their safe deposit boxes.“ (Lawrence H. Summers u.a.). Damit die Ukraine nach dem Krieg wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt, ist ein „Marshall-Plan“ notwendig. Dabei geht es nicht nur um ausländisches Kapital, mindestens so wichtig sind effizientere ukrainische Institutionen. Am Ende hängt aber alles vom militärischen Erfolg der Ukraine ab. Die militärische Hilfe des Westens ist weiter prioritär, leider vielleicht länger als erhofft. Er darf keine Unentschlossenheit zeigen. Aus Zögern darf keine Müdigkeit werden (Konrad Schuller). Das würde Putin ermutigen, den (Zermürbungs-)Krieg zu verlängern. Er hätte gewonnen, die Ukraine und der Westen verloren.
Blog-Beiträge zum Thema:
Tim Krieger (2023): Ukraine: Braucht das Land einen „neuen Marshallplan“?
Norbert Berthold (2023): Ukraine, Sanktionen und Resilienz. Das Wichtigste zuerst
Podcasts zum Thema:
Energie-Sanktionen: Schlechter als ihr Ruf?
Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU) im Gespräch mit Prof. Dr. Marcel Thum (TU Dresden und Ifo Dresden)
[1] Das Institut für Weltwirtschaft liefert mit seinem „Ukraine Support Tracker“ einen ausgezeichneten Datensatz über die Hilfszusagen – militärisch, finanziell und humanitär – an die Ukraine, den es immer wieder aktualisiert. Er umfasst auch die Ausgaben der Aufnahmeländer für Geflüchtete aus der Ukraine.
- Pakt für Industrie
Korporatismus oder Angebotspolitik? - 27. Oktober 2024 - De-Industrialisierung nimmt Fahrt auf
Geschäftsmodelle, De-Globalisierung und ruinöse Politik - 12. September 2024 - Ordnungspolitischer Unfug (13)
So was kommt von sowas
Unternehmer, Lobbyisten und Subventionen - 17. August 2024
Robin Brooks: „Greek shipping oligarchs are pulling back from shipping Russian oil. That’s not about Urals going above the $60 G7 cap and it’s not about them growing a conscience. They sold their oldest ships to Putin for his shadow fleet. Greek oligarchs have been cashing out.“
https://twitter.com/RobinBrooksIIF/status/1684653707441418240
Robin Brooks: „Western oil tankers are 41% of capacity out of Russia’s Baltic ports. There’s no other fleet of tankers that can replace these ships, so we have huge leverage on Putin. We just have to be willing to ignore lobbying by Greek oligarchs, but – apparently – we’re unable to do that…“
https://twitter.com/RobinBrooksIIF/status/1684898258886242305
Robin Brooks: Russia’s shadow fleet
1. Right after Russia invaded Ukraine, Greek shipping oligarchs used their oil tankers (blue) to help Putin. As the war progressed, they changed strategy, selling their ships to Russia. Putin can’t build his shadow fleet without help from these oligarchs…
2. These sales of Greek-owned ships to the shadow fleet are likely one reason the share of Greek oil tankers has fallen steadily from its peak in April 2022. There’s more money in selling ships to Putin than shipping his oil, especially with all the paperwork around the G7 cap…
3. We use a web crawler to find true owners of oil tankers. Increasingly, our web crawler hits a dead end. Example: IMO 9285859. Used to be called „Wonder Bellatrix“ with a Cypriot beneficial owner. Since June 2023 sailing under name „Eastern Pearl“ with unclear beneficial owner.
4. Another example: IMO 9299721. Used to be called „Oberon.“ Beneficial owner was LL Energy SA out of Piraeus, Greece. Since September 2022 sailing under the name „Cepheus“ with unclear beneficial owner.
5. Another example: IMO 9290309. Used to be called „Seagrace“ and the beneficial owner was Thenamaris Ships Management out of Vouliagmeni, Greece. Since September 2022 this oil tanker goes by the name of „Thea“ with a beneficial owner that is unknown.
6. When our web crawler hits a dead end, that isn’t definitive evidence that a ship is in the shadow fleet. But it’s highly suggestive, as it means effort is being made to conceal the true owner. The examples listed here are just the tip of the iceberg. There’s many, many more…
7. The EU and G7 should immediately ban the sale of western-owned oil tankers, unless the new beneficial owner is disclosed and is a western owner. Failure to do so quickly allows Putin to build his shadow fleet unchecked and undermines the G7 oil price cap going forward…
8. The Wests big advantage over Putin is that it controls the bulk of oil tanker capacity taking Russian oil to the global market. Greek shipping oligarchs selling their ships to undisclosed owners threatens this advantage and enforcement of the G7 oil price cap going forward…
9. This follows opposition by Greek oligarchs to the G7 oil price cap for all of 2022, on the grounds that the cap would cause retaliatory production cuts by Russia (never happened) and lobbying for a high cap of $60, which the EU followed. The EU needs to stop this kowtowing…
https://twitter.com/RobinBrooksIIF/status/1685273749564604416
Zudem sehr interessant in diesem Kontext:
„Sanktionen gegen Russland: Trickst Putin den Westen aus?“ (Quelle: br24.de)
https://www.br.de/nachrichten/wirtschaft/sanktionen-gegen-russland-trickst-putin-den-westen-aus,U38QqRe